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Mick Gärtner drückte ab

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18.10.2016
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Mick Gärtner drückte ab

Es war noch nicht einmal ganz hell. Mit müde verschwollenen Augen ging ich durch den Montagmorgen und zog meine Kapuze gegen den Nieselregen tief ins Gesicht. Aus der Bäckerei gegenüber wehte mich warmer Brotduft an. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, noch bevor mein Hirn ihm zuflüstern konnte, dass die Brötchen immer pappig schmeckten. Ohnehin wollte ich nur Teil dieses Arbeitstages werden, hin und wieder zurück.

Fast wäre ich daran vorbeigelaufen. Auf meinem Rückweg am Abend hätte ich es nicht mehr gesehen. Selbst jetzt war es nur noch schwach zu erkennen.
Aber noch stand es. Ich weiß gar nicht, warum es mir so auffiel. Vielleicht, weil es neu war. Auf jeden Fall blieb ich stehen, plötzlich neugierig und hellwach, und betrachtete die dünnen Kreideworte an der Friedhofsmauer.

„Mick Gärtner drückte ab.“

Ich trat einen Schritt zurück. Grübelte. Warf meine Gedanken gegen den Beton und fegte sie wieder zusammen. Wer war Mick Gärtner? Gegen wen hatte er eine Waffe gerichtet und warum? Und wer hatte diesem Schicksalsmoment hier auf der Friedhofsmauer gedacht? Fragen huschten wie Spinnen durch meinen Kopf und spannen wirre Gedankennetze.
Es regnete inzwischen stärker und die Tropfen nahmen den Kreidestaub mit sich. Aber ich hatte keine Zeit, dem Gedanken an Mick Gärtner beim Sterben zuzusehen. Niedergeschlagen ließ ich den Kopf sinken und trollte mich zur Arbeit.

Das Stückchen Himmel vor meinem Bürofenster war grau wie immer, doch meine Gedanken wirbelten knallbunt um Mick Gärtner, der eine Waffe in der Hand hielt und davon Gebrauch machte.
Weder im Internet noch in der Zeitung hatte ich Berichte gefunden, die mit Mick Gärtner in Verbindung gebracht werden konnten. Bis zur Mittagspause liefen sie wie ein Hamsterrad in meinem Kopf herum. Von meinem Tisch aus sah ich Meike Ammerberg die Kantine betreten. Zwischen den Büroräumen lächelten wir uns manchmal zu, doch ich hatte mich nie getraut, sie anzusprechen.
Vielleicht waren Mick Gärtner und sein mir unbekanntes Schicksal der Grund, dass ich jetzt meinen Arm von der Gabel löste und ihn wie eine Lotsenflagge in ihre Richtung schwenkte. Tatsächlich stutzte sie und sah zu mir herüber. Rückte stückchenweise näher. Eine dünne Blondine mit Himmelfahrtsnase und einem Hang zum Erröten.

Nun stand sie vor mir. Ein wenig heiser bat ich: „Setzt du dich zu mir?“

"Eigentlich wollte ich nur kurz ..." Sie räusperte sich. Ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken. Errötete. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte sie. „Du wirkst so abwesend.“

Ich nickte. „Kennst du jemanden mit dem Namen Mick Gärtner?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wer soll das sein?“

„Ein Gangster. Ein verzweifelter Familienvater." Meine Stimme war zu laut. Einige Köpfe drehten sich zu uns herum. "Ich weiß es einfach nicht!"

Sie lächelte unsicher. „Verstehe.“ Rückte auf ihrem Stuhl herum.

Ich wollte nicht leichtfertig aufgeben. „Der Name stand heute Morgen an der Friedhofsmauer. ‚Mick Gärtner drückte ab‘.“

"Wo?" Meike fuhr mit der Hand über den Tisch. „An der Friedhofsmauer?“

"Stell' dir vor, es wäre eine Botschaft!" Ich lehnte mich weiter zu ihr hinüber. "Eine Nachricht an alle, die dort vorbeikommen und verstehen. Die Tat einer geheimen Schreibguerilla!"

