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MM

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13.01.2012
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MM

Außen. Ich lege Blumen auf den Schnee.
Vielleicht ist auch Schnee von innen schwarz.

Innen. Das Ticken der Wanduhr... tick... tick... schneidet den Raum in dünne Zeitscheiben.
Mechanisch nehme ich einen Teebeutel (Zwetschke-Marille - so fruchtig - mit 10 Vitaminen) und gebe ihn ins heiße Wasser. Ich esse getrocknete Feigen, die knirschen, als würden sie sich dagegen wehren. Doch der Hunger ist groß und mein Gebiss ist stärker als der Widerstand.
Der Blick nach draußen wird durch einen weißen Kunststoff-Fensterrahmen begrenzt und fällt - an einem Baum vorbei - auf einen Altbaubalkon, auf dem zusammengeklappte Stühle und ein Tisch an die Wand gelehnt stehen. (Diesen Anblick mag ich besonders, wenn sich im Morgenlicht Muster auf der Oberfläche des Möbiliars bilden. Die netzartigen Fäden werden gelegentlich durchbrochen und flirren auseinander, wenn ein im Wind wehendes Blatt seinen Schatten wirft.)

Frühstück. Heute lese ich Zahnpasta. Ich creme das Zeitungspapier mit meinem Gesicht ein. Viele Kinder sind gestorben. Ich zähle Gestorbenes. Auf Zeile fünfzehn der zweiten Seite explodiert eine Bombe. Es ist nicht die erste Bombe, die meinen Körper und viele andere Körper in Stücke reißt. Ich schreie. Nicht mal der Nachbar hört es. Er hört sonst alles. Er hört mich laut atmen, er hört mich leise gehen. Auf Zeile siebzehn der zweiten Seite, stirbt ein verwundetes Kind. Nicht einmal ich höre seinen Schrei. ...tick... Die Wanduhr.
Dann setze ich mich in den Salat, streue Zucker auf die Zahnpasta und lese den Tisch.
Viel zu fahrlässig wasche ich mir das Gesicht.

Hinaus. Es ist Winter.

Im Park. Ich sitze auf einer Bank und lese fremde Geschichten. Viele von den Geschichten, die ich lese, beginnen mit einer Großmutter. Vögel picken nach Brotkrumen. Menschen picken nach anderen Menschen.
Dann lese ich Wolkengeschichten. Sie beginnen mit einem Stück Himmel, den man verschlingen kann wie Marmor. Im Magen rumort es dann, hölzern und marmorblau.
Vor vielen Jahren, als ich noch kleiner war und gerade versuchte, die Schaukel mit meinem Körper Richtung Himmel zu schleudern (Das war in einem Dorf, das so klein ist, dass es auf keiner Landkarte vermerkt ist, als der Nachbarshund noch lebte, der auch mal klein gewesen war, dann immer größer geworden war und der dann gestorben war), brüllte mir eine Frau entgegen.
Nenn mich Oma, rief sie.
Ich freute mich.
Ich wurde glücklicherweise nie von Großmutter verprügelt oder in traditionelle Kleider gesteckt, die mir die Luft zugeschnürt hätten.
Ich habe Glück, denn ich bin frei von Trauma und Tradition.

Beim Nachbarn gab es Griesschnitten mit Aprikosen aus der Dose und Puderzucker. Ich nannte ihn Großvater. Sein grauer Pudel hieß Lucky.
Lucky rannte irgendwann glücklich auf die Straße und wurde von einem Auto überfahren.
(Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ... ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass dunkler Flieder nach reifen, roten Trauben duftet. Winterjasmin ist rosa, denke ich, und hell, doch sicher bin ich mir nicht.
Großvater hat mal einen Banenenbaum aus England mitgebracht und ihn dann mit einer kleinen Kamera täglich beim Wachsen gefilmt. Der Baum solle den Winter überstehen.)
Großvater schoss in seiner Freizeit - und er hatte viel Freizeit - mit einem Gewehr auf Tiere. Nachdem Lucky gestorben war, schoss Großvater mit einem Gewehr auf Autos.
Im Sommer wuchs das Gras hoch und verschlang den Nussbaum.
Im Winter verließen wir die Äste des Nussbaums, als wären wir Vögel, und zogen in warme Stuben.
Großvater schoss wieder auf Vögel und irgendwann erlegte er eine Sau.
Ich sah bei einer Katzengeburt zu, lag im Heu, und noch viel lieber im Wasser zwischen Ratten und Spinnen.
Ich war Winnetou und Old Shatterhand.
Großvater schoss noch immer auf die Vögel, dann lag auch er unter der Erde und über der Erde lag Schnee.

