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Mit den Augen einer Hexe

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14.10.2001
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Mit den Augen einer Hexe

Mit den Augen einer Hexe

Werde ich jemals wieder herausfinden? Dornige Ranken haken sich an meiner Kleidung fest. Dürre Zweige reißen an meinen langen Haaren. Struppiges Buschwerk versperrt mir den Weg. Bäume legen knorrige Fußangeln nach mir aus. Nacht senkt sich auf mich wie ein Tuch, unter dem ich gefangen bin. Um mich herum knackt, raschelt und wispert es. Fremdes lauert überall. Das ist nicht der freundliche, sonnige Wald, in den ich hineingegangen bin. Das ist der düstere Wald der Märchen, der Unheil in sich birgt.
In der Ferne sehe ich ein kleines Licht. Es schwankt, hin und her, hin und her, so als ob es mich zu sich heranlocken wollte. Ich stolpere weiter. Ich muss das Licht erreichen. Ich will nicht, dass die Dunkelheit mich ganz auswischt.
Das Licht bewegt sich sehr schnell. Ich renne, ich keuche. Plötzlich erstarrt es. Ich haste weiter. Der Lichtpunkt hängt ganz still in der Schwärze des Waldes. Noch ein paar Schritte. Undeutlich erkenne ich einen sehr kleinen, sehr hässlichen und sehr alten Mann. Er hebt seine Laterne und leuchtet mir damit prüfend ins Gesicht. Ich muss blinzeln. Dann gleitet der Lichtstrahl an mir herunter. Irre ich mich, oder spüre ich Lüsternheit?
Mit der Hand berührt er mich leicht am Arm. „Folge mir!“, befiehlt seine dünne, brüchige Stimme. Ich gehorche. Habe ich eine andere Wahl?
Der uralte Mann ist erstaunlich leichtfüßig. Ich habe Mühe mitzukommen. Schließlich erreichen wir eine verfallene Holzhütte.
„Tritt ein!“, sagt die Greisenstimme. Die Tür knarrt und stöhnt.
Ich überschreite die Schwelle und muss geblendet die Augen schließen. Als ich sie wieder öffne, bin ich in einer anderen Welt. Diese Pracht erdrückt mich fast. Die Wände sind mit Holz vertäfelt. Schwere Kristalllüster hängen von der hohen, mit barocken Gemälden verzierten Decke. In der Mitte des Raums steht eine lange Tafel. Eine Hand legt sich auf die makellos weiße Damasttischdecke. Plötzlich bemerke ich, dass zwei Gedecke aufgelegt sind: ich sehe funkelnde Kristallgläser, goldenes Besteck, wertvolles Porzellan und mit Perlen und Edelsteinen besetzte Serviettenringe.
„Setz dich!“, fordert mich eine junge Stimme auf. Erstaunt blicke ich mich um. Der Alte ist verschwunden. Vor mir steht ein Jüngling. Sein Gesicht ist bleich, und seine rabenschwarzen Locken reichen ihm bis zu den Schultern. Er trägt einen nachtfarbenen, reich bestickten Seidenumhang mit weißem Pelzbesatz.
Ich sinke in die weinroten Samtpolster eines Stuhls mit verschnörkelten Armlehnen. Im Hintergrund weben schmeichelnde Geigenklänge eine süßliche Melodie. Der Jüngling setzt sich zu mir. Er legt seine Hände auf den Tisch. Plötzlich stehen dampfende Schüsseln und glitzernde Karaffen vor uns. Der Jüngling bedient mich. Er schenkt mir ein. Ich trinke, ich esse. Ich kenne die Speisen und Getränke nicht, doch ich weiß: noch nie habe ich Köstlicheres geschmeckt. Mein Gastgeber spricht. Gebannt höre ich ihm zu. Aber ich vergesse sofort, was er sagt.
Schließlich erhebt sich der Jüngling. Er tritt neben mich und legt mir die Hand auf die Schulter. Verlangen wallt in mir auf. Ja, ich liebe ihn. Ich will ihn. Er will mich auch. Das lodernde Kaminfeuer lässt Hitzefinger über meinen Körper gleiten. Das Fell, auf dem wir liegen, streichelt meine nackte Haut. Ich genieße.
