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Momente
Das kurze Hupen reißt Tom aus seinen Gedanken. Er hat die offen stehende Fahrertür vergessen, während er die beiden Tragetüten hinter den Vordersitzen des Transporters verstaut hat.
Seine Gedanken sind bei Anne. Er sucht nach Worten und Erklärungen, die es ihr erleichtern sollen. Sie ist so zart, so empfindsam, so ahnungslos. Sie wird zusammenbrechen.
Anne wartet auf der langen roten Lederbank an der Wand. Hin und wieder bläht sich der braune Vorhang, der an einer halbrunden Stange hängt, und jemand tritt ein. Sie hat den Platz gegenüber der Tür gewählt, damit er sie gleich sehen kann.
Das Café ist nicht sehr voll. Am übernächsten Tisch sitzen zwei Mädchen. Sie sprechen leise miteinander, so als teilten sie sich etwas mit, was niemand hören soll. Die Kellnerin ist mit dem Rechner beschäftigt. Die Musik klingt verhalten, undeutlich, wie aus einem anderen Raum.
Anne schiebt die leere Tasse zur Seite. Sie schaut auf die Uhr. Zwanzig Minuten. Sie überlegt einen Moment, nimmt dann ihr Handy, wählt seine Nummer, horcht und steckt es wieder zurück. Sie will keine Mitteilung auf die Mailbox sprechen. Das Warten verstärkt ihre innere Unruhe. Was ist so wichtig, dass sie es jetzt besprechen müssen? Warum treffen sie sich nicht am Abend? Was ist überhaupt in letzter Zeit los? Sie haben sich seit drei Tagen nicht mehr gesehen.
Noch bevor der Vorhang sich teilt, spürt Anne den leichten Windzug. Tom bleibt kurz stehen, sieht sie, lächelt grüßend und kommt zum Tisch. Auch die beiden Mädchen werden aufmerksam, schauen ihn an.
Er sieht wirklich gut aus, denkt Anne. Und er versteht es, sich zu kleiden. Ihm stehen die schmalen Hosen, das eng geschnittene Jackett, das schwarze T-Shirt. Am Anfang ihrer Beziehung hat es sie erstaunt, wie sicher er seine Kleidung aussucht. Er hat ein Gespür für Qualität, Stil und Farben.
Tom setzt sich nicht, steht neben dem Tisch.
„Tut mir leid. War einfach nicht früher zu schaffen.“
Sie denkt, dass seine Haltung etwas Klassisches hat, wie bei antiken Statuen: Während das rechte Bein leicht angewinkelt ist, ruht sein Gewicht auf dem anderen. So steht er oft, auch, wenn er nackt ist. Seine unverstellte, fast naive Selbstverliebtheit amüsiert und verwirrt sie gleichzeitig.
Ihr fällt auf, dass er nicht in den Spiegel über der Bank schaut, ihn gar nicht zu sehen scheint.
Er blickt auf die leere Tasse. „Möchtest du noch etwas trinken?“
„Ja, gerne. Ich nehme eine Limo.“
Tom geht zur Kellnerin, die ihn nicht bemerkt hat, bestellt, kommt zurück und setzt sich ihr gegenüber.
Sein Blick wandert durch das Café.
„Ist alles in Ordnung?", fragt Anne.
Tom nickt, schaut zum Tresen, wo die Kellnerin mit ihren Getränken beschäftigt ist.
Was ist los mit ihm?
Ihre Augen versuchen, seinen Blick zu treffen. Er schaut immer noch zur Theke, von der jetzt die Kellnerin mit dem Tablett kommt.
Tom trinkt einen Schluck, sein Handy signalisiert eine SMS. Er reagiert nicht.
„Sag schon, was ist? Warum treffen wir uns jetzt und nicht heute Abend?“, fragt sie.
Er blickt auf das große Glas mit der Limo, dem Eis und der Zitronenmelisse.
„Brauchst du einen Strohhalm?“ Den hat die Kellnerin vergessen.
„Nein, danke. Das geht schon. Sag doch, was ist los?“
Er spielt mit seinem schmalen, geflochtenen Armband. Er liebt es, sie findet es überflüssig, irgendwie störend.
Anne ist, als forme er den Satz, bevor er ihn ausspricht.
„Es ist wegen Mark.“
Sie entspannt sich. Mark. Tom spielt hin und wieder mit ihm Squash. Das weiß sie. Meist, wenn er lange an einer Übersetzung gesessen hat und Abwechslung sucht.
„Was ist mit Mark?“
„Mark geht nach Hamburg.“
„Nach Hamburg. Wann? Warum?“
Er blickt auf die Cola, dreht das Armband einmal ums Gelenk. „Er hat einen Job gefunden.“ Tom sieht zu den Mädchen, erinnert sich an Annes Frage, schaut ihr ins Gesicht: „Schon morgen.“
„Ja? Hat es endlich geklappt?“
„Ja. … Ja. Jetzt hat es geklappt.“
Anne sieht Tom fragend an. „Ja und?“
Tom hebt seinen Kopf, sieht ihr in die Augen: „Anne, glaub mir, es fällt mir nicht leicht.“
Ihre Nervosität kommt zurück. Sie spürt seine Anspannung.
„Was ist nicht leicht für dich?“, wiederholt sie.
Er räuspert sich, nimmt einen Schluck Cola, stellt das Glas ab, betrachtet die Reste der Eiswürfel an der Oberfläche. Es muss sein.