Er glaubte mir nicht, dass ich mit acht Jahren den Sinn des Lebens bereits gefunden hatte, wenn man bedenkt, dass ich zumindest heute auch nicht mehr weiß, als ich damals wusste. Wir stellen Fragen nach dem Sinn, sagte er, und nach Gott, und am Ende wissen wir trotzdem nichts, aber wir hören trotzdem nicht auf, Fragen zu stellen, obwohl wir wissen, dass wir am Ende nichts wissen werden.

...

Bedeckt vom Schnee sind alle Städte einsam.

...

Zurück. Ich nehme die Straßenbahn.
Vier Stationen, nachdem ich ausgestiegen bin, finde ich einen Sitzplatz.
Vor dem Wohnblock rauche ich.
Den Filterstummel schnippe ich gleichgültig weg.
Im Keller ist die Aussicht überwältigend.
Es hat zweiunddreißig Grad und schneit.

 

Hallo yleae

Wir befinden uns hier in der Experimentenecke, und so habe ich natürlich versucht, deinen Text danach zu ergründen. Ich blieb erfolglos.

Möglicherweise nimmst du Majakoswkis Gedicht als Basis und versuchst darauf aufbauend etwas Neues zu schaffen. Allerdings bleibt der lyrische Ansatz in den verdrehten Aussagen bestehen, deren Sinn mir leider verborgen bleibt. Ich kenne den sowjetischen Dichter nicht, (nur wikipedia half weiter,) auf den du möglicherweise mit den Anspielungen auf das Wetter, und den vielen Widersprüchen verweist. Auf jeden Fall ist für mich der Text nur verwirrend.

Fazit: Leider erkenne ich in deiner kurzen weder Experiment noch Geschichte, aber vielleicht übersehe ich nur den versteckten Zugang, der den Text in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen und seine Daseinsberechtigung in Experimente rechtfertigen würde.
;-)

Gruss dot

 

Nach Klärung mit Autor und Asylantrag z. Hd. C. Seltsem verschoben von "Experimente" nach "Seltsam".

 
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Ich mache es hier kurz: ich habe eine Empfehlung für die Geschichte ausgesprochen. Das ist ungewöhnlich in Form und Stil. Eine surreale Geschichte voller Bilder für mich, in die ich mich schlichtweg sofort verliebt habe. Danke für's Zeigen. Großes (Kopf)Kino.

@dotslash: Der Erzähler fährt zu einem Grab und legt dort Blumen ab.

 

Hallo,
Sowas kommt wohl dabei raus, wenn man sich die tollsten Sätze ausdenken will und sie alle in eine Geschichte packt. Ich vermisse hier so etwas wie eine Geschichte. Eine Aneinanderreihung von verdrehten Bildern zählt nicht als solche.

JoBlack

 
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Joblack:

Ich vermisse hier so etwas wie eine Geschichte. Eine Aneinanderreihung von verdrehten Bildern zählt nicht als solche.

Ausserhalb des Forums zählt es und ist sogar eine Richtung in der Literatur.


Maria, es braucht ein wenig, um solche Texte zu lesen. Wir sind darauf geeicht, dass Struktur und Inhalt strikt vorgegeben werden, dies hier ist ein surrealistischer Text und er bewegt sich damit in einer eigenen literarischen Tradition.

Sie ist sicherlich bloß frei von Glück und Tradition, aber wie sie/er sich da auch in der Geschichte benimmt, das ist total nicht normal.

Nunja. In dem Kontext des Textes soll auch gar nichts "total normal" sein. Das sind Deine Erwartungshaltungen an Texte, die werden nicht erfüllt. Kann passieren, sagt aber weder, dass der Text nichts taugt, noch dass Dein Geschmack schlecht wäre, es passt halt einfach nicht zusammen. Und gerade das wäre doch eine schöne Gelegenheit mal zu gucken was der Text kann, auch bei Dir.

ohne einen roten Faden, ohne eine Struktur, ohne Gesicht, ohne Gefühle, nur mit Bildern, die ich zwar geil finde

Genau das will und soll so ein Text. Perfekt! Das ist der Clou daran. Und wenn er Dich wütend macht, hat auch die zweite Forderung des Surrealismus funktioniert- die der Abkehr von traditionellen Erzählweisen und die Provokation.