„Ich möchte dir danken“, sagt der junge Mann schließlich, und ich begreife, dass ich gehen muss. Aber ich bin gar nicht traurig.
„Du sollst ein Geschenk bekommen. Hör mir gut zu!“ Ich lausche atemlos. Es ist das merkwürdigste Geschenk, das ich je erhalten habe. Genau genommen sind es drei Geschenke. Und ich habe drei Tage Zeit.
Kalter nasser Wind fährt mir plötzlich ins Gesicht. Wie aus einem tiefen Traum schrecke ich hoch. Ich stehe auf einer Lichtung. Feiner Nieselregen durchweht die Luft wie Nebelschwaden. Verschwunden ist die Holzhütte, die ein Palast war. Verschwunden ist auch der Greis, der ein schwarzgelockter Jüngling war. Was ist Wahrheit, und was ist Schein?
Ich breche auf. Im grauen Licht des frühen Morgens kann ich genau sehen, wie der Pfad verläuft. Eins kann ich jedoch nur ahnen: wohin mich die Kraft führen wird, die mir der Hexenmeister verliehen hat. Auf dem Weg zurück in mein enges, kleines Heimatdorf schweifen meine Gedanken weit. Wem soll ich etwas wünschen? Und was?
Je länger ich unterwegs bin, desto klarer wird es mir. Ich liebe nur einen Menschen auf der Welt, und zwar mich selbst. Alle anderen sind mir gleichgültig – bis auf zwei Ausnahmen: Vater und Paul. Ich kann nicht sagen, welchen von beiden ich mehr hasse. Und nun habe ich drei Tage lang Macht. Ich bin Racheengel, Rachedämon, gestaltgewordene Rache, die niemand aufhalten kann.
Ich bin lange unterwegs, aber ich fühle mich nicht müde. Je näher ich unserem Hof komme, desto mehr scheint die Luft um mich herum zu vibrieren. Es ist, als ob meine geheimnisvolle Kraft mich einschließen würde wie in eine Luftblase.
Endlich erreiche ich den Hof und schleiche mich ins Haus. Aber ich begegne Vater nicht. Er arbeitet auf dem Feld. Vom Fenster meines Zimmers aus kann ich ihn sehen – einen kleinen schwarzen Punkt im gelben Weizenfeld.
Ich muss jemanden nur berühren, so hat der Hexenmeister gesagt, und schon geht alles in Erfüllung, was ich mir für diese Person wünsche.
Mit Abscheu beobachte ich den kleinen schwarzen Fleck. Es ist nichts als ein Stückchen Dreck. Ungeziefer, abstoßend und ekelerregend.
Was soll ich Vater wünschen? Soll ich ihn dazu verfluchen, seine Ewigkeit in der Hölle zu verbringen? Aber was hätte ich davon? Und kann ich wirklich sicher sein, dass es im Jenseits auch eine Hölle gibt? Auf keinen Fall will ich einen der drei Wünsche vertun, die der Hexenmeister mir gewährt hat! Oder soll ich Vater zu grenzenloser Qual auf dieser Erde verdammen? Zu Pein und unerträglichen Schmerzen, hundert Jahre lang und länger? Nein! Ich will ihn loswerden, ein für alle Mal! Er hat mich in dieses alte Haus eingesperrt wie in ein Gefängnis. Er hat meine Zukunft zunichte gemacht. Er hat mich bedroht mit Worten und Taten und mich gezwungen, ihm zu gehorchen. Aber jetzt will ich endlich frei sein, mich entfalten, leben. Und deshalb muss er sterben.
Mein Herz beginnt zu klopfen, als ich sehe, dass der kleine schwarze Punkt zunächst fast unmerklich zu wachsen beginnt wie schwarzer Krebs. Aber jetzt sehe ich es ganz deutlich: Vater nähert sich dem Haus. Meine Fingerspitzen beginnen zu stechen. Ich spüre förmlich die Hexenkraft darin. Wie soll ich vorgehen? Ihm die Hand schütteln? Mit Gewalt seinen Arm festhalten? Meine Hände um seinen Hals legen? Und vor allen Dingen: was soll ich zu ihm sagen, damit er auch wirklich begreift, dass er nur stirbt, weil ich es will?
