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Moepi in da House!
Wolfgang Kasulke schlug das Lehrbuch zu, strich über das Autorenfoto auf der Rückseite des Einbands und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie sehr er sie vermisste! Sie hatten sich auf dem Gymnasium kennengelernt. Susanne, die Referendarin aus dem Sauerland, für die er in ihrer Anfangszeit so etwas wie ein Pate war. Bei der Arbeit für die Theater-AG kamen sie sich schließlich näher. Keine zwei Jahre später zog sie bei ihm ein, in das große Gründerzeithaus, das er kurz zuvor geerbt hatte.
Er schaute nach hinten. Bis tief in die Nacht hatten sie dort auf dem weichen Fell vor dem Kamin gelegen. Schwafelten über Gott und die Welt, führten wortreiche Auseinandersetzungen über naturwissenschaftliche Themen, später über ihre Dissertation.
Kasulke blies die Kerze aus, die er für sie angezündet hatte, und stand auf. In seinen Cordpantoffeln schlurfte er über den Flur, zog dabei den Gürtel seines Morgenmantels enger. Die Heizung war ausgefallen, und er hatte wegen der Ratten und anderem Ungeziefer seit langem keinen Schritt mehr in den Heizungskeller getan. Sein mutierter Salamander, den er aus dem Tierheim geholt hatte, war ihm bei den kleinen Schädlingen eine große Hilfe. Doch gegen die Nager war auch er machtlos.
Auf der linken Seite des Flurs lag ihr gemeinsames Schlafzimmer, gegenüber die Zimmer der Töchter. Die jüngere, Finja, in Australien, die ältere, Luisa, zwar in Hamburg und in der Nähe, doch trotzdem genau so weit entfernt. Anrufe zu den Feiertagen, zu seinem Geburtstag. Wie geht es dir? Ich komme dich bald besuchen.
Seit der Beerdigung vor einem halben Jahr hatte er sie nur ein paar Mal gesehen. Junge Frauen, neues Umfeld, eigene Interessen. Er konnte verstehen, dass sie keine Lust auf ihren alten mürrischen Vater hatten. Vielleicht war es besser so. Was würden sie sagen, wenn sie das Haus in seinem jetzigen Zustand zu Gesicht bekämen?
Ihre Räume waren die einzigen, die unangetastet blieben, für den Fall, dass sie ihn mal besuchten. Andere Zimmer hatte er ausgeräumt, renoviert und neu eingerichtet, als er die Idee seines Nachbarn aufgegriffen hatte. Als dieser in seiner alten leeren Villa so langsam dahinzuvegetieren drohte, gründete er eine WG. Das Leben war wieder da, das Lachen, die Gemeinschaft. Ganz nebenbei hielten die Mieter sein Anwesen in Schuss.
Er betrat das Arbeitszimmer, nahm den Ordner aus dem Regal und setzte sich an den Schreibtisch. Hier drin hatte er die ausgeschnitten Inserate gesammelt. Manchmal hatte er die ganze Seite aus der Zeitung herausgerissen und dazwischen gesteckt. Sollte er einen neuen Versuch starten?
Auf dem Blatt, das er vorne abgeheftet hatte, waren die Interessenten vermerkt. Er überflog die Namen, konnte sich an jeden Einzelnen erinnern. Junge Studenten, ein von seiner Frau getrenntlebender Maurermeister, eine ältere Rentnerin. Ebenso gut hatte er noch ihre Absagen im Ohr. Ein schönes Anwesen. Ich melde mich später. – Nö, das ist mir dann doch zu viel. – Ich soll Ihnen noch Geld zahlen? – Such dir doch’n Hausmeister, du Messie! – Ich an ihrer Stelle würde die Bruchbude verscherbeln!
Er konnte sich selbst nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Vor allem, wie das Anwesen in so kurzer Zeit verfallen konnte. Als hätte es sich – wie er – selbst aufgegeben.
Sollte er die geforderte Miete senken, nicht mehr auf handwerkliches Geschick pochen? Er seufzte, nahm den Ordner und stellte ihn zurück, als plötzlich eine Zeitungsseite herausfiel und mit der Rückseite nach oben auf den Schreibtisch segelte.
Er stutzte und las. Ein bedrückendes Ereignis, von dem der Artikel berichtete. Die Sammelunterkünfte der anderen Individuen. Wie ergeht es ihnen heute? Wo lebten sie? Fragen, die ihn schon länger beschäftigten.
Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her, schaltete dann seinen Computer an und googelte.
