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Moderne Tragödie
Als wir in Urlaub fuhren, ahnten wir noch nichts von uns. Und zu dem Zeitpunkt, als es soweit war, bereuten wir es bereits.
Er war groß und schlank. Groß ist er immer noch. Ich ein Landei, rote Haare, drahtige Figur, einundzwanzig. Zu dem Zeitpunkt Antialkoholikerin, auf der Suche nach was neuem. Zerstreuung, Entspannung. Urlaub.
In der ersten Nacht wachte ich auf. Jemand glaubte wohl, mir ein Schlaflied lallen zu müssen. Er fand es offenbar auch komisch, seinen Mageninhalt unter meinem Fenster zu plazieren. Ich war zuvor stundenlang wach gewesen, hatte endlich Schlaf gefunden und war nun stocksauer. Während wir Beleidigungen austauschten, kletterte er durchs Fenster und plünderte die Minibar.
Sofort riss ich ihm den Wodka aus der Hand und trank ihn selbst, damit er ihn nicht haben konnte. Der spontane Hass schlug eine Schneise zwischen uns, ich verabscheute ihn mit all meinem Willen. Doch unter Gorbatschow weichte er auf, gab nach. Eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann. Nachts um 3 Uhr in einem Hotelbungalow.
Natürlich hatten wir Sex.
Am Morgen waren wir der Nüchternheit nahe. Das Frühstücksbüffet der Minibar bot Kräuterschnaps. Dankbar vergaßen wir die letzte Nacht.
Eine Frau und ein Mann. Völlig besoffen zusammen in einem Zimmer.
Sex.
Unser Zustand änderte sich nicht mehr in den folgenden Tagen. Als ich mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus kam, heiratete er mich schnell. Ich wollte noch nie als einsamer Single sterben.
Wir zogen zu ihm. Dort stank es nach Urin, Halb- und Vollverdautem. Er züchtete Schimmelpilze. Ich genoss die Vorteile der Stadt, das reichhaltige Spirituosenangebot. Saufen mit Stil. Ich war noch nie so glücklich.
Wir verabscheuten uns weiterhin. Die Drogen, die wir deswegen brauchten, wurden immer härter. Nikotin. Aspirin. Kokain. Wir kurbelten die Schwarzwirtschaft an, schufen Arbeitsplätze. Er verbrauchte Tonnen Viagra, um seinen Ekel zu überwinden. Ich entwickelte authentischste Scheinmigränen. Zwecklos.
Schließlich waren wir verheiratet.
Als er sich die Pulsaden aufschlitzte, ließ ich ihn fast ganz ausbluten, bevor ich ihn rettete. So einfach sollte er nicht davon kommen. Zu sehen, wie er im Krankenhaus geschockt wurde, war der Höhepunkt meiner Ehe. Aus reiner Bosheit machte er dann genau dasselbe mit mir.
Natürlich versuchten wir auch, uns gegenseitig umzubringen. Aber wir hingen einfach viel zu sehr aneinander. Dennoch: auch das Gefühl, es fast zu tun, hatte einiges für sich.
Ich fuhr den endgültigen Sieg ein. Als ich das Haus verließ, um Schnaps zu holen, fiel mir ein Klavier auf den Kopf.