Die Hintertür öffnet sich knarrend und fällt geräuschvoll ins Schloss. Polternde Schritte sind auf der Treppe zu hören. Meine Zimmertür wird aufgerissen. Dahinter stehe ich. Ich springe hervor. Vater erschrickt. Ich schlage die Tür zu und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Mein Hass entweicht aus meinem Mund wie leises Zischen.
„Habe ich dich endlich!“
„Wo warst du?“
„Jetzt wirst du sterben.“ Ich strecke meine Arme aus. Meine Hände formen sich zu Klauen.
„Was soll das?“
Der Hass erstickt mich fast. Meine Augen ziehen sich zu engen Schlitzen zusammen. Mein Blick vernebelt sich. Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Unwillkürlich weicht er zurück.
„Lass das!“
Ich stehe vor ihm. Meine Arme umklammern ihn. Er will sich losreißen. Beinahe wäre es ihm gelungen. Aber meine Fingernägel krallen sich tief in sein Fleisch. Meine Stimme ist nur noch ein heiseres Flüstern.
„Ich hasse dich. Und deshalb töte ich dich. Ich wünsche mir, dass dein Herz aufhört zu schlagen.“
Er stöhnt laut auf. Ich trete zurück. Seine Hände greifen ins Leere. Er beginnt zu schwanken. Dann bricht er zusammen. Er liegt auf dem Boden vor meinen Füßen. Seine weit aufgerissenen Augen überziehen sich mit einem schleierdünnen Film. Ich bohre eine Fußspitze in seinen leblosen Körper. Im Tod sieht er fragend zu mir auf.
Ich setze mich auf einen Stuhl und betrachte ihn. Es tut gut, ihn so still und tot zu sehen. Und was noch besser ist: niemand wird mich verdächtigen. Wer käme auch auf den Gedanken, dass ich hexen kann? Man wird eine natürliche Todesursache feststellen. Aber ich werde den Arzt erst später rufen. Morgen vielleicht. Erst habe ich noch Wichtigeres zu tun.
Ich gehe in die Küche hinunter und mache mir eine Tasse Kräutertee. Bin ich zufrieden? Nein, nicht ganz. Es war zu einfach. Es ging viel zu schnell. Ich konnte es nicht voll auskosten. Das muss anders werden bei Paul.
Genussvoll schlürfe ich das heiße Getränk und denke an ihn. Wie sehr habe ich ihn geliebt! Seine Augen sind so tiefblau, dass es mich jedes Mal mit atemlosem Staunen erfüllte, wenn er mich ansah. Seine kräftigen Arme, sein Geruch, die dunkle Stimme, all das erweckte in mir dasselbe drängende Verlangen, das ich auch in jener Nacht verspürte, die ich mit dem Hexenmeister verbrachte. Und wenn ich jetzt an Paul denke, dann ist dieses leise, hartnäckige und quälende Sehnen immer noch da.
Es gab eine Zeit, in der es auch für ihn nichts Schöneres gab als mich. Ungeduldig zog er mich immer mit sich fort, sobald ich den Hof betrat. Ich schließe meine Augen und erinnere mich an den süßen, würzigen Geruch des Heus und das warme Halbdunkel der Scheune. Unter meinen Lidern beginnt es heiß zu brennen. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ich will nicht weinen um Paul, der mich verlassen hat. Ich will mich lieber auf das verheißungsvolle Kribbeln in meinen Fingerspitzen konzentrieren.
Ich nehme noch einen Schluck Tee. Er ist inzwischen kalt geworden. Ich denke noch immer daran, wie es damals war mit Paul. Wie wir redeten. Ich sehe ihn vor mir, wie er seinen Kopf zurückwirft und lacht. Dieses unbändige Lachen, es fehlt mir! Das Gefühl von Sehnsucht schwillt in mir, bis es mich ganz ausfüllt. Aber es ist eine Sehnsucht, die ins Leere geht, denn Paul hat mich fortgejagt. Und dafür muss er jetzt sterben. Ich werde ihn töten. Ich habe die Macht.