Vorsichtig hob sie ihre schmalen Schultern. "Wer sollte das sein?"

"Keine Ahnung." Ich runzelte die Stirn. "Irgendwelche Leute, die wollen, dass man sich mit Kreideworten an einer Mauer beschäftigt."

"Und du überlegst jetzt, was es mit Mick Gärtner auf sich hat?"

Ich atmete auf. "Genau! Was trieb Mick Gärtner dazu, abzudrücken?"

"Vielleicht hatte er es einfach satt?"

Erstaunt hob ich die Augenbrauen. "Wer? Was satt?"

„Mick Gärtner.“ Ihr schmaler Rücken versteifte sich. "Vielleicht hatte Mick Gärtner sein ganzes Leben einfach satt. Seinen Alltag im Büro. Das Alleinsein zwischen den Menschen." Tränen waren ihr in die Augen gestiegen.

Ihre heftige Reaktion verblüffte mich. „Und deshalb drückte Mick Gärtner ab? So eine Art Amoklauf?“

„Genau! Eine Kurzschlusshandlung!“ Sie nickte mir zu. Ihre Augen funkelten und der rötliche Schimmer auf ihrem Gesicht vertiefte sich. "Ich kann dir seine Geschichte erzählen!"

Verblüfft zwinkerte ich sie an, doch Meike redete schon weiter. „Es war noch nicht einmal ganz hell, als Mick Gärtner wie jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit fuhr. Von außen tröpfelte der Nieselregen gegen die großen Scheiben, von innen das Schweigen der über ihre Handys gebeugten Menschen. Mick hatte nicht gut geschlafen und sah mit müde verschwollenen Augen um sich.“

Ich wollte etwas einwerfen, doch sie ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Eine junge Frau mit Kopftuch stieg ein, hochschwanger. Mick Gärtner beobachtete, wie eine ältere Dame hastig ihre Handtasche auf den einzigen freien Platz neben sich legte. Zwei junge Männer begannen, sich lautstark über ein Mädchen zu unterhalten, mit der sie beide auf der letzten Party ihren Spaß hatten.“

Sie grinste, fletschte bösartig ihre Zähne. „Mick versuchte, seine Ohren zu verschließen. Aber ihre Worte krabbelten wie Obstfliegen in seinen Kopf und lösten dort einen vertrauten Schmerz aus.“

"Einen vertrauten Schmerz?" Mir stand der Mund offen.

Wieder nickte sie. "Mick hatte sich immer aus allem heraushalten können. Hatte nie Ärger gemacht. War seiner Arbeit nachgegangen, obwohl er sie langweilig fand. Goss die Blumen seiner Nachbarn, wenn diese im Urlaub waren, obwohl er die Leute nicht ausstehen konnte. Doch während er so still seinen Weg durchs Leben ging, wuchs der Schmerz in ihm. Wie ein fauler Zahn pochte er zuerst nur ganz leise an, vertiefte sich, verschwand fast ganz und kam dann in immer kürzeren Abständen mit immer größerer Wucht zurück." Sie hob ihre Stimme. "Mick versuchte noch, ihn zurückzudrängen, doch es war zu spät: Der Schmerz überspülte ihn wie eine Tsunamiwelle."

"Ich nehme an, es war ein Montagmorgen?", fragte ich mit trockenem Mund. "Dort im Bus, meine ich."

Sie hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. "So ist es. Ein grauer, kalter Montagmorgen", fuhr sie fort. "Mick starrte die alte Frau an. Er hörte die Stimmen der beiden Männer und wusste, dass er den Schmerz keinen Moment länger ertragen konnte." Langsam schraubte sich Meike aus dem Kantinenstuhl. „Er stand auf.“

Unbewusst hatte ich mich mit ihr erhoben und beobachtete mit großen Augen, wie ihre rechte Hand hinter ihren Rücken fuhr.

Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Mick hatte mit der Waffe niemals auf einen anderen Menschen als sich selbst schießen wollen. Er war sogar ein wenig erstaunt, als er ihren kühlen Griff in seiner Hand spürte.“

Wieder dieses Raubtierlächeln. War das überhaupt Meike Ammerberg?

Mit der linken Hand fuhr sie sich über das Gesicht. „Schweißperlen liefen Mick die Stirn hinunter.“

Mir wurde heiß.

Meike kannte kein Erbarmen. „Blutrote Wirbel tanzten vor seinen Augen. Er richtete die Waffe auf die alte Frau, dann auf die beiden Männer. Schreie spritzten durch den Bus.“

Sie zog etwas aus ihrer hinteren Hosentasche. Als ihre Hand nach vorne schnellte, knickte ich instinktiv weg.

„Mick Gärtner drückte ab.“

Ich konnte hören, wie sie etwas auf den Tisch warf. Zwischen den Tischbeinen hindurch sah ich ihre Stiefel aus der Kantine gehen.

Erst nach einer ganzen Weile nahm ich das Gemurmel um mich herum wahr. Ich starrte die Menschen an und sie starrten zurück. Mit weichen Knien erhob ich mich. Ein Stück weiße Kreide lag neben meinem Teller. Verschämt grinste ich durch den Raum und steckte es in meine Tasche.
Ich hatte verstanden. Morgen würde mein Satz an einer Mauer stehen.

„Er warf den Revolver in die dunkelsten Tiefen des Sees ...“

Für einen kurzen Moment, vergänglich wie Kreidestaub, fühlte ich mich als Teil.

 

Hallo Perdita,

war das aber schön, nach all der (verdienten) Schelte fühlte ich mich verstanden! Tatsächlich bin ich sehr gern fantasymäßig unterwegs, aber eine Schreibguerilla - wäre das nicht real machbar? Zumindest hier kann man sich kreativ austoben, das ist super.
Und man bekommt jeder Menge hilfreiche Hinweise, viele deiner Anregungen fand ich sinnvoll und habe einiges umgesetzt (konnte mich endlich auch dazu durchringen, die Leute im Bus unter ihren Handys hervorzuholen).

Der letzte Satz gefällt mir, weil er am Anfang nur Teil des Arbeitstags sein wollte, und jetzt sieht er, dass er auch Teil von etwas anderem sein könnte. Es wird nicht gesagt, von was eigentlich, weil der Protagonist das wahrscheinlich selbst nicht genau weiß, aber es ist ein schönes Ende.

Tatsächlich weiß ich auch noch nicht genau, wo ich mit dem Schreiben eigentlich hin will - den Alltag bunter machen, Geschichten erzählen, mit Worten spielen.

Erwachsenen, berufstätigen Menschen ist so ein zweckloses Spielen leider nicht sehr oft möglich.

Ja, schade, aber hier bei den Wortkriegern dann eben doch wieder. :thumbsup:

Viele Grüße
Willi

 

Hallo Willi,

es gibt leider so Geschichten, die laufen einem nicht freiwillig in die Arme und genau so erging es mir leider mit deiner.

Aber der Reihe nach: Der Titel ist sehr gut gewählt, er erstaunt und macht neugierig und hat sogar einen festen Bezug zur Geschichte selbst. Also was will man mehr, perfekt gemacht.
Das Challengethema ist auch konsequent eingehalten und bearbeitet.

Was mir eben nicht so lag, ist der Plot.
Dass sich jemand seine mehr oder weniger normalen bis absurden Gedanken über das macht, was an einer Mauer geschrieben steht, ist zwar naheliegend, wenn es um diese Challengeaufgabe geht, aber meiner Meinung nach so ziemlich die langweiligste Art, an die Geschichtenaufgabe heran zu gehen.