So wie Du den Text nicht magst und, wie Du sagst, nicht verstehst, so werden Surrealisten sich hier im Forum selten wohl fühlen, weil ihnen die herkömmliche Erzählweise platt und langweilig vorkommen wird. So geht es mir hier meistens, obwohl ich sowohl traditionelle Geschichten als auch surrealistische mag.

Es ist also eine Frage des Geschmacks und der Mittel, keine von "gut" oder "schlecht".

Das Verhältnis dieses Textes zu "normalen" Geschichten ist ähnlich wie beispielsweise zwischen Rubens und Dali in der Malerei (nur Beispiele, ich mag Dali überhaupt nicht). Das eine ist Realismus, während das Surreale (leitet sich von Super- real ab) Assoziationen, Traumbilder, wilde Einfälle und Verdrehungen zulässt und als Stilmittel nutzt. Würde man Dalis brennende Giraffen als Stilmittel ablehnen, weil sie unlogisch sind? Warum sollte denn Text immer im Gleichschritt marschieren...

Es erfordert ein wenig Gewöhnung sowas zu lesen und es ist auch absolut nicht jedermans Sache, aber innerhalb dieser speziellen Schule des Schreibens haben wir hier einen sehr guten Text, der unter Seltsam gar nicht so gut aufgehoben ist, aber innerhalb der Forenkategorien auch nirgends anders hinpassen würde.

Vielleicht würde es helfen, sich in die Literatur des Surrealismus ein wenig einzulesen. http://de.wikipedia.org/wiki/Surrealismus

Fals Du Lust hast mal was surrealistisches zu lesen:

Ein Autor, der nicht zur Schule der Surrealisten oder Dadaisten zählt, ist bspw. Boris Vian gewesen.

Sein Roman "Schaum der Tage" ist surrealistisch und dabei ganz bezaubernd, das Buch erzählt eine Liebesgeschichte- und in Frankreich ist das Buch ein Bestseller gewesen und wurde sehr, sehr oft verkauft.

Möglicherweise ein Einstieg, wenn man sich mit solcher ungewöhnlichen Literatur beschäftigen will. Übrigens ist auch Vians Biografie spannend, er bewegte sich im Umfeld der Existenzialisten, bis seine Frau die Geliebte Sartres wurde.

In Schaum der Tage macht der Autor sich dann auch über eine Figur namens Jean Sal Partre lustig und dessen schwarzgekleidete Anhänger...

Wie auch immer: das ist ne gute Geschichte, sie ist halt ungewohnt für das Forum. Und das ist insofern schade, als ich mich hier ehrlich gesagt oft langweile und gerne mehr ungewöhnliche, aufregende Texte läse.

Wikipedia definiert:

Ausgehend von der dadaistischen Bewegung in Paris stellte auch der Surrealismus eine aufrührerische Kunstbewegung dar, die gegen die unglaubwürdigen Werte der Bourgeoisie antrat, im Gegensatz zum negativ-destruktivistischen Dadaismus jedoch eine konstruktivere Sicht der Dinge propagierte. Beeinflusst vom Symbolismus, Expressionismus, Futurismus, den Schriften Lautréamonts, Alfred Jarrys und den Forschungen Sigmund Freuds stellt der Surrealismus eine nichtrationale und die Gefühle betonende Welt des Traums in den Vordergrund, lehnt jedoch logisch-rationale „bürgerliche“ Kunstauffassungen radikal und provokativ ab. Der Surrealismus verbreitete die Befreiung der „Wörter“ und eine Ästhetik der „kühnen Metapher“.

Man kann den Surrealismus in zwei Unterarten unterteilen:
-- veristischer oder auch kritisch-paranoischer Surrealismus (Vereinigung nicht zusammengehöriger Dinge, verdrehte Perspektiven, wie man sie z. B. von Salvador Dalí kennt), genannt Enttextualisierung
-- abstrakter oder absoluter Surrealismus (dasselbe Prinzip wie oben genannt nur ohne jeglichen Realismus, wie z. B. in Bildern von Joan Miró)


Der Titel bedeutet, was auch immer Du darin siehst. Freiheit und Sicherheit sind keine Geschwister.