Ich trete ans Fenster. Mein Blick sucht den Weg, der zu seinem Gehöft führt. Ich sehe mich selbst, wie ich ihn entlang stolpere an jenem Abend, blind von Tränen und von dem Regen, der mir ins Gesicht schlägt, innerlich wund von diesem rohen Schmerz. Paul hatte mich von seinem Hof gejagt. Ich wollte ihn anlügen und ihm erzählen , ich hätte das Kind verloren. Aber ein Blick in meine Augen genügte ihm, um die Wahrheit darin zu lesen. „Du hast unser Kind getötet!“, hatte er geschrieen. „Gegen meinen Willen hast du es getan! Das werde ich dir nie verzeihen!“
Aber eigentlich war es doch Vaters Schuld! Als ich ihm sagte, dass Paul und ich in ungefähr einem halben Jahr ein Kind bekommen und bald heiraten würden, geriet er ganz außer sich. Er beschimpfte mich, nannte mich eine Hure und schlug mich, wieder und immer wieder. "Diese Schande!", schrie er. "Alle werden erfahren, was für eine Schlampe du bist!" Vater hat mich dazu gezwungen.
Und ich? Ich hatte zwar nachgegeben, als ich sah, wie sehr Paul sich auf das Baby freute. Aber wollte ich wirklich ein Kind, das sich zwischen ihn und mich drängen und uns die Zeit stehlen würde, die wir doch für uns brauchten? Habe ich es also nicht auch für ihn getan? Habe ich nicht auch an Paul gedacht, als ich mich zu dem kleinen Haus schlich, das ganz versteckt im tiefen Tann liegt? Als ich der alten Frau, die dort schon seit langem ihr heimliches Handwerk ausübt, meine ganzen Ersparnisse gab? Habe ich nicht auch um unserer Liebe willen all diese Schmerzen erlitten?
Aber Paul hatte das nicht verstanden. „Du bist eine Mörderin!“, hatte er geschrieen. „Ich will dich nie, nie mehr im Leben wiedersehen!“
Das alles ist nun schon über ein Jahr her. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Er geht mir aus dem Weg. Und ich habe angefangen, ihn abgrundtief zu hassen. Er hat mein Leben genauso zerstört wie Vater. Jetzt spüre ich sie wieder in meinem Kopf, die glühenden Nadeln des Hasses, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Meine Fingerspitzen brennen, und dieses Gefühl gefällt mir.
Morgen wird er sterben. Ich weiß nur noch nicht genau, wie.
Ich lege mich auf das Sofa im Wohnzimmer und schließe die Augen. Die ganze Nacht liege ich da und grüble. Bis ins kleinste Detail will ich alles durchdenken. Langsam reift der Plan in meinem Kopf.
Ich werde ihn überrumpeln. Ich werde zu ihm hingehen, und ehe er es sich versieht, werde ich ihn umarmen und ein allerletztes Mal küssen. Aber während meine Hände sein Gesicht streicheln, werde ich wünschen, und es wird geschehen. Ein Kind soll Paul töten, das Kind, das er unbedingt haben wollte. Ich sehe es vor mir, wie es sich auf seine Brust setzt und schwerer und immer schwerer wird, wie es auf ihm lastet wie ein Felsbrocken, der das Leben langsam, ganz langsam aus ihm herauspresst. Ich werde genüsslich dabei zusehen und zu Paul sagen: „Du hast es nicht anders gewollt.“ In den letzten Augenblicken seines Lebens wird er begreifen. Und endlich bereuen.
Wird es gelingen? Was könnte diesen Plan vereiteln? Was sollte ich zum Beispiel tun, wenn Paul gar nicht da wäre? Unsinn! Noch zwei Tage lang werde ich Hexenkraft besitzen. Mein Wille wird geschehen. Ich bin stark.
Schon bei Sonnenaufgang breche ich auf. Es drängt mich, mein Werk zu vollenden. Während ich den immer noch vertrauten Weg entlanggehe, frage ich mich, ob ich eine böse oder eine gute Hexe bin. Bin ich böse, weil ich töte? Oder bin ich gut, weil ich Gerechtigkeit walten lasse?
