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MM
Außen. Ich lege Blumen auf den Schnee.
Vielleicht ist auch Schnee von innen schwarz.
Innen. Das Ticken der Wanduhr... tick... tick... schneidet den Raum in dünne Zeitscheiben.
Mechanisch nehme ich einen Teebeutel (Zwetschke-Marille - so fruchtig - mit 10 Vitaminen) und gebe ihn ins heiße Wasser. Ich esse getrocknete Feigen, die knirschen, als würden sie sich dagegen wehren. Doch der Hunger ist groß und mein Gebiss ist stärker als der Widerstand.
Der Blick nach draußen wird durch einen weißen Kunststoff-Fensterrahmen begrenzt und fällt - an einem Baum vorbei - auf einen Altbaubalkon, auf dem zusammengeklappte Stühle und ein Tisch an die Wand gelehnt stehen. (Diesen Anblick mag ich besonders, wenn sich im Morgenlicht Muster auf der Oberfläche des Möbiliars bilden. Die netzartigen Fäden werden gelegentlich durchbrochen und flirren auseinander, wenn ein im Wind wehendes Blatt seinen Schatten wirft.)
Frühstück. Heute lese ich Zahnpasta. Ich creme das Zeitungspapier mit meinem Gesicht ein. Viele Kinder sind gestorben. Ich zähle Gestorbenes. Auf Zeile fünfzehn der zweiten Seite explodiert eine Bombe. Es ist nicht die erste Bombe, die meinen Körper und viele andere Körper in Stücke reißt. Ich schreie. Nicht mal der Nachbar hört es. Er hört sonst alles. Er hört mich laut atmen, er hört mich leise gehen. Auf Zeile siebzehn der zweiten Seite, stirbt ein verwundetes Kind. Nicht einmal ich höre seinen Schrei. ...tick... Die Wanduhr.
Dann setze ich mich in den Salat, streue Zucker auf die Zahnpasta und lese den Tisch.
Viel zu fahrlässig wasche ich mir das Gesicht.
Hinaus. Es ist Winter.
Im Park. Ich sitze auf einer Bank und lese fremde Geschichten. Viele von den Geschichten, die ich lese, beginnen mit einer Großmutter. Vögel picken nach Brotkrumen. Menschen picken nach anderen Menschen.
Dann lese ich Wolkengeschichten. Sie beginnen mit einem Stück Himmel, den man verschlingen kann wie Marmor. Im Magen rumort es dann, hölzern und marmorblau.
Vor vielen Jahren, als ich noch kleiner war und gerade versuchte, die Schaukel mit meinem Körper Richtung Himmel zu schleudern (Das war in einem Dorf, das so klein ist, dass es auf keiner Landkarte vermerkt ist, als der Nachbarshund noch lebte, der auch mal klein gewesen war, dann immer größer geworden war und der dann gestorben war), brüllte mir eine Frau entgegen.
Nenn mich Oma, rief sie.
Ich freute mich.
Ich wurde glücklicherweise nie von Großmutter verprügelt oder in traditionelle Kleider gesteckt, die mir die Luft zugeschnürt hätten.
Ich habe Glück, denn ich bin frei von Trauma und Tradition.
Beim Nachbarn gab es Griesschnitten mit Aprikosen aus der Dose und Puderzucker. Ich nannte ihn Großvater. Sein grauer Pudel hieß Lucky.
Lucky rannte irgendwann glücklich auf die Straße und wurde von einem Auto überfahren.
(Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ... ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass dunkler Flieder nach reifen, roten Trauben duftet. Winterjasmin ist rosa, denke ich, und hell, doch sicher bin ich mir nicht.
Großvater hat mal einen Banenenbaum aus England mitgebracht und ihn dann mit einer kleinen Kamera täglich beim Wachsen gefilmt. Der Baum solle den Winter überstehen.)
Großvater schoss in seiner Freizeit - und er hatte viel Freizeit - mit einem Gewehr auf Tiere. Nachdem Lucky gestorben war, schoss Großvater mit einem Gewehr auf Autos.
Im Sommer wuchs das Gras hoch und verschlang den Nussbaum.
Im Winter verließen wir die Äste des Nussbaums, als wären wir Vögel, und zogen in warme Stuben.
Großvater schoss wieder auf Vögel und irgendwann erlegte er eine Sau.
Ich sah bei einer Katzengeburt zu, lag im Heu, und noch viel lieber im Wasser zwischen Ratten und Spinnen.
Ich war Winnetou und Old Shatterhand.
Großvater schoss noch immer auf die Vögel, dann lag auch er unter der Erde und über der Erde lag Schnee.
Er glaubte mir nicht, dass ich mit acht Jahren den Sinn des Lebens bereits gefunden hatte, wenn man bedenkt, dass ich zumindest heute auch nicht mehr weiß, als ich damals wusste. Wir stellen Fragen nach dem Sinn, sagte er, und nach Gott, und am Ende wissen wir trotzdem nichts, aber wir hören trotzdem nicht auf, Fragen zu stellen, obwohl wir wissen, dass wir am Ende nichts wissen werden.
...
Bedeckt vom Schnee sind alle Städte einsam.
...
Zurück. Ich nehme die Straßenbahn.
Vier Stationen, nachdem ich ausgestiegen bin, finde ich einen Sitzplatz.
Vor dem Wohnblock rauche ich.
Den Filterstummel schnippe ich gleichgültig weg.
Im Keller ist die Aussicht überwältigend.
Es hat zweiunddreißig Grad und schneit.