 
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Hallo yleae,

ich finde deine Geschichte ungewöhnlich, sehr gut und ansprechend. Ich meine auch, dass da viel mehr drin steckt, als nur eine simple Aneinanderreihung von Bildern - die übrigens für sich allein betrachtet schon ungemein stark und gekonnt ihre Wirkung entfalten. Natürlich muss man sich darauf einlassen, um Inhalt und Geschichte/n zu finden. Mir ist das gelungen. Und du bietest viel! Dein Text jazzt, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Ich kenne viele Menschen, die empfinden Jazz als unmelodisch und nervig und bezeichnen Hardbop bereits als Freejazz. Mit solchen Einschätzungen muss man leben, das ist aber nicht schlimm. Ein solches Forum bietet dennoch hervorragende Möglichkeiten, die ganze Bandbreite an Kritiken auszuloten. Ein Qualitätsurteil ist das dann immer noch nicht.

Nach meiner Einschätzung besteht die Empfehlung der Geschichte absolut zu recht. Ich hätte den Text auch empfohlen.

Rick

P. S. Den Titel finde ich übrigens auch klasse. Und ich bin in diesem Forum ein echter Titelexperte ;-)

 
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Hallo yleae,

Der Text hat mich auch erreicht.

Ich habe Glück, denn ich bin frei von Trauma und Tradition.

Das ist ein kluger, bissiger und ironischer Satz. Finde ich gut. Für mich gibt er die ganze Geschichte wieder, das Feeling darin. Eine Art Langeweile des Alltags. Tradition, Traumas ... das fehlt.

Frühstück. Heute lese ich Zahnpasta. Ich creme das Zeitungspapier mit meinem Gesicht ein. Viele Kinder sind gestorben. Ich zähle Gestorbenes. Auf Zeile fünfzehn der zweiten Seite explodiert eine Bombe. Es ist nicht die erste Bombe, die meinen Körper und viele andere Körper in Stücke reißt. Ich schreie. Nicht mal der Nachbar hört es. Er hört sonst alles. Er hört mich laut atmen, er hört mich leise gehen. Auf Zeile siebzehn der zweiten Seite, stirbt ein verwundetes Kind. Nicht einmal ich höre seinen Schrei. ...tick... Die Wanduhr.
Dann setze ich mich in den Salat, streue Zucker auf die Zahnpasta und lese den Tisch.
Viel zu fahrlässig wasche ich mir das Gesicht.

Das Ticken der Wanduhr, das Zerfließen, das Nichtspassieren, die Zeit, die man dann hat, den Blick und die Aufmerksamkeit auf Eigenartiges zu lenken – und im Gegensatz dazu die Zeitung. In der Zeitung passiert natürlich viel, jeden Tag gehen Bomben hoch, aber was soll der Prot damit anfangen? Solche Ereignisse kann man ja fast nur mit surrealen Augen betrachten, denn so richtig "begreifen" kann man tote Kinder morgens beim Frühstücken nicht wirklich. Und so baut der Prot die Bombe in seinem Leben ein, stellt sich vor, wie er zersprengt wird.

Im Park. Ich sitze auf einer Bank und lese fremde Geschichten. Viele von den Geschichten, die ich lese, beginnen mit einer Großmutter.

Dieser Mensch hat keine eigene Geeschcihten, die er erzählen könnte. Aber er liest viele andere, und das ist wie mit der Zeitung, da zerfließen irgendwann die Gedanken, und dann stellt man sich das eigene Leben vor, die eigene Geschichte. Als Kind war man auf der Schaukel, und da gab's ne Oma, und dann ... kommt der Satz, der mir gefällt.

Ich habe Glück, denn ich bin frei von Trauma und Tradition.
Das ist ein Glück, aber nicht wenn du was Spannendes erzählen willst.


Ich sah bei einer Katzengeburt zu, lag im Heu, und noch viel lieber im Wasser zwischen Ratten und Spinnen.
Ich war Winnetou und Old Shatterhand.

Da hat man wieder in der Fantasie gelebt, das war schon relativ spannend, die Katzengeburt, und noch Jahre später erinnert man sich daran, aber eigentlich wollte man Ratten und Spinnen. Und dann hat man halt Karl Mai gelesen.

