Mitglied
- Beitritt
- 18.10.2016
- Beiträge
- 256
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 42
Mick Gärtner drückte ab
Es war noch nicht einmal ganz hell. Mit müde verschwollenen Augen ging ich durch den Montagmorgen und zog meine Kapuze gegen den Nieselregen tief ins Gesicht. Aus der Bäckerei gegenüber wehte mich warmer Brotduft an. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, noch bevor mein Hirn ihm zuflüstern konnte, dass die Brötchen immer pappig schmeckten. Ohnehin wollte ich nur Teil dieses Arbeitstages werden, hin und wieder zurück.
Fast wäre ich daran vorbeigelaufen. Auf meinem Rückweg am Abend hätte ich es nicht mehr gesehen. Selbst jetzt war es nur noch schwach zu erkennen.
Aber noch stand es. Ich weiß gar nicht, warum es mir so auffiel. Vielleicht, weil es neu war. Auf jeden Fall blieb ich stehen, plötzlich neugierig und hellwach, und betrachtete die dünnen Kreideworte an der Friedhofsmauer.
Ich trat einen Schritt zurück. Grübelte. Warf meine Gedanken gegen den Beton und fegte sie wieder zusammen. Wer war Mick Gärtner? Gegen wen hatte er eine Waffe gerichtet und warum? Und wer hatte diesem Schicksalsmoment hier auf der Friedhofsmauer gedacht? Fragen huschten wie Spinnen durch meinen Kopf und spannen wirre Gedankennetze.
Es regnete inzwischen stärker und die Tropfen nahmen den Kreidestaub mit sich. Aber ich hatte keine Zeit, dem Gedanken an Mick Gärtner beim Sterben zuzusehen. Niedergeschlagen ließ ich den Kopf sinken und trollte mich zur Arbeit.
Das Stückchen Himmel vor meinem Bürofenster war grau wie immer, doch meine Gedanken wirbelten knallbunt um Mick Gärtner, der eine Waffe in der Hand hielt und davon Gebrauch machte.
Weder im Internet noch in der Zeitung hatte ich Berichte gefunden, die mit Mick Gärtner in Verbindung gebracht werden konnten. Bis zur Mittagspause liefen sie wie ein Hamsterrad in meinem Kopf herum. Von meinem Tisch aus sah ich Meike Ammerberg die Kantine betreten. Zwischen den Büroräumen lächelten wir uns manchmal zu, doch ich hatte mich nie getraut, sie anzusprechen.
Vielleicht waren Mick Gärtner und sein mir unbekanntes Schicksal der Grund, dass ich jetzt meinen Arm von der Gabel löste und ihn wie eine Lotsenflagge in ihre Richtung schwenkte. Tatsächlich stutzte sie und sah zu mir herüber. Rückte stückchenweise näher. Eine dünne Blondine mit Himmelfahrtsnase und einem Hang zum Erröten.
Nun stand sie vor mir. Ein wenig heiser bat ich: „Setzt du dich zu mir?“
"Eigentlich wollte ich nur kurz ..." Sie räusperte sich. Ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken. Errötete. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte sie. „Du wirkst so abwesend.“
Ich nickte. „Kennst du jemanden mit dem Namen Mick Gärtner?“
Sie schüttelte den Kopf. „Wer soll das sein?“
„Ein Gangster. Ein verzweifelter Familienvater." Meine Stimme war zu laut. Einige Köpfe drehten sich zu uns herum. "Ich weiß es einfach nicht!"
Sie lächelte unsicher. „Verstehe.“ Rückte auf ihrem Stuhl herum.
Ich wollte nicht leichtfertig aufgeben. „Der Name stand heute Morgen an der Friedhofsmauer. ‚Mick Gärtner drückte ab‘.“
"Wo?" Meike fuhr mit der Hand über den Tisch. „An der Friedhofsmauer?“
"Stell' dir vor, es wäre eine Botschaft!" Ich lehnte mich weiter zu ihr hinüber. "Eine Nachricht an alle, die dort vorbeikommen und verstehen. Die Tat einer geheimen Schreibguerilla!"
Vorsichtig hob sie ihre schmalen Schultern. "Wer sollte das sein?"
"Keine Ahnung." Ich runzelte die Stirn. "Irgendwelche Leute, die wollen, dass man sich mit Kreideworten an einer Mauer beschäftigt."
"Und du überlegst jetzt, was es mit Mick Gärtner auf sich hat?"
Ich atmete auf. "Genau! Was trieb Mick Gärtner dazu, abzudrücken?"
"Vielleicht hatte er es einfach satt?"
Erstaunt hob ich die Augenbrauen. "Wer? Was satt?"