Das verwässerst du zum Glück dadurch, indem du die Meike Ammerberg mit in das Geschehen nimmst und es wenigstens zu einem Dialog kommt, was der Handlung natürlich mehr Leben gibt als nur ein Monolog.
Aber wie du das machst, hat leider meinen Unwillen in puncto Logik der Geschichte angeworfen.

Du schreibst, dass man sich bislang nur angelächelt, aber noch nie angesprochen hatte.
Fakt, den ich bis dahin als deine Leserin geschluckt habe.

Aber was dann passiert, passt dann nicht. Wenn er all seinen Mut zusammen nimmt und Meike anspricht, dann doch bestimmt nicht so, wie er es getan hat. "Setzt du dich zu mir?" Das ist ja schon eine Art Befehl. Nun gut, wenn er es so getan hat, dann hätte wenigstens die Reaktion Meikes darauf entsprechend ausfallen müssen.
Logisch wäre doch, wenn mich jemand so anspricht, der mit mir noch nie zuvor ein Wort gewechselt hat, dass ich mich entweder überrascht gebe, weil es mich wirklich total überrascht hat oder aber frage, was los ist und weshalb ausgerechnet ich mich setzen soll.

So oder so und das verschlimmert mein Gefühl von Unlogik hätte ich als Meike mich garantiert nicht einfach hingesetzt und ein Gespräch mit dem Protagonisten angefangen, das nur darauf schließen lässt, dass ich ihn schon lange und vertraut kenne.
Meike fragt nämlich: "Ist irgendetwas nicht in Ordnung?" "Du wirkst so abwesend."

Daraus kann ich nur schlussfolgern, dass Meike den Protagonisten schon lange kennt und sogar seine Gesichtszüge studiert hat, sonst käme sie nicht zu dieser Schlussfolgerung.

Natürlich könnte es so sein, dass dein Protagonist und Meike zufällig zwei Personen sind, die sich eh ausschließlich ausserhalb der Konventionen bewegen. Sowas kann es ja durchaus geben. Aber dann hätte ich doch ganz gern ein klein wenig mehr Hinweise in der Geschichte auf diesen Zustand.

Ich gehe daher davon aus, dass sie eher ganz normale Figuren sein sollten, du aber sie leider nicht normale Dinge tun lässt.
Ab diesem kurzen Dialog hatte ich einfach nur noch Probleme das Nachfolgende zu akzeptieren, weil ich immer noch diese Unlogik im Kopf hatte.

Hinzu kommt, dass mir die begleitenden Umstände, wie deine Figuren miteinander reden, reichlich überzogen und theatralisch vorkommen. So als sei das alles eine Persiflage. Aber auf was, frage ich mich dann.

Z.B. hier fängt dieses seltsame Verhalten an:

"Wo?" Meike fuhr mit der Hand über den Tisch
Was soll diese Handbewegung bedeuten? Was soll sie unterstreichen? Welchen Zustand Meikes soll sie hervorheben?
Sie fragt einfach nur "Wo?" Wozu muss man dazu über einen Tisch wischen?


"Stell' dir vor, es wäre eine Botschaft!" Ich lehnte mich weiter zu ihr hinüber.

Man lehnt sich nur dann weiter zu jemandem herüber, weil man infolge des Lärms näher heran möchte, also besser gehört werden möchte. Oder aber bei normalem Lärmpegel, weil man nun etwas Geheimes, etwas Unangenehmes mitteilen möchte, das die Ohren anderer Unbeteiligter nicht erreichen soll.
Was ist an dem Satz an der Friedhofsmauer so geheimnisvoll, dass dein Protagonist daraus so ein Ding machen muss?


Vielleicht hatte er es einfach satt?"

Erstaunt hob ich die Augenbrauen. "Wer? Was satt?"

Hier ziehst du den Dialog in die Länge, ohne etwas auszusagen. Dein Protagonist weiß exakt von wem Meike spricht.