Im Park. Ich sitze auf einer Bank und lese fremde Geschichten. Viele von den Geschichten, die ich lese, beginnen mit einer Großmutter. Vögel picken nach Brotkrumen. Menschen picken nach anderen Menschen.
Dann lese ich Wolkengeschichten. Sie beginnen mit einem Stück Himmel, den man verschlingen kann wie Marmor. Im Magen rumort es dann, hölzern und marmorblau.

Dass der Himmel sich im Bauch wie Marmor anfühlt, wo Wolken doch eingentlich so plüschig sind, diese Schwere, wo doch Leichtigkeit sein sollte ... so richtig genießt man diese Alltagsleichtigkeit im Park nicht wirklich.


Großvater schoss noch immer auf die Vögel, dann lag auch er unter der Erde und über der Erde lag Schnee.

Und der Opa, der auf alles geschossen hat, stribt dann, und der Hund auch, und das wird so beiläufig erzählt, über ihm lag dann Schnee. Warum eigentlich? Worin liegt da der Sinn? Es gibt keinen ... will der Text vermitteln.

Den Filterstummel schnippe ich gleichgültig weg.
Im Keller ist die Aussicht überwältigend.
Es hat zweiunddreißig Grad und schneit.

Und so endet die GEschichte, als wollte der Autor sagen: Tja ... und das war's. Es schneit. Mir ist langweilig. Vielleicht weiß er auch gar nicht, dass ihm langweilig ist. Keine Ideale mehr, keine Liebe, keine Religion, keine Nöte, alles wurde entweder entlarvt oder gelöst – jetzt kann man in den Park gehen und die Wolken betrachten. Das ist ja tragisch. Eine post-post-moderne Geschichte fast, man kann sich auch über die Haltung des Prots aufregen, wenn man gerade in der Stimmung ist.

Eine traurige Geschichte mit schönen Bildern, mir hat sie gefallen.


MfG,

JuJu

 
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Hallo yleae,

fairnesshalber sollte ich mich wohl auch zur Geschichte aeussern, wenn ich mich hier schon mit nem Metakommentar melde. Aber nicht nur deshalb, sondern auch weil es eine sehr interessante Geschichte ist. Ich finde sie hat einige sehr starke Formulierungen und Bilder, die auch ungewoehnliche Einsichten und aha-Effekte ausloesen. Also nicht nur selbstgenuegsame Sprachspielerei, sondern auch Sinn. Andere Stellen erscheinen mir aber zu bemueht und ueberzogen. Da wird das Surreale zu sehr zur Attiduede und ich kann da nichts Interessantes mit verbinden.

Ich mach mal Beispiele, chronologisch.

Vielleicht ist auch Schnee von innen schwarz.

Innen. Das Ticken der Wanduhr... tick... tick... schneidet den Raum in dünne Zeitscheiben.

Der innen schwarze Schnee ist ein schoenes Bild fuer die Seelenlage des Protagonisten und auch die Scheibchenzeit gefaellt mir. Da hat nichts mehr Zusammenhalt.

Mechanisch nehme ich einen Teebeutel (Zwetschke-Marille - so fruchtig - mit 10 Vitaminen) und gebe ihn ins heiße Wasser. Ich esse getrocknete Feigen, die knirschen, als würden sie sich dagegen wehren. Doch der Hunger ist groß und mein Gebiss ist stärker als der Widerstand.
Das empfinde ich wieder schwaecher, nicht schlecht, aber es kommt nicht an den Anfang ran, wirkt etwas banal, gerade mit dem Gebiss und dem Widerstand. Manchmal gelingt es ja, solch banalen Verrichtungen Magie zu geben, hier nicht so recht.

Diesen Anblick mag ich besonders, wenn sich im Morgenlicht Muster auf der Oberfläche des Möbiliars bilden. Die netzartigen Fäden werden gelegentlich durchbrochen und flirren auseinander, wenn ein im Wind wehendes Blatt seinen Schatten wirft.
Der Blick nach draussen ist allgemein schoen. Hier muesste es aber "Mobiliar" heissen. "netzartige Faeden" ist so mechanisch-deskriptiv, -artig was fuer eine unsinnliches Suffix, das zerstoert mir die Feinheit des Eindrucks. "Schattennetz" oder sowas waere poetischer.

