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Moderne Tragödie

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15.08.2003
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Moderne Tragödie

Als wir in Urlaub fuhren, ahnten wir noch nichts von uns. Und zu dem Zeitpunkt, als es soweit war, bereuten wir es bereits.

Er war groß und schlank. Groß ist er immer noch. Ich ein Landei, rote Haare, drahtige Figur, einundzwanzig. Zu dem Zeitpunkt Antialkoholikerin, auf der Suche nach was neuem. Zerstreuung, Entspannung. Urlaub.

In der ersten Nacht wachte ich auf. Jemand glaubte wohl, mir ein Schlaflied lallen zu müssen. Er fand es offenbar auch komisch, seinen Mageninhalt unter meinem Fenster zu plazieren. Ich war zuvor stundenlang wach gewesen, hatte endlich Schlaf gefunden und war nun stocksauer. Während wir Beleidigungen austauschten, kletterte er durchs Fenster und plünderte die Minibar.

Sofort riss ich ihm den Wodka aus der Hand und trank ihn selbst, damit er ihn nicht haben konnte. Der spontane Hass schlug eine Schneise zwischen uns, ich verabscheute ihn mit all meinem Willen. Doch unter Gorbatschow weichte er auf, gab nach. Eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann. Nachts um 3 Uhr in einem Hotelbungalow.
Natürlich hatten wir Sex.

Am Morgen waren wir der Nüchternheit nahe. Das Frühstücksbüffet der Minibar bot Kräuterschnaps. Dankbar vergaßen wir die letzte Nacht.

Eine Frau und ein Mann. Völlig besoffen zusammen in einem Zimmer.
Sex.

Unser Zustand änderte sich nicht mehr in den folgenden Tagen. Als ich mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus kam, heiratete er mich schnell. Ich wollte noch nie als einsamer Single sterben.

Wir zogen zu ihm. Dort stank es nach Urin, Halb- und Vollverdautem. Er züchtete Schimmelpilze. Ich genoss die Vorteile der Stadt, das reichhaltige Spirituosenangebot. Saufen mit Stil. Ich war noch nie so glücklich.

Wir verabscheuten uns weiterhin. Die Drogen, die wir deswegen brauchten, wurden immer härter. Nikotin. Aspirin. Kokain. Wir kurbelten die Schwarzwirtschaft an, schufen Arbeitsplätze. Er verbrauchte Tonnen Viagra, um seinen Ekel zu überwinden. Ich entwickelte authentischste Scheinmigränen. Zwecklos.
Schließlich waren wir verheiratet.

Als er sich die Pulsaden aufschlitzte, ließ ich ihn fast ganz ausbluten, bevor ich ihn rettete. So einfach sollte er nicht davon kommen. Zu sehen, wie er im Krankenhaus geschockt wurde, war der Höhepunkt meiner Ehe. Aus reiner Bosheit machte er dann genau dasselbe mit mir.

Natürlich versuchten wir auch, uns gegenseitig umzubringen. Aber wir hingen einfach viel zu sehr aneinander. Dennoch: auch das Gefühl, es fast zu tun, hatte einiges für sich.

Ich fuhr den endgültigen Sieg ein. Als ich das Haus verließ, um Schnaps zu holen, fiel mir ein Klavier auf den Kopf.

 

Hallo Anea,

ich bin, was deine Geschichte angeht, etwas zwiegespalten.

Auf der einen Seite schaffst du es, ohne alles zu ausführlich zu machen, eine komplette Geschichte, die sich gut liest zu erzählen. Was ich faszinierend finde.
Auf der anderen Seite stört mich genau das - sie trifft den Kerl, heiratet ihn und dann erleben sie gemeinsam den "Abstieg". Manchmal hätte ich mir ein bißchen mehr Ausführlichkeit gewünscht .

Ansonsten fand ich deine Geschichte sehr traurig, weil es ja genau das ist, was heute so oft vorkommt. Kaputte Existenzen scheinen sich anzuziehen, weil sie oft jemanden brauchen, dem´s noch schlechter geht, als einem selbst. Man zieht sich quasi gegenseitig runter...
Also, das Thema fand ich sehr gut...
Der Überraschungseffekt am Ende, dass das Mädchen bereits tot ist, fand ich auch super gelungen.

LG
Bella

 

Hallo Anea,

ein wenig zwiegespalten fühle ich mich auch bei dieser Geschichte. Einerseits hab ich sie gerne gelesen, weil du eine ungewöhnliche skurrile Beziehung skizzierst und ich wollte unbedingt wissen, wie sich das alles weiter entwickelt. Der Schluß ist im übrigen sehr stimmig. Also insoweit hat mir die Geschichte gut gefallen.