Verblüfft bleibe ich plötzlich stehen. An einen Menschen habe ich ja bisher noch gar nicht gedacht! Die allerwichtigste Person habe ich bisher vergessen. Mich selbst! Feierlich lege ich mir die rechte Hand auf die linke, und die linke Hand auf die rechte Schulter. Mir wird ganz warm. Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Mit fester Stimme sage ich: „Ich wünsche mir, dass ich immer glücklich sein werde!“ Als ich die Augen wieder öffne, habe ich das Gefühl, als schiene die Sonne noch strahlender als vorher, als wäre das Blau des Himmels tiefer, als blühten die Blumen üppiger und als sängen die Vögel lauter und fröhlicher. Die Farbenpracht, der betörend schwere Duft und die ganze fast überirdische Schönheit um mich herum überwältigen mich. Ich bin sicher: der Zauber hat gewirkt. Beschwingt gehe ich weiter.
Hinter der Wegbiegung kommt Pauls Hof in Sicht. Die Luft beginnt zu schimmern und wie in Hitze zu flirren. Ich sehe Schlieren, verzerrte Linien. Meine Hände ballen sich zu Fäusten.
Ich betrete den Hof. Das Tor zur Scheune öffnet sich. Ich erkenne Pauls hochgewachsene Gestalt.
„Du bist es!“, sagt Paul erstaunt.
„Ja, ich bin es.“ Meine Stimme klingt ganz dunkel. Ich habe eine Gänsehaut. Ich beginne zu zittern. Jetzt müsste ich ihn umarmen, ihn küssen. Aber es geht nicht. Da ist etwas. Ich kann mich nicht mehr rühren, meinen Blick nicht abwenden. Von hinten nähert sich auf unsicheren Beinen eine kahlköpfige Gestalt. Nein, es ist nicht der uralte Mann.
Das Wesen ist wohlgenährt. Es trägt nur eine Windel. Jetzt erkenne ich: es ist ein Baby, ein großes Baby, das schwankend auf uns zukommt. Wieso ist es so groß? Wieso ist es so groß wie ich? Ich habe doch noch gar nicht ...
Das Kindwesen bleibt dicht vor mir stehen. Es riecht stark nach säuerlicher Milch. Speichel rinnt ihm wie ein elastischer Faden aus einem Mundwinkel. Seine dünnen Lippen sind zu einem Lächeln verzogen, und ich sehe einen einzelnen Zahn in seinem Oberkiefer. Es streckt seine speckigen Arme nach mir aus. Als mich seine tastenden, ungeschickten Händen berühren, falle ich hilflos auf den Rücken.
Ich höre so etwas wie Kinderjauchzen. Das Atmen wird mir schwer. Auf meiner Brust sitzt die Ausgeburt. Sie stemmt ihre Fäuste in mich hinein. Sie sieht auf mich hinunter und lacht. Da durchfährt es mich wie ein Schlag. Es sind meine eigenen Augen, in die ich da blicke.
Über mir schwimmt Pauls entsetztes Gesicht. Warum hilft er mir nicht? Jetzt weiß ich: er kann es nicht. Die Hexe bin ich.
Jeder Atemzug ist mühsamer als der vorhergehende. Ich kann nicht mehr klar denken. „Ich will, dass du gehst!“, wünsche ich verzweifelt und mit aller Kraft, die ich noch aufbringen kannst. „Ich will, dass du gehst!“
„Das kann ich nicht“, höre ich eine Stimme in meinem Kopf. „Du selbst hast mich gerufen. Ich erfülle nur deinen Wunsch.“
Ich verstehe nicht. Ich keuche, ich röchele. Der Druck auf meiner Brust wird schier unerträglich. Von allen Seiten kriecht Dunkelheit in mein Blickfeld. Ich sehe in einen immer enger werdenden Tunnel. Er führt geradewegs zu einem höllischen Baby, das meine Augen hat.
Der Lichtpunkt am anderen Ende des Tunnels wird immer schwächer. Der Schmerz in meiner Brust vernichtet mich. Meine Augen in dem Gesicht des Kindes lächeln. „Du kannst nicht glücklich sein“, sagt die Stimme, „wenn du ihn tötest.“
Da begreife ich. Das Herz in meiner Brust zerspringt.

