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Milo und Franziska und Lucie
Milo starrte auf seine Hände. An der Linken eine Brandwunde auf dem Handrücken, da und dort kleine Kratzer, der Daumennagel blauschwarz und am Handgelenk der Rechten eine kaum verheilte Abschürfung. Ziemlich zerschunden, die armen Pfoten. Ganz zu schweigen von dem traurigen Stummel des rechten Ringfingers. Er drehte die Hände und betrachtete die schwieligen Handflächen. Für einen Augenblick war er von einer verrückten Vorstellung fasziniert: Was wäre, fragte er sich, hätte er die unzähligen kleinen Verletzungen, die er sich im Laufe des Lebens zugezogen hatte, jetzt alle auf einmal? Von den aufgeschlagenen Knien der Kindheit über die blutigen Lippen nach den jugendlichen Raufereien bis zu dem abgerissenen Finger im vorletzten Winter. Wie sähe er aus? Wohl kaum wie ein Held der Arbeit, vermutlich eher wie das Folteropfer eines Irren, wie ein lebender Toter aus einem Zombiefilm. Wäre die Summe aller je erlittenen Schmerzen überhaupt zu ertragen? Oder würde er brüllen wie am Spieß?
Milo mochte seine Hände. Sie sähen aus, wie von Egon Schiele gezeichnet, hatte Franziska oft gesagt und war dabei mit ihren Fingern sanft die Venen auf seinem Handrücken nachgefahren. Und Lucie hatte als kleines Kind gemeint, seine Fingerkuppen fühlten sich an wie Baumrinde.
„Du bist so kratzig wie ein Baum, Milo“, hatte sie gesagt.
Aber war er auch so stark wie ein Baum, so standhaft?
Mal sehen, wie stark er wirklich war. Noch könnte er einfach aufstehen und sich aus dem Staub machen, sich in den Fiat setzen und weiß Gott wohin verschwinden. Im Kofferraum hatte er seine Schweißgeräte und in der Hosentasche gut viertausend Euro. Arbeit fände er überall, Männer wie er wurden immer gebraucht. Er starrte in die Baumkronen.
In dem Eisenkäfig neben der Parkbank kickten ein paar Türkenbuben, sie droschen einen Fußball gegen die Gitterstäbe, als ginge es um ihr Leben, und das höllische Scheppern jagte Milo Schauer über den Rücken. Ein Geräusch …
… wie das eines schleudernden Wagens, der sich funkenstiebend unter den Motorblock eines Fernlasters schiebt …
… ein Geräusch wie aus einem Alptraum.
Der Tormann, ein höchstens zwölfjähriges Bürschchen, qualmte eine Zigarette und blickte Milo herausfordernd an.
„'s guckst‘n deppat, Alda, he?“
„Warum soll ich nicht dumm gucken, wenn ich in so einer Welt leben muss, du Klugscheißer, ha?“
Außerdem hängt an allem ein Preiszettel dran in dieser Welt, wirst früh genug draufkommen, kleiner Blödmann. Das sagte Milo nicht mehr laut, es lohnte sich nicht. Er steckte sich eine Zigarette an und sah auf die Uhr. Jetzt müsste sie jeden Augenblick auftauchen. Er rauchte und beobachtete nervös den Hauseingang.
Als er endlich den struppigen Blondschopf entdeckte, stockte ihm für einen Moment der Atem. Verhalten pfiff er ihre Melodie. Lucie hob den Kopf, sah verwirrt um sich und erblickte ihn. Sie ließ den Geigenkoffer fallen, rannte auf ihn zu und flog ihm in die Arme.
„Milo!“ Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie klammerte sich an ihn, als wolle sie ihn nie mehr loslassen.
„Wo warst du so lange?“, schluchzte sie.
„Da und dort. Aber jetzt bin ich ja da.“
„Und wie lange?“
„Ganz kurz nur …“
Sie blickte ihn entsetzt an.
„… wir fahren nämlich weg, wir zwei.“
„Was? Wohin? … Zum Opa nach Wien?“
„Willst du?“
„Na ja … weiß nicht. Müssen wir?“
„Nein. Du sagst mir, wo du hin willst.“
„Und wie lange fahren wir weg?“
„Solange du willst.“
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte zu grinsen.
„Aber ich muss doch zur Schule.“
„Ach mein Schatz, Schulen gibt’s doch überall.“
Eine Spazierfahrt waren die siebenhundert Kilometer wahrhaftig nicht. Noch bevor sie die slowenische Grenze erreichten, setzte Regen ein. Und dann goss es in Strömen, Stunde um Stunde ohne Unterbrechung, eine wahre Sintflut, als stünde das Ende der Welt bevor.