Nur, was mir Sorgen bereitet, ist, dass ich nicht nachvollziehen kann, was genau du eigentlich ins satirische Visier genommen hast. Die Satire hat ja den Zweck einen Missstand ins Visier zu nehmen und durch die besondere Darstellung anhand einer Geschichte dem Leser aufzuzeigen, welchen Missstand der Autor kritisieren will.

Soll ich das so verstehen, dass du die Alkoholsucht anprangern willst? Willst du kritisieren, dass sich zwei unfertige Menschen nur noch weiter gegenseitig fertig machen? So ganz habe ich die Intentioin nicht verstanden und meine soeben genannten Beispiele sind aus meiner Sicht keine geeigneten Satireplots, denn ich kann mich schlicht nicht kritisch darüber auslassen, dass jemand alkoholkrank wird, wenn ich auf der anderen Seite diesen Zustand als Krankheit definiere. Über Dinge, die wir Menschen nicht beeinflussen können, kann ich schlicht keine Satire schreiben, weil der Leser, an den mein sog. Appell geht, ja nichts ändern kann.
Ich kann mich selbstverständlich über die Ursachen der Alkoholkrankheit auslassen, aber ein Protagonist ist ja schon tief im Suff versunken.


Lieben Gruß
lakita

 

Anarcho-krasse Geschichte liest sich wie ein Drogenrausch du offenbarst auf jeden Fall Schreibtalent weiss nicht was ich sagen soll fand die Story gut ob Satire weiß nicht egal schönen Gruß André :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bella, Lakita, Baum74,

erstmal vielen Dank für eure Kritiken - ich fühle mich selbst im Bezug auf die Geschichte etwas zwiegespalten und kann eure Einwände daher durchaus nachvollziehen. Mir ist mein Erzähltempo manchmal wirklich auch etwas zu schnell. das Wort "Skizze" triffts, glaube ich, ganz gut...

Viele Menschen, ob verheiratet oder einfach "nur" ein Pärchen, spüren nicht dass, worunter man sich Liebe vorstellt. Sie bleiben aus Gewohnheit oder Routine zusammen oder eben lediglich, weil sie sich irgendwo noch für den anderen interessieren.
Das Pärchen dieser Geschichte empfindet gegenseitigen Hass, der so stark ist, dass sie ohne den anderen nicht können. Die Alkoholsucht ist nur ein Ausdruck dieses Hasses - sie flüchten sich beide in Drogen und können auch nur so sexuelle Anziehung empfinden. Die Sucht ist allerdings nicht Gegenstand der Satire, sondern eben Beziehungen, die nicht funktionieren und trotzdem aufrecht erhalten werden. Und das wird natürlich sehr überspitzt, makaber und absurd dargestellt, was mMn zu einer Satire gehört.

LG Anea

 

Hallo Anea,

danke für deine Rückmeldung. Jetzt kann ich auch deine Intention besser verstehen und aus deiner Sicht begreifen. Ich denke, du könntest versuchen, das noch deutlicher herauszustellen in deinem Text, damit es klarer wird für den Leser.

Ganz grundsätzlich bin ich aber inhaltlich nicht deiner Auffassung, weshalb ich auch dieses Thema nie für eine Satire gewählt hätte, denn ich denke und letztendlich stellst du es ja auch so dar, dass die beiden auch in ihrer total kranken Beziehung einander benötigen und somit wiederum gegenseitig sich ein wenig Glücksgefühl vermitteln können.
Mit anderen Worten: eine Beziehung, die darauf aufbaut, jeweils den Mangel und die Unfähigkeit des anderen für sich zu nutzen, ist eine durchaus stabile Beziehung, die eine ganze Weile halten kann. Nur wenn sich bei einem der Partner dieser Status ändert, kippt eine solche Beziehung schneller um als eine, die nicht auf gegenseitiger Abhängigkeit basiert. Wir beobachten um uns herum (uns selbstredend eingeschlossen) doch laufend derartige mehr oder minder subtile bzw. offen zutage getretenen Abhängigkeiten in Partnerschaften und ich finde es höchst spannend diese Beziehungsmuster aufzudecken und ihre Entwicklung zu beobachten. Für mich also mehr ein Stoff für die Abteilung Alltag, Gesellschaft oder auch mal Romantik.