Kasulke legte den Brief zur Seite. Die Leiterin der Aufbewahrungsstelle lobte sie in höchsten Tönen. Die junge Frau wäre bereit für die Resozialisierung, hätte ein großes Herz, verfügte über großes Allgemeinwissen und wäre Expertin über die lateinamerikanischen Bürgerkriege. Das psychologische Gutachten wirkte – obwohl er nicht alle Fachbegriffe verstand – einwandfrei auf ihn; für das, was sie mitgemacht hatte, echt erstaunlich. Er hatte auch schon eine Idee, wie sie sich für die Hausgemeinschaft und die Gesellschaft draußen nützlich machen könnte.
Er schaute auf die Uhr und verzog das Gesicht. Sie hätte sich melden können, dachte er. Er war müde, und wenn er das Kapitel durchgelesen hatte, würde er zu Bett gehen.
Die Türklingel riss ihn aus den Gedanken. Mit einer fahrigen Geste drückte er die Zigarette im Ascher aus, legte die Lesebrille auf das dickleibige Buch, das die lateinamerikanischen Bürgerkriege behandelte und stand auf. Er zog den Gürtel des Morgenmantels enger, ging zur Tür und blickte sich dabei prüfend um.
Von den Decken sickerte braune Schmiere in Blecheimern, das Licht war schummrig, der Abwasch nicht gemacht. Den Teppich hatte er mit einem speziellen Aufsatz abgesaugt, – der letzte Bewerber litt unter einer schlimmen Stauballergie und hatte sich auf dem Erbstück seiner Tante übergeben. Mehrere Stunden hatte Kasulke schrubben müssen, um die grünen und blauen und gelben Flecken aus dem edlen Knüpfwerk herauszubekommen.
Kurz überlegte er, drückte dann den Knopf für die Haustür im Erdgeschoss.
Hastig trat er auf den Treppenabsatz, reckte den Hals und lauschte. Als die Tür aufging, rief er: „Erste Etage, bitte!“
Unten lärmte es. Kaum hatte er noch „Vorsicht! Das Licht geht nicht!“ hinzugefügt, stieß irgendetwas gegen die Wand. Er hörte ein Fluchen, ein andauerndes Stöhnen und ein rhythmisches Klack-Klack, als würde ein schwerer, voluminöser Gegenstand über die Holztreppen nach oben gewuchtet.
Tatsächlich stand kurze Zeit später eine etwa 14-jährige, moppelige Göre mit einem altmodischen, rosafarbenen Moped samt Pferdesattel vor ihm und lächelte ihn aus großen Augen an. „Sorry für die Verspätung. Der Sprit war leer.“
Er dachte an das Foto aus den Unterlagen und der entsprechenden Anmerkung und streckte ihr die Hand entgegen. „Fräulein … Moepi?“
„Moepi reicht“, sagte sie und machte weiter Anstalten, das Moped in den Salon zu rollen. Ihre roten Zöpfe kreisten umher, zerschnitten die stickige Luft. Ein säbelähnliches Messer, das in ihrem Gürtel steckte, schrammte gegen den Holzrahmen der Tür und riss die Tapete auf.
Schnell wich Kasulke zur Seite. „Kommen Sie rein!“, rief er ihr hinterher, da hatte sie das Gefährt längst auf den Teppich, mitten im Salon, abgestellt. Das Moped gab ein Gurgeln von sich; aus den dicken Auspuffrohren qualmte es, Öl und eine undefinierbare Flüssigkeit tropften herab.
Er seufzte, und sie nahm ihren Rucksack ab, stellte ihn auf den Boden und kickte gegen das Moped, das daraufhin verstummte. Zufrieden schaute sie sich um, wölbte die Hände um den Mund und rief in die Weiten des Salons: „Hey, Folks! Moepi in da House!“
Kasulke legte den Finger an den Mund, machte „Pssst.“
Es war grauenhaft still, nichts rührte sich. Nur das Uhrpendel an der Rückwand schwang hinter dem Glas hin und her. Das Schwirren von Flügeln eines Insektes war zu hören, und schon setzte sich eine große Fliege auf ihre Schulter.
„Wo ist mein Zimmer?“ Sie zog ihren Ringelpulli ein Stück herunter und die Knickerbocker hoch. Muskulöse, behaarte Waden kamen zum Vorschein. Kasulke lächelte verlegen.
Von irgendwo her erklang ein Gezische, das plötzlich abriss. Dann stand ein lurchartiges Wesen im Ausmaß einer Hauskatze an Kasulkes Bein gelehnt und riss neugierig die roten Augen auf.