eute lese ich Zahnpasta. Ich creme das Zeitungspapier mit meinem Gesicht ein. [...] Dann setze ich mich in den Salat, streue Zucker auf die Zahnpasta und lese den Tisch.
Viel zu fahrlässig wasche ich mir das Gesicht.
[...]
Dann lese ich Wolkengeschichten. Sie beginnen mit einem Stück Himmel, den man verschlingen kann wie Marmor. Im Magen rumort es dann, hölzern und marmorblau.
Das ist mein Hauptkritikpunkt. Das mag ich gar nicht, das wirkt so bemueht surreal und ich kann null damit verbinden. Ich glaube, sowas praegt den Eindruck, dass der Text z.T. hohle Bilder setzt. Besonders schade ist es, weil es hier eine Stelle rahmt, die eigentlich sehr stark ist. Dass da Kinder in der Zeitung sterben, dass da Bomben explodieren, ohne dass der Nachbar es hoert, der doch sogar lautes Atmen wahrnimmt. Das ist richtig gut.

Vor vielen Jahren, als ich noch kleiner war und gerade versuchte, die Schaukel mit meinem Körper Richtung Himmel zu schleudern
das ist auch sprachlich richtig schoen

(Das war in einem Dorf, das so klein ist, dass es auf keiner Landkarte vermerkt ist, als der Nachbarshund noch lebte, der auch mal klein gewesen war, dann immer größer geworden war und der dann gestorben war)
Das ist syntaktisch sehr verwirrend (bisher war die Syntax ja relativ ordnungsgemaess, was hilft, sich auf die Bilder zu konzentrieren, finde ich). Das liest sich erst, als hinge die Groesse des Dorfes mit der Groesse des Hundes zusammen (kein schlechter Gedanke an sich), dabei geht es einmal um eine oertliche und einmal um eine zeitliche Verortung. Kurzum. Ich wuerd mind. ein Semikolon setzen. "geworden war" und "gestorben war" klingt nicht schoen, das koennte man umgehen.

Die Kindheitserinnerungen sind echt schoen. Aber jetzt verstehe ich auch, was mich oben so stoert. Die Eindruecke sind groesstenteils total konkret, mit ungewoehnlichen Details und assoziativ verbunden zwar, aber im Grunde realistisch. Ganz handfeste Griesschnitten zum Riechen und Schmecken. Zum Teil echt wunderschoen nur leicht verzaubert:

Im Sommer wuchs das Gras hoch und verschlang den Nussbaum.
Im Winter verließen wir die Äste des Nussbaums, als wären wir Vögel, und zogen in warme Stuben.
"wie die Voegel" faende ich hier allerdings schicker als den Konjunktiv.
Und dann kommt immer wieder sowas Surreales reingegraetscht, was mir dann aufgesetzt wirkt, wie das mit der Zahnpasta und den gegessenen Wolken. Oder sowas, was aber nicht ganz so brutal ist:
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ... ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass dunkler Flieder nach reifen, roten Trauben duftet. Winterjasmin ist rosa, denke ich, und hell, doch sicher bin ich mir nicht.

Wir stellen Fragen nach dem Sinn, sagte er, und nach Gott, und am Ende wissen wir trotzdem nichts, aber wir hören trotzdem nicht auf, Fragen zu stellen, obwohl wir wissen, dass wir am Ende nichts wissen werden.
Und dann das. Ganz, ganz schade. So allgemeinphilosophisch und ganz und gar unsinnlich. Nicht interessant, viel weniger tief als alle Bilder zuvor. Da wird alles mit abstrakter Explizitheit plattgehauen. Das schadet dem Text in meinen Augen enorm.

Bedeckt vom Schnee sind alle Städte einsam.
Auch das. Verglichen mit dem neuen Bild des innen schwarzen Schnees wirkt das phrasenhaft banal.

Also, da sind durchaus ganz grossartige Saetze drin. Sprachlich und eben nicht nur da, sondern auch inhaltlich. Diese Verbindung ist mir ganz wichtig, denn sinnlos huebsche Wortreihen mag ich nicht. Aber da ist auch noch viel Halbgares drin, das die Begeisterung bei mir einigermassen truebt.

lg,
fiz

 

Juhu, fast so was wie eine Kontroverse ...

Also, hier werden ja immer wieder Texte abgeladen, die, vollkommen plotbefreit, vom Autor während irgendeines Gefühlsrausches heruntergehackt wurden. Das sehe ich hier aber nicht.