Ich finde aber trotzdem gut, dass du versucht hast, diesen Plot als Satire zu verarbeiten.Wer nicht wagt, kann nicht gewinnen.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Anea,
Deine Geschichte im Vorbeigehen gelesen -
einfach Klasse. Mach weiter so
LG
vialata

 
Zuletzt bearbeitet:

@lakita

Das hast du gut erfasst! :bounce:
So viele Beziehungen können nicht funktionieren. Und tun's trotzdem, aus vielen seltsamen Gründen, die höchstens ein Psychologe o.ä. verstehen könnte.

Wir beobachten um uns herum (uns selbstredend eingeschlossen) doch laufend derartige mehr oder minder subtile bzw. offen zutage getretenen Abhängigkeiten in Partnerschaften und ich finde es höchst spannend diese Beziehungsmuster aufzudecken und ihre Entwicklung zu beobachten.
Ja, ich auch. Und diese hier ist so überzogen und absurd, dass sie schon hierher gehört. Ich hab mir lange überlegt, sie in Gesellschaft zu stellen, mich dann aber dagegen entschieden - in Satire versteht man einfach den Sarkasmus besser und kann eher mit ihm umgehen... und der ist ja schon einer der Hauptaspekte hier. Vielleicht schreib ich die Geschichte mal in abgeschwächter, nicht-zynischer Form und poste sie dann in Gesellschaft. Aber so wirklich scheint sie nirgendwo reinzupassen...


@vialata: Danke für dein Lob!

LG Anea

 

Tja, was soll ich sagen. Eine Satire ist das vermutlich nicht. Aber trotzdem gut. Ziemlich gut. Nach zweimaligem Lesen habe ich nur noch dieses morbide, debile Grinsen auf meinen Lippen und werd's nicht mehr los... Gibt's irgendwo Wodka?

 

Das war wohl auch mein Gesichtsausdruck beim Schreiben...

 

Horror, alltäglich und hingebungsvoll

Hallo Anea

Brr...
Vielleicht wäre Horror noch eine Alternativrubrik gewesen. :dozey:

Allerdings - obwohl teilweise ziemlich skizzenhaft - sehr gut geschrieben.
Und du bringst da durchaus was auf den Punkt.

Wirkt auf mich wie die Beschreibung eines Gefühls, das einem Bauchschmerzen hinterläßt - im besten Fall einen kleinen Kloß im Hals.
Jenes Gefühl, das manche auch veranlassen mag, einen Dialog allein am Tisch zu führen, um sich anschließend einer anderen - vermeintlich besseren - Welt zu überlassen.

Irgendwie hoffe ich nur, Du beobachtest Beziehungen, die solche ein Gefühl hervorrufen, nicht allzu oft und nicht allzu genau... :shy:

Lieben Gruß
rock

 
Zuletzt bearbeitet:

Nein, da kann ich dich beruhigen, so autobiographisch ist der Text nicht (gottseidank).

Und obwohl ich dir zustimme, hätte es auch im Horrorforum Proteste gehagelt. Der Text steht einfach zwischen den Foren, und aufgrund meiner Allmacht als Autor :king: (Arroganzklubbeitrag!) entschied ich mich für Satire, weil es das am ehesten für mich ist. Der Sarkasmus ist da ja elementarer Bestandteil.

 

Hallo Anea,

hat mir gut gefallen. Ohne mich jetzt im satirischen Bereich wirklich auszukennen, fand ich die überspitzte Darstellung einer vollkommen kranken und abgedrehten Beziehung gelungen. In abgeschwächter Form sind diese Abhängigkeitsverhältnisse in der Realität viel zu oft zu finden. Etwas fragmenthaft, was durchaus was für sich hat, wenn ich mir das Ganze auch gut ausführlicher hätte vorstellen können.

Zwei Kleinigkeiten, ich kann einfach nicht anders:

Er war groß und schlank. Groß ist er immer noch.
Nur noch groß? Wieso nicht mehr schlank?
Jemand glaubte wohl wir ein Schlaflied lallen zu müssen.
mir

Liebe Grüße
Juschi

 

Hey Juschi,

kein Problem, meinetwegen darfst du an Geschichten rummeckern soviel du willst (sogar wenns meine sind! :D )

Er war groß und schlank. Jetzt ist er groß und dick. Es lebe der Bierbauch...

lg Anea

 

Auch hier nur kurz ein Bonsai-Senf:

Ich habe für - meine Verhältnisse nahezu unglaublich! - die Intention tatsächlich auf Anhieb und beim ersten Lesen kapiert! *angeb* (Ja, das geht, lakita! :p )

Fand demzufolge (denn ich verstehe das durchaus als Satire, wenn zwei Menschen nur "der Form halber" sich lieber gegenseitig schön saufen, statt einfach allein zu bleiben) den Text auch recht gelungen. Allerdings ist auch mir die Erzählung etwas zu knapp gehalten, insbesondere der Schluss, also so die letzten paar Sätze, sind extrem platt. Also: Ein wenig Aufpusten täte der Geschichte gut, dann stünde sie nicht mehr so dürr und schlotterig da. Und mit etwas mehr Detail kommt dann vielleicht auch die Intention auch noch besser rüber, was wünschenswert wäre, da mir der satirische Ansatz sehr gefällt!