Sie schreckte zurück, wedelte mit den Händen und brüllte: „Hau ab, du Monster!“
„Keine Angst, der tut nichts“, sagte er beiläufig. „Das ist Commander Salamander. Er war früher bei der … ach, ist egal.“ Er bückte sich und strich über die bunte, schuppige Haut. „Alles in Ordnung, mein Kleiner.“
Das Tier streckte die Zunge raus, zischelte und sprang mit einem Mal auf Moepi zu, die wie angewurzelt dastand. Im Flug schnappte sich Commander Salamander die Fliege, landete hinter Moepi auf dem Boden und wand sich über das Parkett in Richtung Treppenhaus.
„Öhm, möchten Sie sich nicht setzen, damit wir alles in Ruhe besprechen können, Fräulein …?“
„Moepi reicht.“ Vornübergebeugt schaute sie dem Salamander hinterher und schüttelte sich, bevor sie aus dem Rucksack vier Flaschen mit roter Flüssigkeit herauskramte und sie Kasulke reichte. „Kühlschrank!“
Verdutzt schaute er auf die Etiketten, die abwechselnd mit A, B, AB und 0 beschriftet waren, und stellte die Flaschen vorsichtig auf den Tisch. Er wischte sich die Hände am Morgenmantel ab, nahm Platz und fuhr mit dem Finger über eine Liste, die er sich ausgedruckt hatte. „Hm, hm, da, Moepi! Die, öhm, Heimleitung hat sich für Sie … stark gemacht …“, murmelte er vor sich hin, fragte dann: „Und das, das Geburtsjahr stimmt?“, stotterte er.
Sie hatte die Hände auf die Hüften gestützt und wog den Kopf von links nach rechts.
„Okay. Die zweite Tür. Haben Sie ein Handy? Ich trage Ihre Nummer nach.“
Sie schüttete den restlichen Inhalt des Rucksacks aus. Ein Wäschebeutel fiel auf den Boden. Außerdem eine Sammlung ramponierter Geräte und Apparate: ein Transistorradio, Smartphone, Gameboy, Toaster, Waffeleisen und ein Batterieladegerät sowie jede Menge Kabel, Platinen und anderer elektrischer Bauelemente. „Ist davon etwas ein Handy?“
„Schon gut, schon gut.“ Kasulke winkte ab. „Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“
„Find ich allein.“ Sie stopfte alles zurück in den Rucksack, schulterte ihn und schlenderte auf die zweite Tür zu.
Er klopfte gegen den Tank des Mopeds. „Was ist mit Ihrer Maschine? Sie kann ja nicht mitten im Weg …“
„Nicht anfassen!“, röchelte sie mit rauer Kehle. „Morgen. Ich bin müde, möchte schlafen.“ Mit einem Wumms schlug sie die Tür hinter sich zu, und er rief noch: „Frisches Bettzeug ist im Schrank! Und passen Sie bitte mit dem Messer auf!“
Er stellte die Flaschen in den Kühlschrank. Dann kniete er sich hin, beäugte das Moped, das sich in einem tadellosen Zustand befand. Poliertes Metall, Vollgummireifen, nirgendwo eine Typenbezeichnung. Laut Tacho hatte die Maschine dreihunderttausend Meilen überstanden. Vom Aussehen her schien das Moped aus der viktorianischen Zeit zu stammen. Fräulein Moepi trug nicht die typische Mode aus dieser Zeit, aber was wusste er schon über diese Epoche und über Mode? Er unterrichtete Naturwissenschaften und nicht Geschichte oder eines dieser neuartigen Vampirismus- oder Monsterfächern.
Behutsam strich er über den Sattel, der einen Knauf hatte und tatsächlich speziell angefertigt war, genau so wie das ganze Moped in seinem Miniformat eine Sonderanfertigung für kleine … ja, für Kinder war.
Auf dem Leder entdeckte er eine verunreinigte Stelle. Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Schlafanzuges, befeuchtete es mit Spucke und wischte den Flecken auf. Er roch daran, leckte daran. Blut.
Nachdem er das Taschentuch wieder zurückgesteckt hatte, blickte er kurz auf die Tür des zweiten Zimmers und versuchte, das Moped wegzuschieben. Er biss sich auf die zitternde Lippe, es war zu schwer. Aus der Küche holte er mehrere Putzlappen und legte sie unter den Stellen aus, wo es getropft hatte.
Er schaute auf die Uhr, ging zurück zu seinem Sessel. Bald würde ein neuer Morgen beginnen. Ihm fiel das Radio ein, das in ihrem Zimmer auf dem Nachtschrank stand, und er hatte wieder das Bild vor Augen, wie sie ihren Rucksack ausgekippt hatte und ein Haufen demolierter Elektrogeräte vor seinen Füßen landete.