Er holt Atem: „Ich werde mit ihm gehen.“
„Mit ihm gehen? Wie meinst du das?“ Sie sucht in seinem Gesicht nach einer Erklärung. „Du willst auch nach Hamburg? Wieso? Er ist Graphiker, du Übersetzer? Was wollt ihr dort machen?“
Er löst seinen Blick von der Cola, hebt seinen Kopf, schaut sie fest an.
„Glaub mir, es ist für mich nicht leicht. … Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Es tut mir leid. Immer wieder hab ich versucht, etwas zu sagen.“ Er macht eine Pause. „Es geht nicht anders“, bricht es aus ihm hervor. „Ich kann nicht anders. … Es tut mir leid.“
Sie sieht ihn bestürzt an. „Du kannst nicht anders?“
„Es tut mir so leid.“ Zum dritten Mal, denkt sie.
„Ich habe mich verliebt.“
„Verliebt? Du hast dich verliebt? In wen?“
„In Mark.“
Anne ist, als dehne sich die Zeit wie in einem Film, den man zu langsam laufen lässt. Sie fühlt sich als Zuschauer, kann nichts mehr denken, kann ihren Blick nicht von seinem Gesicht nehmen, sucht in seiner Miene nach dem Missverständnis.
Ihre Stimme ist jetzt leise, sehr rau, fragend und zweifelnd gleichzeitig: „Du hast dich in Mark verliebt?“
Er schaut sie an, neigt langsam den Kopf.
Es scheint still zu werden im Lokal. Anne sieht Tom, sieht den winzigen Fleck an seinem Kragen, sieht die Kellnerin am Tisch neben ihnen, sieht den Haken mit den Tageszeitungen, sieht den Vorhang, der sich nicht bauscht, sieht seine Hand, die immer noch mit dem Armband spielt, denkt an die letzten Wochen, denkt daran, dass es immer spät wurde, dass er immer müde war.
Sie schaut auf das Glas, in dem die grünen Blättchen schwimmen. Situationen der letzten Monate drängen sich in ihre Gedanken, lösen Entrüstung, Zorn und Schmerz aus, schnüren ihr die Kehle zu, machen sie unfähig zu sprechen.
Die Tränen kommen. Mit dem Handrücken versucht sie, die ersten abzuwischen, es kommen mehr, sie rinnen in kleinen, dünnen Rinnsalen über ihre Wangen, über ihre Nase, tropfen runter. Sie greift nach der grünen Serviette, die unter dem Limoglas liegt, trocknet ihr Gesicht, so gut es geht.
Toms Miene wird weich von Mitgefühl. Er will ihr etwas Tröstendes sagen, dass es nicht an ihr liege, dass er sie auch liebe, nur eben anders. Er setzt an, verwirft das, was er sagen will, schweigt, sieht sie nur an.
Immer wieder hat er dieses Gespräch aufgeschoben. So, wie er immer wieder versucht hat, seine Gefühle wegzuschieben. Sie ist die schönste Frau, mit der er jemals zusammen gewesen ist. Nichts stört ihn an ihr, alles ist perfekt: ihr überschlanker, samtiger Körper, ihre langen Beine, der kleine Busen, ihr anmutiger Hals, das fein geschnittene Gesicht, die dunklen Augen, das kurze braune Haar. Sie ist reine Ästhetik. Er liebt ihre Schönheit. Aber er begehrt sie nicht. Endgültig ist es ihm klar geworden, als er Mark getroffen hat.
Die Serviette ist nass und fasert aus. Sie hat wieder kein Taschentuch, denkt Tom und schiebt ihr eins hin. Sie ratscht es weg. Es fällt neben den Tisch.
„Bitte geh. Lass mich allein. Geh!“
Er weiß nicht, was er machen soll, wartet, sieht auf ihren gesenkten Kopf.
„Anne. Bitte!“
Er streckt seine Hand aus, um sie zu berühren, ihren Arm zu streicheln. Sie zieht ihn mit einer heftigen Bewegung zurück.
„Geh endlich! Geh!“
Die beiden Mädchen weiter rechts sehen irritiert zu ihnen herüber.
Unschlüssig steht er auf, zögert, legt unbeholfen Geld auf den Tisch und geht.
Eines der Mädchen tritt an Annes Tisch, setzt sich neben sie auf die rote Bank, legt den Arm um sie und gibt ihr ein Taschentuch. Anne lässt ihren Tränen freien Lauf, schluchzt laut und hemmungslos. Das Mädchen streichelt ihren Rücken.
Mark wartet an der U-Bahn-Station. Er hat den Umzugswagen vor seiner Wohnung zurückgelassen. Sie sehen sich an, gehen schweigend die Treppe hinab.
Die Bahn kommt, sie finden im stark besetzten Abteil zwei gegenüberliegende Plätze. Marks Miene ist ernst und abwartend.
Tom blickt auf den matt glänzenden grauen Boden, sieht die Papierschnitzel unter der Bank gegenüber, hört das ab- und anschwellende Surren der Bahn. Seine Gedanken wiederholen das Gespräch mit Anne, wiederholen das Gesagte, kommen nicht los von der Situation, in der er Anne zurückgelassen hat. Formulierungen, nach denen er gesucht hat, fallen ihm ein. Morgen wird er eine E-Mail schreiben und ihr noch einmal alles erklären. Sie ist klug und empfindsam. Mit der Zeit wird sie verstehen, warum er sie und sich nicht länger belügen will.
Er hebt den Kopf, Mark lächelt aufmunternd.
Es braucht Zeit, bis die Anspannung von Tom abfällt und er das Lächeln erwidert.