Gruß,
Horni

 

Hi Anea,

deine Geschichte erinnert mich an den Film ... ach wie hieß der denn noch?
Mit Liz Tayler und R. Burton, ein asbach Film.
Sie schlugen, liebten und hassten sich.
Abrutsch ins Asoziale. :schiel:

Deine skizzenhafte Beschreibung, kann ich mir sehr gut vorstellen, bei einem Menschen, der nach seinem Dahinscheiden, noch einmal einen schnellen Blick auf seine letzten Jahre wirft.
Draufschauen, abhaken, weg ... :shy:

Ich mag sowas kurzes ;)

lieben Gruß, coleratio

 

Hallo emophiliac, Horni, coleratio,

vielen Dank für eure Kommentare und Vorschläge. Ich überlege auch schon seit geraumer Zeit, hier noch etwas zu erweitern, bin aber leider grad gar nicht inspiriert... gerade am Schluss möchte ich wirklich noch feilen. Den Skizzenhaften Charakter will ich trotzdem beibehalten.

lg Anea

 

hi anea,

GÖTTLICH, diese geschichte! ich find sie absolut ok, nicht zu kurz-knapp ... wie kann man sowas schreiben, ohne es erlebt zu haben? :D :D :D

alles liebe,

h.

 

Moin Anea,

Ja, hat mir echt gut gefallen, wirklich. Das satirische Element kam meiner Meinung nach gut raus und die humorvoll absurde Beleuchtung der Szenerie ist genau mein Ding (sag noch einmal, daß du nix lustiges schreiben kannst und ich hau dich).
Kritikpunkt für mich ist das Ende. Ich hätte nach dem Klavier aufgehört - alles was danach kommt, erklärt mir zu viel (die Hassliebe kriegt der Leser schon vorher mit) und nimmt der eigentlich großartigen Pointe ihren Kick.

Als wir in Urlaub fuhren, ahnten wir noch nichts von uns. Und zu dem Zeitpunkt, als es soweit war, bereuten wir es bereits.
supi, echt
Eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann. Nachts um 3 Uhr in einem Hotelbungalow.
Ich würde die beiden "hetereosexuell" rausnehmen. Ziehen den Satz in die Länge und nehmen dem (guten) Gag Tempo. Auch angesichts des Running Gags.
ch wollte noch nie als einsamer Single sterben.
Mein untrüglicher Grammatikinstinkt, der sich für gewöhnlich irgendwo zwischen rechtem Hirnlappen und Mittelohr versteckt und knubbelig hervorwinkt, flüstert mir hier ein dezentes "hatte gewollt" ins Ohr. Aber auf den Sack hab ich noch nie gehört.
Zu sehen, wie er im Krankenhaus geschockt wurde, war der Höhepunkt meiner Ehe.
geschockt? Ist das Medizinerjargong? Oder meinst du diese knuffigen Elektroschocker, die man im Fernsehen immer sieht, wenn Doktor Brinkmann loslegt? Gibts die auch bei Verblutung? Krieg ich einen Preis, wenn ich fünf Fragen in einen Absatz quetschen kann?
An meiner Beerdigung heulte er wie ein Schloßhund
An = Auf oder während (wie gesagt, mein untrüglicher Grammatikinstinkt. Der Sack)

 

Ich hätte nach dem Klavier aufgehört
Das ist doch tatsächlich eine Gedanken wert... *denk*... okay, ich machs.

Oder meinst du diese knuffigen Elektroschocker, die man im Fernsehen immer sieht, wenn Doktor Brinkmann loslegt? Gibts die auch bei Verblutung?
Nun ja, bei Herzstillstand - und der kann bei allem möglichen auftreten, Verblutungen inklusive.

Krieg ich einen Preis, wenn ich fünf Fragen in einen Absatz quetschen kann?
*preisüberreich*

An = Auf oder während (wie gesagt, mein untrüglicher Grammatikinstinkt. Der Sack)
Bei wär noch eine Alternative... wird eh gestrichen. So. Schon wieder ein noch kürzerer Text :heul: - warum bring ich nur nix langes zustande?!

Aber vielen Dank fürs beraten und lesen und mögen,

Anea

 

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