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Mondnacht
Sie sitzt ganz hinten. Allein. Ungerade Anzahl Schüler, einer muss alleine sitzen, sagt die Klassenlehrerin. Neben der Fetten hat niemand Platz, sagen die anderen.
Letzte Stunde. Deutsch. Hausaufgabe war Eichendorffs Mondnacht – auswendig. Sie kann es. Es war, als hätt' der Himmel. Aber sie wird sich nicht nach vorne stellen, es aufzusagen. Nicht vor der ganzen Klasse, dem zwanzigköpfigen Monster mit den kalten Augen.
Doch jetzt gibt Herr Remper – Sven – erst einmal die Klassenarbeiten zurück. Geht durch die Reihen, nennt die Namen. Ihren. „Silvia Luft.“ Ein aufgeschlagenes Heft wird vor ihr auf das Pult gelegt. Eine schöne, schmale Männerhand hält es mit gespreizten Fingern fest. Der Zeigefinger ruht auf der umringelten Eins. Am Knöchel ein verblasster Farbklecks. Herr Remper – Sven – gibt auch Kunst. „Sehr schön gemacht, Silvia“, sagt eine dunkle Stimme direkt über ihr.
Sie sieht hoch in grau-grüne, freundliche Augen. Eine sanfte, schwere Hand streicht sacht über ihre Schulter. Die Erde still geküsst. Ihr wird warm und ihr Herz wird ganz weit, als pochte es nun neben ihrem Körper.
Sie wird die Erinnerung daran behutsam mit nach Hause nehmen, tief in sich verschlossen. Und dann langsam entblättern, wenn sie im Bett liegt, sich von der Bettdecke umarmen lässt und an die Stellen fasst, die so wohlig jucken. Sie wird sich ihre Hände als seine denken. Das geblümte Kopfkissen küssen. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.
Sie sieht zu, wie er spricht, fragt, zuhört, die Stirn runzelt, verschmitzt lächelt. Folgt mit den Augen dem geschmeidigen Gang. Beobachtet das Muskelspiel unter dem Hemd, wenn er den Arm reckt, um an die Tafel zu schreiben. Es war. Einmal. Einmal nur erleben, wovon die anderen Mädchen tuscheln, nach der Sportstunde, beim Duschen. Während sie sich die Brüste einseifen. Sich vor dem Spiegel wollüstig räkeln. Dann werden Körbchengrößen verglichen und Jungennamen gewispert. Aber keine flüstert „Sven“. Und sie traut sich nicht. Nicht einmal zu duschen. Das Sportzeug zieht sie in der dunkelsten Ecke der Umkleidekabine aus. Hastig. Und zwängt sich die Kleidung über den verschwitzten, dicken Körper, den sie den anderen nicht preisgeben will.
Er fragt, wer aufsagen möchte. Schaut zu ihr hin.
Sie weicht dem Blick aus.
Simon meldet sich. Von vorne ein erstauntes „Simon?“
Herr Remper – Sven – freut sich. Macht lächelnd vor der Tafel Platz.
Simon spult die ersten Zeilen fast hektisch herunter. Als hätte er Angst, unterbrochen zu werden. Dann die zweite Strophe.
„Die Luft ging durch die Felder –“
Kunstpause. Silvia will soufflieren. Sie sieht zu Simon hinüber, bewegt die Lippen. Die Ähren wogten sacht.
Er schaut sie an, verzieht den Mund, quetscht dann heraus: „– und walzte alles platt.“ Lässt die Arme vom Körper abstehen und imitiert ihren rollenden Gang.
Gellendes Gelächter. Neunzehn Köpfe drehen sich zu ihr hin. Mit aufgerissenen Mäulern. Speichel sprüht.
Sie wagt einen Blick auf den Lehrer. Lacht er auch?
Sein Gesicht ist gerötet, er brüllt gegen den Lärm an: "Ruhe!"
Ihr Blick verschwimmt, sie lässt ihn vor sich auf den Tisch fallen. Auf ihre zitternden Hände. Drückt den Daumennagel unter den Nagel des Mittelfingers, bis der Schmerz die Augen trocknet. Nicht heulen. Nicht heulen. Bloß nicht heulen.
„Simon, du entschuldigst dich sofort bei Silvia!“
Sie hört keine Antwort, sieht nicht auf.
„Dann verlässt du jetzt besser das Klassenzimmer.“
Das anerkennende Gejohle der Klasse begleitet den Verwiesenen zur Tür. Letzte Stunde. Der braucht nicht wiederzukommen. Gelungene Aktion.