Zuerst - und vor allem - ist der Text dafür zu gut geschrieben. Da sind wirklich tolle - und sprachlich hübsch verpackte - Bilder drin:

Vielleicht ist auch Schnee von innen schwarz.
Im Sommer wuchs das Gras hoch und verschlang den Nussbaum.
Und so weiter.

Ob es eine Geschichte ist? Das ist schon schwieriger und hängt natürlich mal wieder von der Definition ab ... Aber eine Art "Handlung" lässt sich in jedem Fall erkennen. Für mich sieht sie etwa so aus: Die Protagonistin ist sehr von ihrer Großmutter und ihrer Kindheit mit dieser geprägt. Die Großmutter ist gestorben. Der Schock/die Trauer hat die Weltwahrnehmung der Protagonistin verschoben. Sie legt Blumen auf das Grab der Großmutter.

Nun ist ja nicht jedes Geschehen gleich eine Geschichte ... Aber lassen wir das. Jedenfalls gewänne der Text für die Handlung keinen Preis, ebensowenig für die Plotstruktur.

Was mich zu meinem Hauptproblem führt: Ob man mit solchen Texten nicht Pulver verschießt? Für mich wirkt das immer, als sei der gesamte Inhalt einer Schatzkammer einfach auf einen großen Haufen geschüttet worden. Da geht der Blick für das Einzelstück - und es gibt echte Juwelen in dem Text - verloren. Der Leser stumpft auch irgendwie ab.

Nun ist der Text ja noch so kurz, dass diese Abstumpfung sich in Grenzen hält. Trotzdem: Mich würde es eher reizen, die Sprachjuwelen in der Gesamtheit eines breiteren, wirklich erzählenden Textes bewundern zu dürfen. Das verlangt dem Autor noch mal ganz andere Fertigkeiten ab, als "bloße" Sprachmagie: Verständnis für Plotstrukturen, dramaturgische Finesse, Ausdauer auch ...

Und eben weil ich finde, dass hier wunderbare Worte um ihr Recht gebracht werden, hätte ich den Text nicht empfohlen. ;)

Grüße,
Meridian

 
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Die Frage nach der Geschichte wird hier im Forum meines Erachtens auch etwas zu dogmatisch behandelt. Im Grunde genommen muss eine Geschichte nicht erzählt werden. Es reicht, wenn es mir als Autor gelingt, sie im Kopf des Lesers anzustoßen, ohne sie selbst zu erzählen.

Ich bin mir sicher, dieses Beispiel einer preisgekrönte Kurzgeschichte aus dem 1. Weltkrieg der Liller Soldatenzeitung schon mal gebracht zu haben, mach das jetzt aber trotzdem noch einmal. Vorgabe für den damaligen Wettberwerb: Eine Geschichte mit nicht mehr als 300 Wörter.

Die Sieger-Geschichte:

Als Latrine haben wir eine große Grube. An ihrem Rand sind zwei Pfosten in die Erde geschlagen und mit einer Querstange verbunden. Eines Abends sägten wir die Pfosten an.
Das sind neunundzwanzig Wörter. Die übrigen zweihunderteinundsiebzig sprach der Feldwebel, nachdem er in die Grube gefallen war.

Rick

 
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Boah, ist das ne geile Story! Kopfkino! Danke für's wiedergeben, Rick. Inspirierend! Und schade, dass danach der Feldwebel im Original noch was sagte. Perfekter könnte die Geschichte nicht sein, so wie sie da steht, 29 Worte reichen manchmal.

 

Doch der Hunger ist groß und mein Gebiss ist stärker als der Widerstand. // Heute lese ich Zahnpasta. Ich creme das Zeitungspapier mit meinem Gesicht ein. // Ich habe Glück, denn ich bin frei von Trauma und Tradition.

Den Poeta laureatus der Russischen Revolutions- und Bürgerkriegsjahre,

lieber dot,

vermag ich nicht als Vorbild zu erkennen, denn katastrophale Zeitungsberichte zu lesen erzeugt einen andern Erfahrungshorizont, als Majakowski ihn je durchlebte. Es wäre zudem sehr erstaunlich, wenn einer nach Zeitungslektüre Selbstmord beginge. Da ginge es mir schlechter, wenn der Fischhändler seine Ware in der Blödzeitung einwickelte, dass mich vorm Fisch ekelte aufgrund der Lügennachrichten seiner Verpackung.