Milo schlich dahin wie ein Fahrschüler, konzentriert und mit zusammengekniffenen Augen, und der kleine Fiat schlingerte durch die Gischt wie ein Boot, mehr als achtzig Sachen waren beim besten Willen nicht drin. Manchmal hielten ihn Fernlaster auf, und Milo hasste es, sie zu überholen. Hätte Lucie nicht pausenlos gequasselt und ihn mit ihren Späßen abgelenkt, wäre er übergeschnappt, er hätte eine Kippe an der anderen angesteckt und an den Fingernägeln gekaut oder sich die Lippen blutig gebissen.
Andererseits, wenn er es recht besah, rettete ihnen dieses Hundewetter womöglich das Leben, bei trockener Straße hätte es kein Halten für ihn gegeben, vermutlich wäre er gerast wie ein Irrer, als säßen ihm alle Dämonen der Hölle im Nacken. Der Wagen wäre vielleicht schon längst aus einer Kurve geflogen, wäre in einem Abgrund zerschellt oder hätte sich unter den Motorblock eines entgegenkommenden 36-Tonners gebohrt …
… und sich mit dem zu einer untrennbaren Einheit vermählt, eine bizarre Metallskulptur erschaffend in einem winzigen Augenblick, in so lächerlich kurzer Zeit, wie eine Haselmaus braucht, um mit der Wimper zu zucken. Sekundenbruchteile nur. Franziska aus dem Wrack zu schneiden, hatte beinahe eine Stunde gedauert, eine halbe Ewigkeit, die Feuerwehrmänner fuhrwerkten mit der Bergeschere herum und fluchten leise vor sich hin, während er die ganze Zeit ihre Hand hielt und sie ihn anschaute. „Du passt mir auf Lucie auf“, sagte sie, „immer, versprich mir das.“ Und das war keine Bitte, kein flehentlicher letzter Wunsch, das war eine Feststellung. Bis zuletzt hatte sie ihn angeschaut …
… Milo strich sich die Haare aus der Stirn und kaute auf der Zigarette, die seit Stunden zwischen seinen Lippen baumelte. Eine Rauchpause war längst fällig, aber er fühlte sich, als säße er auf glühenden Kohlen. Die Sache war nun mal kein Ladendiebstahl, da gab es nichts zu beschönigen. Entführung wäre wohl das Mindeste, das sie ihm vorwerfen würden. Wenn nicht gar Schlimmeres, da konnte ihn Lucie hundertmal Papa nennen, sich an ihn klammern und heiße Tränen vergießen. Er wusste nur zu gut, dass mit Franziskas Vater nicht zu spaßen war, dass man sich nicht ungestraft mit Leuten wie ihm anlegte. Herr Ministerialrat Hofinger, diese Säule der Gesellschaft, ein Kavalier alter Schule, in Wahrheit ein Pharisäer wie aus dem Buche, ein erbärmliches, seelenloses Arschloch, und derart arrogant, dass er Milo das Du-Wort entzogen hatte, kaum dass Franziskas Grab zugeschaufelt war. Und der ihm kurzerhand Lucie weggenommen hatte und sie ins Internat steckte, nicht weil ihm ihr Wohlergehen am Herzen lag, sondern einzig, um Milo zu quälen, diesen dahergelaufenen kroatischen Handwerker, diesen langhaarigen Tunichtgut, der sich erfrechte, sich Lucies Ziehvater zu nennen. Der alte Hofinger konnte einem wie ihm das Leben zur Hölle machen, ohne auch nur einen Fuß vor die Türe seines Büros zu setzen, der brauchte nur zum Telefon zu greifen und die Kavallerie setzte sich in Marsch. Nein, das war keine Spazierfahrt, die ganze Sache war wirklich kein Witz.
Sie erreichten den kilometerlangen Tunnel unter dem Velebit und Lucie war ganz aufgeregt, weil sie in einer Viertelstunde das Meer sehen würde. Als sie die andere Seite des Gebirges erreichten, schlief sie tief und fest. Vor ihm lag das Meer, honigfarben und glitzernd.
Onkel Josip war vollkommen aus dem Häuschen, als sie plötzlich vor seiner Bude standen. Erst starrte er sie an wie Gespenster, dann fiel er Milo um den Hals, drückte Lucie und wollte sie nicht mehr loslassen. Tränen kullerten ihm übers Gesicht wie einem Kind, er wischte sie lachend weg und holte eine Flasche Travarica aus dem Bootsschuppen.
