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Mitternachtssonne
Er rief aus Schweden an. Oder Norwegen. So glaubte ich damals. Weil das Erste, was er nach seinem Namen in jammerndem Tonfall sagte, als ich schlaftrunken das Gespräch annahm, war: „Es wird nicht dunkel hier.“
Ich kniff die Augen zusammen, um die Leuchtziffern des Radioweckers auch ohne Brille ablesen zu können. Es war zwei nach zwölf. Seine Fahrten brachten ihn schon mal bis dicht an den Polarkreis, hatte ich gehört. Und wo sonst wurde es Anfang Juli nicht dunkel um Mitternacht? Also fragte ich nicht, wo er war, raunzte nur schlechtgelaunt „hier schon“ ins Telefon. Denn in meinem Schlafzimmer war es stockfinster, ich hatte beim Tasten nach dem Smartphone in die offene Nachtcremedose gegriffen und verteilte die fettige Paste nun in jede Ritze des Plastikgehäuses.
Auf meinen Tonfall reagierte er nicht, bat stattdessen: „Erzähl mir von früher.“
„Kannst du nicht schlafen?“
Keine Antwort.
„Was willst du denn hören?“
„Was dir so einfällt. Von uns beiden. Damals.“
Verwirrt und noch immer im Halbschlaf begann ich zu erzählen. Vom Anfang. Tinas Geburtstagsfeier. Unser Nachhauseweg danach. Wie er neben mir herging und von Tina schwärmte. Und ich ihn trat. Und er mich küsste.
Während all das aus mir heraussprudelte, dachte ich: Ist er allein? Oder liegt da eine Greta oder Inga neben ihm, jung, langbeinig, vom Liebesspiel erschöpft, an die Mitternachtssonne gewöhnt und deshalb in tiefstem Schlummer, aus dem er sie nicht reißen will, weswegen er mich anruft?
Selbst wenn es so war und er sich gerade gedankenverloren einen hellblonden Haarstrang um den Finger wickelte, ich fühlte mich geschmeichelt. Dass es immer noch Momente in seinem Leben gab, in denen er zuerst an mich dachte, wenn er jemanden zum Reden brauchte.
Aber bevor ich das sagen konnte und wie schön es war, seine Stimme zu hören, unterbrach er mich mitten im Satz und sagte nur noch: „Danke.“ Dann legte er auf.
In der nächsten Nacht rief er wieder an. Sagte erneut, dass es nicht dunkel würde. Und bat mich zu erzählen. Und in der Nacht darauf ebenfalls. Von da an blieb ich jeden Abend bis Mitternacht wach, ließ das Nachttischlämpchen brennen, wartete auf den Klingelton, der stets pünktlich ertönte. Und kramte wie süchtig alle Einzelheiten hervor, die ich nie hatte vergessen können. Die gemeinsamen Fahrstunden. Der erste Sex. Die Leitung rauschte. Ich hörte ihn nicht einmal atmen. Fragte hin und wieder: „Hörst du noch zu?“
Dann brummte er nur oder sagte: „Ja.“ Und immer nach einer Stunde bedankte er sich und hängte ein.
Nie kam ich dazu, ihm zu sagen, wie sehr ich unsere Trennung bereute.
Als es August wurde, begann ich zu zweifeln. War es gesund, so in Vergangenem zu schwelgen? Der fehlende Schlaf zehrte an mir. Meine Kollegen fingen an, mich sorgenvoll anzustarren. Ich nahm mir zwei Wochen frei. Konnte morgens ausschlafen. Aber die Zweifel blieben.
Dann, eines Nachts kurz vor zwölf, streifte mein Blick unwillig das Smartphone. Sollte ich es ausschalten? Unerreichbar sein, so wie er es für mich war? Denn wie auch immer er das schaffte: Seine Anrufe hinterließen keine Spuren, in der Liste der angenommenen Gespräche tauchten sie nicht auf.
Einmal, in der vierten oder fünften Nacht, hatte ich gefragt: „Wo steckst du gerade?“, und auf einen Ortsnamen gehofft.
Aber er hatte nur gesagt: „Wo es nicht dunkel wird.“
Ich hatte ihn nicht bedrängen wollen, ich hatte gewollt, dass er weiterhin anrief. Doch nun gingen mir die schönen Erinnerungen aus. Bald würde ich den Schluss erzählen müssen. Und wie banal es zu Ende gegangen war. Mir graute davor.
Als es klingelte, ich abhob und ihn sagen hörte: „Es wird nicht dunkel hier“, als wäre das eine Art Begrüßung, da sagte ich gereizt: „Sag mal, hältst du mich für doof? Es ist Ende August, da muss es doch überall dunkel werden um Mitternacht.“
Für eine Weile hörte ich nichts außer Rauschen und Knistern, dann wie von fern, leiser als sonst, bat er: „Bitte, erzähl mir von früher!“
„Nein“, sagte ich. „Erst will ich wissen, wo du bist. Oder ich leg auf.“
Und noch ferner, fast nicht mehr zu verstehen, kam es aus der Leitung: „Bitte, leg nicht auf!“ Danach lange nichts.
Ich legte auf.
Er rief nicht wieder an. Zwei Nächte lang war ich froh darüber. Dann begann es an mir zu nagen. Hatte ich den gleichen Fehler gemacht wie damals? Ihn zu einfach aus meinem Leben verschwinden lassen?
Ich beschloss, ihn zu suchen. Telefonierte gemeinsame Bekannte ab. Niemand hatte in den letzten Wochen von ihm gehört. Irgendjemand gab mir den Tipp mit der Spedition, bei der man ihn zuletzt beschäftigt wusste.
Als ich dort anrief und seinen Namen nannte, fragte eine vorsichtige Stimme: „Wie standen Sie denn zu Herrn Klein?“
Ich stutzte: „Standen?“ Log: „Er ist mein Cousin.“
Aus dem Hörer drang steifes Bedauern: „Es tut mir sehr leid. Wir dachten, die Angehörigen seien informiert – “