 

Hi Jakobe,

ich weiß nicht ganz, was ich zu der Geschichte schreiben soll. Ich finde sie zwar nicht rundum gelungen, weiß aber nicht ganz, was genau ich zu meckern habe.

Ich glaube, das, was mich stört, ist der Zeitkonflikt. Einerseits kommt mir die Geschichte sehr mittelalterlich vor - andererseits weiß der Mann, dass sie das Kind getötet hat? Diese Unlogik solltest du ausbügeln. Ihr Vater hat sie also zum Abtreiben gezwungen? Wenn ja, wie hat der Mann davon erfahren? Auch, wenn sie schon schwanger genug war, als dass man es ihr ansehen konnte, hat sie ihm nicht gesagt, dass sie das Kind verloren hätte?
Darauf solltest du näher eingehen.
Ein weiterer Punkt ist die mangelnde Rektion ihrerseits, als sie erzählt, dass sie abgetrieben hat. Irgendeine Emotion in Bezug auf das Kind sollte doch noch übrig bleiben? Warum gehst du darauf nicht ein?

Ansonsten Daumen hoch!
Vita

 

Liebe Vita,
vielen Dank für deine Anregungen, die ich gerne aufgegriffen habe. Ich habe den Abschnitt, in dem es um die Abtreibung geht, noch weiter ausgebaut. Wenn du Lust hast, lies ihn doch noch mal und schreibe mir, was du davon hältst!
Viele Grüße
Jakobe

 

Hmm, jetzt gefällt er mir besser :)
Wobei ich mich immer noch frage, warum sie ihm nicht irgendeine Lügengeschichte erzählt hat, wie sie das Kind verloren hat - Frühgeburt, oder so.
Aber okay, das vernachlässigen wir einmal.

LG, Vita

 

Hallo Jakobe!

Da hast du aber eine Rachefantasie von der Kette gelassen! Passt gut zu Weihnachten und gefällt mir!
Ein Schlüsselsatz ist, wie ich glaube: "Du kannst nicht glücklich sein", sagt die Stimme, "wenn du ihn tötest." Sie liebt Paul noch immer, hätte ja beinahe um ihn geweint, es ist Hassliebe. Sie ist gespalten in eine Frau, die ihn hasst und töten will, und in eine, die ihn liebt und bewahren will. Und die ihn liebt, ist Teil von ihr wie auch das Ungeborene Teil von ihr war bis zur Abtreibung/Abspaltung. Und der Seelenteil, der ihn liebt, ja er wünscht, zaubert und hext, obwohl mehr oder weniger gut verdrängt, kräftig mit. Und sie ist wohl auch gespalten in eine, die ihr Kind loswerden wollte, und in eine, die es liebt, behalten will und es zurückwünscht (denn dass eine Mutter ihr Kind nur hasst, ist unmöglich).
Alles ist so unlösbar ineinander verworren. Eine beeindruckende Geschichte!

LG gerthans

 

Lieber Gerthans,
Es gefällt mir, wie du die Geschichte interpretiert hast. Um ehrlich zu sein, an all das habe ich überhaupt nicht gedacht, als ich die Geschichte schrieb. Aber ich finde deine Interpretation sehr überzeugend. Vielen Dank1
LG Jakobe

 

Liebe Vita,
ich überlege gerade: Man könnte den Aspekt, den du kritisierst, vielleicht auch noch abändern. Allerdings frage ich mich, ob man nicht vom eigentlichen Thema abkommt, wenn man hier zu sehr ins Detail geht? Man muss abwägen: für den Gang der Geschichte ist dieser Punkt sicher nicht entscheidend, aber es müssen andererseits auch alle Einzelheiten in einer Geschichte in sich stimmig sein. Ich denke drüber nach! Nochmals vielen Dank!
LG, Jakobe

 

@vita:

Du empfiehlst also eine "Lügengeschichte"? Hmmm. - EIne Frau scheint damit keine Probleme zu haben. Darf ich als Mann dies verallgemeinern oder soll ich das einfach mal so stehen lassen? - Naja, nichts für ungut.

Übrigens, die ganze Story beinhaltet noch viel Unerwähntes, was auf wichtige Charakterprobleme bei allen Beteiligten zurückschließen läßt. Möge jeder eine Moral daraus ziehen.

Schöne Grüße,
ababwa

 

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