„Mick Gärtner.“ Ihr schmaler Rücken versteifte sich. "Vielleicht hatte Mick Gärtner sein ganzes Leben einfach satt. Seinen Alltag im Büro. Das Alleinsein zwischen den Menschen." Tränen waren ihr in die Augen gestiegen.
Ihre heftige Reaktion verblüffte mich. „Und deshalb drückte Mick Gärtner ab? So eine Art Amoklauf?“
„Genau! Eine Kurzschlusshandlung!“ Sie nickte mir zu. Ihre Augen funkelten und der rötliche Schimmer auf ihrem Gesicht vertiefte sich. "Ich kann dir seine Geschichte erzählen!"
Verblüfft zwinkerte ich sie an, doch Meike redete schon weiter. „Es war noch nicht einmal ganz hell, als Mick Gärtner wie jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit fuhr. Von außen tröpfelte der Nieselregen gegen die großen Scheiben, von innen das Schweigen der über ihre Handys gebeugten Menschen. Mick hatte nicht gut geschlafen und sah mit müde verschwollenen Augen um sich.“
Ich wollte etwas einwerfen, doch sie ließ mich nicht zu Wort kommen.
„Eine junge Frau mit Kopftuch stieg ein, hochschwanger. Mick Gärtner beobachtete, wie eine ältere Dame hastig ihre Handtasche auf den einzigen freien Platz neben sich legte. Zwei junge Männer begannen, sich lautstark über ein Mädchen zu unterhalten, mit der sie beide auf der letzten Party ihren Spaß hatten.“
Sie grinste, fletschte bösartig ihre Zähne. „Mick versuchte, seine Ohren zu verschließen. Aber ihre Worte krabbelten wie Obstfliegen in seinen Kopf und lösten dort einen vertrauten Schmerz aus.“
"Einen vertrauten Schmerz?" Mir stand der Mund offen.
Wieder nickte sie. "Mick hatte sich immer aus allem heraushalten können. Hatte nie Ärger gemacht. War seiner Arbeit nachgegangen, obwohl er sie langweilig fand. Goss die Blumen seiner Nachbarn, wenn diese im Urlaub waren, obwohl er die Leute nicht ausstehen konnte. Doch während er so still seinen Weg durchs Leben ging, wuchs der Schmerz in ihm. Wie ein fauler Zahn pochte er zuerst nur ganz leise an, vertiefte sich, verschwand fast ganz und kam dann in immer kürzeren Abständen mit immer größerer Wucht zurück." Sie hob ihre Stimme. "Mick versuchte noch, ihn zurückzudrängen, doch es war zu spät: Der Schmerz überspülte ihn wie eine Tsunamiwelle."
"Ich nehme an, es war ein Montagmorgen?", fragte ich mit trockenem Mund. "Dort im Bus, meine ich."
Sie hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. "So ist es. Ein grauer, kalter Montagmorgen", fuhr sie fort. "Mick starrte die alte Frau an. Er hörte die Stimmen der beiden Männer und wusste, dass er den Schmerz keinen Moment länger ertragen konnte." Langsam schraubte sich Meike aus dem Kantinenstuhl. „Er stand auf.“
Unbewusst hatte ich mich mit ihr erhoben und beobachtete mit großen Augen, wie ihre rechte Hand hinter ihren Rücken fuhr.
Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Mick hatte mit der Waffe niemals auf einen anderen Menschen als sich selbst schießen wollen. Er war sogar ein wenig erstaunt, als er ihren kühlen Griff in seiner Hand spürte.“
Wieder dieses Raubtierlächeln. War das überhaupt Meike Ammerberg?
Mit der linken Hand fuhr sie sich über das Gesicht. „Schweißperlen liefen Mick die Stirn hinunter.“
Mir wurde heiß.
Meike kannte kein Erbarmen. „Blutrote Wirbel tanzten vor seinen Augen. Er richtete die Waffe auf die alte Frau, dann auf die beiden Männer. Schreie spritzten durch den Bus.“
Sie zog etwas aus ihrer hinteren Hosentasche. Als ihre Hand nach vorne schnellte, knickte ich instinktiv weg.
„Mick Gärtner drückte ab.“
Ich konnte hören, wie sie etwas auf den Tisch warf. Zwischen den Tischbeinen hindurch sah ich ihre Stiefel aus der Kantine gehen.
Erst nach einer ganzen Weile nahm ich das Gemurmel um mich herum wahr. Ich starrte die Menschen an und sie starrten zurück. Mit weichen Knien erhob ich mich. Ein Stück weiße Kreide lag neben meinem Teller. Verschämt grinste ich durch den Raum und steckte es in meine Tasche.
Ich hatte verstanden. Morgen würde mein Satz an einer Mauer stehen.
Für einen kurzen Moment, vergänglich wie Kreidestaub, fühlte ich mich als Teil.