Der Lehrer bleibt vor der Tafel zurück. Sein bedauernder Blick in ihre Richtung tut ihr gut. Er ist dem Monster unterlegen, das ihn nun mit feindseligem Schweigen straft, aber er hat den Kampf versucht. Ihretwegen.
Trotzdem fühlt sie sich elend. Sie hebt die Hand.
„Ja, Silvia?“
„Ich müsste bitte mal raus.“ Die Stimme so brüchig. Die Worte müssen erst über die Scherben, in die ihr Ich zersprungen ist.
„In Ordnung. Geh ruhig.“ Er klingt fast erleichtert. Jetzt wird er sagen können, was in ihrer Anwesenheit nicht gut gesagt werden kann.
Der Flur ist leer. Kein Simon. Gott sei Dank. Ach, wäre ein Gott. Auf der Mädchentoilette schlüpft sie sofort in eine Kabine, klappt den Deckel herunter, setzt sich darauf. Presst das Gesicht so in die Armbeuge, dass kein Schluchzen nach außen dringen kann. Und lässt die Tränen fließen, bis der Ärmel ihres Sweatshirts durchweicht ist.
Sie zieht, um den Schein zu wahren, die Spülung. Es rauschten leis'. Die Wälder. Jetzt im Wald sein. Würziger Duft. Weicher Boden, in den der Körper einsinkt. Sein Arm unter ihrem Kopf. Seine Hand auf ihrer Brust. Sie läge ganz flach, ihr Fleisch, das ach so viele Fleisch, es wäre zwischen dem Farn und dem Moos kaum zu erkennen. Und seine Hand würde tiefer wandern. Die Beine spreizen. Das wohlige Jucken. Die Keramik kühl gegen die nun nackten Schenkel.
Der erste Ton des Schulgongs reißt sie aus ihren Träumen. So sternklar war die Nacht. Sie wischt sich die klebrige Hand am Bauch ab, zieht die Jeans hoch. Lugt durch die Tür, aber noch ist der Vorraum verwaist. Nur nicht in den Hauptflur, nicht ins Foyer, nach oben über die Nebentreppe zum Kunstraum stattdessen. Schüler strömen ihr entgegen, rempeln sie an oder weichen ihr aus. Ihre Mitschüler sind nicht dabei. Sie atmet schwer, als sie im vierten Stock inmitten der Staffeleien steht. Das Fenster weit offen. Der Raum riecht trotzdem nach Farbe, feuchtem Papier. Ein Bild an der Wand ist von ihm. Zärtlich zieht sie mit dem Finger seine Signatur nach. Und meine Seele spannte.
Da geht die Tür.
Herrn Rempers – Svens – Stimme. „Silvia?“ Eilige Schritte auf sie zu. „Was treibst du denn hier oben? Ist wieder alles in Ordnung?“
Sie schluchzt statt zu antworten. Sieht bloß noch Farbkleckse, das Rot seines Pullunders kommt näher, bis das Zopfmuster direkt vor ihren Augen verschwimmt. Sie spürt die Wolle an ihrer Wange, als zwei kräftige Arme sie plötzlich umfassen. „Na na. So böse haben sie es doch gar nicht gemeint.“
Sein Kinn liegt für einen Moment auf ihrem Scheitel. Dann lässt er sie ebenso abrupt wieder los.
Denn sie hat nach oben gefasst, sein Gesicht berührt, die Wangen mit dem Nachmittagsschatten, der unter ihren Fingern prickelt. Will den Mund küssen, aber erreicht nur das Kinn.
Sein Ausdruck verzerrt sich. Er tritt ein paar Schritte zurück. Schüttelt den Kopf. Mitleidig. Ablehnend.
Mit einem Schrei fährt sie herum, wischt die Gläser, in denen die Pinsel zum Auswaschen stehen, vom länglichen Tisch. Wieder Scherben. Alles zerbrochen. Alles zerstört.
„Silvia! Was tust du?“ Er steht vor der Tür. Versperrt den Ausgang. Hebt die Hände. Weit ihre Flügel. Das Fenster. Natürlich. Weit ihre Flügel.
„Silvia! Komm sofort da runter!“ Schritte. Glassplitter knirschen.
Aus.
Aus? Flog durch die stillen Lande, als flöge sie? Nein. Ein Griff packt, hält fest und zerrt nach unten. Zurück in die schmutzige Pfütze, in die Scherben. Ein Griff, der die Berührung scheut und doch nicht loszulassen wagt. Eine Stimme, halb streng, halb hilflos verlegen. "Komm, Silvia, lass den Blödsinn!“ Und zögernd, mehr zu sich selbst als zu ihr: „Ich bring dich jetzt wohl besser nach Hause." Nach Haus.