Leise klopfte er an ihre Tür. „Fräulein Moepi.“ Er wartete und klopfte erneut, hob die Stimme. „Das Radio. Das auf dem Nachttisch. Könnte ich es vielleicht haben? Sie haben ja selbst eins dabei.“
Er legte ein Ohr an die Tür. Moepi schnarchte und er seufzte.
Zurück am Tisch nahm er das Bewerbungsschreiben zur Hand, von dem er sich mehr versprochen hatte. Liebenswert, bereit zur Resozialisierung, wurde behauptet. Sogar ein psychologisches Gutachten lag bei. Er hätte es vielleicht genauer durchlesen müssen.
Angenehmer Gesprächspartner, Fachgebiet lateinamerikanische Bürgerkriege, hieß es. Hoffentlich stimmte dies zumindest. Er hatte sich schließlich teure Fachbücher gekauft, um sich gewisse Grundkenntnisse anzueignen, wenn er mit ihr vor dem Kamin im Lesezimmer … Nein. Unvorstellbar.
Tränen der Wut brannten in seinen Augen. Das Heim zahlte wohl nicht ohne Grund zwanzig Prozent Aufschlag zur Miete, hatte nicht umsonst dem Brief einen Scheck für anderthalb Jahre im Voraus beigelegt. Er presste eine Hand gegen die Stirn. Der Scheck war eingelöst, das Geld steckte in der Ausstattung der Zimmer.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Bewerberliste, blätterte durch die Briefe, Notizen und Mailausdrucke. Was erwartete ihn? War es richtig, die Idee einer Wohngemeinschaft mit handwerklich begabten Mitbewohnern, die das Haus wieder in Schuss gebracht hätten, nicht weiter verfolgt zu haben?
Er zündete sich eine Zigarette an, legte den Kopf leicht schräg. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
War es stattdessen die richtige Entscheidung, eine Monster-WG zu gründen? Noch war es nicht zu spät, hatte er erst eine Bewerberin kommen lassen, die er sicher auch loswerden könnte.
Monster-WG. Unwillkürlich musste er grinsen. Ein Titel, den er sich schützen lassen sollte. Er dachte nach. Auf dem Gymnasium hatte er – seit die Ersten eingegliedert worden waren – nur gute Erfahrungen mit den Individuen gemacht. Nun, Fräulein Moepi war ein wenig anders, aber sie verstellte sich nicht, war sie selbst. Willensstark, frech, selbstbewusst. Eigenschaften, die er sich manchmal auch ein wenig mehr von seinen eigenen Kindern gewünscht hätte. Und sie hatte jahrelang mit den Kreaturen zusammengelebt. Den Monstern und Biestern. Es schien ihr nicht geschadet zu haben – ganz im Gegenteil.
Monster-WG. Langsam konnte er sich mit dem Begriff anfreunden. Ihm und seiner Familie war es immer gut gegangen. Er hatte sein Einkommen, als Beamter viele Vorteile, konnte früher in Pension gehen als die meisten anderen aus der Bevölkerung. Und die Individuen? Wäre es nicht an der Zeit, dass er der Gesellschaft einen guten Dienst erwies?
Was spielte es für eine Rolle, wenn es weiterhin feuchte Wände, Risse im Mauerwerk, tropfende Hähne, undichte Leitungen und Rohre gäbe? Rollladen, die sich nicht hochziehen ließen, Schimmel in den Ecken? Hauptsache, er hatte seinen Rückzugsort. Alles andere würde irgendwie funktionieren, wenn er die Kontrolle behielte. Im Prinzip war es nichts anderes, als eine Schulklasse oder eine ganze Schule zu leiten. Er lächelte – ein vielleicht unpassender Vergleich – und stand schwungvoll auf.
Er schritt durch den Salon, klopfte energisch gegen die Tür.
„Fräulein Moepi!“ rief er.
Keine Reaktion. Er klopfte weiter.
Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit und Moepi schaute ihn aus müden Augen an. Sie trug noch immer die gleiche Kleidung. „Was ist denn los?“
„Entschuldige Sie die Störung. Ich habe noch etwas vergessen.“
„Muss das jetzt sein, Kasulke?“, fragte sie und wollte die Tür schließen.