„Milo, Milo, heiliger Strohsack, heiliger Himmel! Und Lucie, mein kleiner Liebling, Lucie! Jessas, was bist du groß geworden, und so hübsch, noch hübscher als deine Mama, das gibt’s ja nicht!“
Der alte Zausel tanzte umher und führte sich auf wie ein Verrückter, dann füllte er die Gläser. Entschlossenen Widerstand vermochte er, Milo, ihm nicht entgegen zu setzen, nicht nach so einem Tag, nicht an solch einem Abend. Der Abend war außergewöhnlich schön, die Wolken hatten sich verzogen und der Himmel dehnte sich endlos. Lucie jagte die Katzen durch den Garten und Josip grillte Lammkeulen, goss den Travarica über die Dinger und bespritzte sie mit Öl und der Himmel wurde rot wie das Feuer. Milo tat nichts anderes, als im Liegestuhl zu lümmeln, selig vor sich hin zu grinsen und Josips Geschimpfe über Franziskas Vater, diesen gottverfluchten Hurensohn, den vermaledeiten, zu lauschen. Das Feuer knisterte hinter Josip und sein Kopf schien in Flammen zu stehen.
Ob sie mit Josip aufs Meer rausfahren dürfe, fragte sie, kaum dass sie ihn wachgerüttelt hatte.
„Hmm? Was?“, knurrte er.
„Darf ich? Wir wollen angeln, hat er mir versprochen gestern.“
„Was? Mitten in der Nacht? Seid ihr verrückt?“
Milo vergrub das Gesicht im Kissen. Er wollte zurück in seinen Traum, er wollte Franziska noch ein wenig festhalten.
„He, wach auf, du Schlafmütze!“
„Ja ja … äh, was wollt ihr machen?“
Er streckte sich und rieb sich die Augen fast aus dem Kopf.
„Krebse fangen. Perlenmuscheln, Seesterne, solche Sachen halt.“
„Mit der Angel, soso.“
„Hat Josip gesagt, ja … Borgst du mir deinen Pullover?“
Milo setzte sich auf und blinzelte ins Sonnenlicht. Lucie stand neben dem Bett und hatte seinen grauen Pullover an. Das alte Ding reichte ihr bis zu den Knien, die Ärmel hatte sie hochgekrempelt und auf dem Kopf trug sie Josips Wollmütze. Sie grinste ihn an, nein, sie lächelte, sie strahlte. Ein Anblick von herzzerreißender Schönheit. Milo betrachtete sie, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und biss sich auf die Lippe. Er schluckte und schloss für einen Moment die Augen. Mit jedem Tag sah sie Franziska ähnlicher.
„Schau ich nicht aus wie ein richtiger Matrose, Milo?“
„Na ja, mehr wie ein kleiner Landstreicher. Komm her.“
Lucie hüpfte aufs Bett, schlang die Arme um ihn und rieb das Gesicht an seiner Wange.
„Milo Stoppelbart, mmh.“ Sie kicherte.
„Schau mal.“ Sie drehte ihm die linke Schulter zu und schob den Ärmel hoch. Auf ihrem Oberarm prangte ein dunkelblauer Anker.
„Teufel, du hast ja eine Tätowierung! Wie ein echter Seemann.“
„Nur Kugelschreiber. Komm doch mit, Papa. Bitte.“
„Meinst du etwa, ich bin auf Urlaub, mein Schatz?“
Sie packte ihn an den Ohren und drückte ihre Nase an seine. „Bitte bitte bitte!“
„Mal sehen, du kleine Nervensäge. Jetzt machst du dem dummen Milo erst mal einen Kaffee, einen richtig starken.“
„Ay ay, Käpt’n Stoppelbart.“ Sie sprang vom Bett und flitzte aus dem Zimmer.
„Squornhöllischvierstark!“, rief er ihr nach und ließ sich wieder auf die Matratze sinken.
Er schnappte sich die Sonnenbrille vom Nachtkästchen, setzte sie auf die Nase und machte sich eine Zigarette an. Er stieß eine Rauchwolke unter die Decke, kratzte sich über die Bartstoppeln und gähnte, dass er den Kiefer knacken hörte. Er hustete und grinste in die Luft.
„Wir sind nicht auf Urlaub, mein Schatz", murmelte er, „wir sind zu Hause.“