Wenn man aber heutige Nachrichten erfährt, kann man schon mal seelischen Schaden nehmen wie der Icherzähler dieser Geschichte i. d. S., wie ich sie verstehe: als erlebtes Geschehen der inneren Natur und / oder Umwelt. Beim ersten Lesen,

und damit erst einmal herzlich willkommen in der Anstalt,
liebe/r/s yleae (ich vermute einmal die sächliche Endung mit dem abschließenden s),

wurde ich an Veröffentlichungen eines Arztes aus den 1960-er Jahren erinnert, die – obwohl sie z. T. an damals futuristisch anmutende computererzeugte Gedichte und damit an zufallsgenerierte Sätze erinnerten, ohne dass sie es je gewesen wären – von seinen Patienten erzeugt wurden.

Manche Deiner Jugenderinnerungen (so will mir das „Totenbüchlein“ erscheinen) erinnert an Todesfa/elle von Kindern über Hunde bis zu Großeltern. Einiges wirkt poetisch und anderes geht daneben in der Formulierung.

Die Hal’sche (verhallte) Kritik

[d]as nächste große Tamm-Tamm, wa?. So ein Quatsch
halt ich für eher armselig und die Fortsetzung des Beinanpinkelns an anderer Stelle, nachdem eine Serie kindischer Briefe an Mama & Papa einerseits massenweise besucht und andererseits unbegreiflicherweise empfohlen wurde.

Der Geschichte gebricht’s an formalen Dingen:

… fruchtig - mit 10 Vitaminen …
kein Beinbruch, aber üblicherweise sollten die ersten zwölf Zahlen ausgeschrieben werden, also
… mit [zehn] Vitaminen ) …

Die m. e. scheinbar gehobene und formalisierte Sprache gewönne, wenn der Konjunktiv ohne würde-Konstruktion auskäme. Er verlöre ja nix an Würde:
Ich esse getrocknete Feigen, die knirschen, als würden sie sich dagegen wehren
hieße viel feiner:
Ich esse getrocknete Feigen, die knirschen, als [wehrten] sie sich dagegen […] .

Möbiliars -
interessante Konstruktion „Möbel“ auf „iar“ enden zu lassen. Aber es ist tatsächlich „mobil“, da es die bewegliche Habe meint (also auch Möbel); richtig also: Mobiliar!

Auf Zeile siebzehn der zweiten Seite, stirbt ein verwundetes Kind.
Das Komma ist eher entbehrlich, selbst wenn Du den Tod des einzelnen Kindes besonders hervorheben möchtest. Es sind zuvor ja schon
[v]iele Kinder […] gestorben.

Die Hervorhebung wäre in jedem Fall sinnvoller, wenn zunächst der Tod dieses einen Kindes und später der zahlreichere Kindertod beklagt würde. Es ist ohnehin festzustellen, dass ein einzelner Todesfall einen eher berührt als der massenhafte Todesfall.

Mein Vorschlag: Die Sätze austauschen! Der Einzelfall statt der vielen Fälle wäre zu erst zu melden!

Die eingeklammerte, gebrüllte Erinnerung erscheint mir sehr umständlich schon aufgrund unnötiger Verdoppelungen (Hilfsverben z. B.). Wandel es besser in wörtliche Rede um. Was kannstu dafür, wenn eine Deiner Figuren so spricht?
Vielleicht eleganter:

… ([d]as war in einem Dorf, das so klein ist, dass es auf keiner Landkarte vermerkt [wird], als der Nachbarshund noch lebte, der auch mal klein gewesen […], immer größer [wurde] und der [starb]), …
Aber das wäre nur eine Anregung.

... ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass dunkler Flieder nach reifen, roten Trauben duftet.
Besser Konjunktiv I: „dufte“.

Nun, nicht weltbewegend, was vielleicht durch Umstellungen sich ändern ließe (ein Beispiel hab ich genannt). Wie dem auch sei: neugierig macht's in jedem Fall!

Gruß

Friedel

 

Den Poeta laureatus der Russischen Revolutions- und Bürgerkriegsjahre,

lieber dot,

vermag ich nicht als Vorbild zu erkennen,

Ich, der dot, ja eben auch nicht,

lieber Friedel

und deshalb nehme ich an, du wolltest deine Worte eher an den/die AutorIn yleae richten?
:D

 

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