Er stellte den Fuß dazwischen. „Herr Kasulke! Verstanden?“
Moepi sah erschrocken auf. „Ja, ja …“
„Wir reden jetzt mal über die Hausordnung. Hier die ersten Regeln: Nummer eins: Herr Kasulke! Nummer zwei: Der Teppich ist heilig! Und die dritte Regel: Moped in die Garage!“
„Wie bitte?“, fragte sie verdutzt.
„Ja, Sie haben richtig verstanden. Wir bringen ihre Maschine in die Garage und wischen die Sauerei weg! Dann mach ich uns Kaffee und wir unterhalten uns mal.“
Verwirrt betrachtete sie Kasulke, zog umständlich ihren Pulli ein Stück herunter und richtete sich die Zöpfe.
Er umschloss mit beiden Händen ihren Arm, zog daran. „Na los!“
Moepi befreite sich aus der Umklammerung und schaute ihn verdutzt an.
Kasulke brachte zwei große Tassen Kaffee an den Tisch.
„Schwarz war richtig, Fräulein Moepi?“
„Danke. Und Moepi reicht.“
„Gut.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, nippte am heißen Kaffee. „Wie lange waren Sie im St. Vinzent?“
„Ungefähr drei Monate.“
„Aus welcher … Anstalt sind Sie befreit worden?“
Moepis Augen brannten. Sie umfasste den Pott mit beiden Händen, pustete vorsichtig hinein. „Ein altes Kloster, abgeschieden am Waldesrand, in der Nähe des Rheins.“
Er zögerte, fragte dann: „Und seit wann?“
„Seit ich …, seit ich ...“ Ihre Stimme versagte. Sie schlürfte am Kaffee, versuchte, die Tränen wegzublinzeln.
Kasulke rutschte etwas näher, legte eine Hand auf ihren Unterarm. „Schon gut, Moepi.“
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, überkreuzte die Arme vor der Brust.
„Sie müssen nicht …“
Sie musterte ihn, räusperte sich. „Doch, doch.“
Beide tranken aus ihren Tassen, dann begann sie.
„Plötzlich, mitten in der Nacht, kamen die Vermummten. Wir wussten nicht, wer sie waren. Die Schwestern konnten sich nicht wehren. Es waren zu wenig Aufpasser da, sie wurden alle überrumpelt, gefesselt, in Schach gehalten. Sie holten uns aus unseren Kammern, luden uns mit unserem Hab und Gut auf Pritschenwagen. Ein Teil von uns wurde am St. Vinzent in Gewahr genommen, die anderen Kinder wurden woanders hingebracht.“
„Und wie erging es Ihnen dort?“
„Es war ein Kulturschock. Ich bin damals auf dem Stand der 60er-Jahre des neunzehnten Jahrhunderts stehen geblieben! Und im Kloster hat sich daran nichts geändert.“ Sie machte eine Pause und trank. „Die Heime sind überfüllt, die Regierung war nicht vorbereitet. Nicht alle können die Schule besuchen.“ Sie nickte vor sich hin. „Keine Aufgaben. Keine Funktion. Keine Verwendung. Die Nonnen haben uns unterrichtet, uns mehrere Sprachen beigebracht. Aber wer stellt zwölf- oder vierzehnjährige Monsterkinder als Fremdsprachenkorrespondenten oder Geschichtslehrer ein?“
Kasulke rieb sich den Nacken, sagte kein Wort.
„Einige von uns sind wieder ausgebüxt, leben unter Brücken, auf alten Fabrikgeländen, flohen ins Ausland.“
„Was war mit den Erwachsenen? Die Berichte sind da widersprüchlich.“
„Die Erwachsenen lebten seit Anbeginn unter der normalen Bevölkerung. Im Verborgenen, im Kampf gegen ihre ureigenen Instinkte … Die meisten unentdeckt.“
„Nur die Kinder wurden versteckt, weil sie nicht stillhalten konnten, sich nicht anpassen würden, die Existenz aller verraten hätten?“
Moepi nickte, und Kasulke stand auf. „Noch einen Kaffee?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht so viel. Ich kann sonst nicht schlafen.“
„Ich besorge Ihnen eine Stelle, wo sie sich mit ihren Geschichtskenntnissen nützlich machen können“, rief er aus der Küche, während er sich Kaffee eingoss.
Er kam zurück, stellte die Tasse auf den Tisch und legte die Bewerberliste und die dazugehörigen Unterlagen daneben. „Die Auswahl der potenziellen WG-Bewohner. Wer wäre besser geeignet als Sie?“ Er setzte sich hin, schob ihre Tasse beiseite und die Dokumente in ihre Richtung. „Es wird höchste Zeit, dass neues Leben einzieht!“