Mick Gärtner.“ Ihr schmaler Rücken versteifte sich. "Vielleicht hatte Mick Gärtner sein ganzes Leben einfach satt. Seinen Alltag im Büro. Das Alleinsein zwischen den Menschen." Tränen waren ihr in die Augen gestiegen.
Wozu versteift sich jetzt ihr Rücken? Und wieso kommen von jetzt auf gleich die Tränen? Und würde jemand, dem gleich die Tränen kommen, nicht eine andere Köperhaltung einnehmen, um vielleicht zu verhindern, dass sie ihm kommen? Würde Meike nicht eher anstelle des versteiften Rückens den Kopf zur Seite drehen und irgendwo hinblicken, um sich ablenken zu lassen?

Mir missfällt, dass du hier fröhlich den Dialog auflockern oder sogar auch in seiner Bedeutung unterstreichen möchtest, aber dies irgendwie unausgegoren tust.

Ihre heftige Reaktion verblüffte mich.
Woran erkennt der Leser, dass der Protagonist verblüfft ist? Wie sieht das aus, wenn jemand verblüfft ist?

Wenn er diese Frau sympathisch findet, wieso reagiert er nicht empathischer und sagt etwas zum Trost oder zur Entschuldigung dazwischen? Wäre das nicht die intensivere Reaktion?

Ihre Augen funkelten und der rötliche Schimmer auf ihrem Gesicht vertiefte sich.
Obwohl das hier die richtige Einleitung wäre, um eine Geschichte zu beginnen, frage ich mich, was diese Meike für ein Wesen ist, die scheinbar die Klaviatur der Gefühlsregungen innerhalb von Sekunden rauf und runter spielen kann.

Verblüfft zwinkerte ich sie an
Wiederum meine Frage an dich, wie das aussieht, wenn jemand verblüfft ist und sogar dabei noch zwinkert.

Sie grinste, fletschte bösartig ihre Zähne.
Tut mir leid, dass ich das so sage, aber an dieser Stelle gehen die Werwölfe mit dir durch. Wozu jetzt diese intensive Reaktion?

"Einen vertrauten Schmerz?" Mir stand der Mund offen.
Was möchtest du mit dem Mundoffenstehen in der Aussage des Protagonisten unterstreichen, intensivieren?

Wieder dieses Raubtierlächeln. War das überhaupt Meike Ammerberg?
Ok, hier merkst du selbst, dass es nicht normal ist.

Mit der linken Hand fuhr sie sich über das Gesicht. „Schweißperlen liefen Mick die Stirn hinunter.“
Hier ist der Zusammenhang, dass Meike ihre Aussage theatralisch unterstreichen möchte.
Ergo gehört der zweite Satz an die erste Stelle, dann wird es sinnvoller. Ansonsten gibt es einige Stellen in deiner Geschichte, wo du die Kerzen anzündest, bevor es dunkel wird. :D

Mir wurde heiß.
Was sieht man als Beobachter, wenn man eine Person beobachtet, der heiß wird? Das müsste hier stehen und nicht so etwas Allgemeinplatziges.
Stell dir vor, du beobachtest so eine Person. Vielleicht bekommt er zuerst schwitzige Hände und du siehst, wie er verstohlen, seine Hände an den Hosenbeinen trockenreibt oder ein Taschentuch rausholt, um darin die Hände abzuwischen, er den Krawattenknoten lockert, sein Jackett anlupft, um etwas Luft dran zu lassen, er auspustet, sich mit dem Handrücken über die feuchte Schläfe wischt, mit dem Zeigefinger an der Oberlippe entlang fährt, um den Schweißfilm abzuwischen, eine Hand vor dem Gesicht schwenkt, um sich Luft zuzufächeln, sie Schultern abwechselnd hochzieht, laut durch die Nase ausschnauft und so weiter. Durch das alles und noch tausend Dinge mehr kann man aufzeigen, wie und dass einem warm oder heiß ist. Zeige mir deine Figuren. Ich will sie sehen, ich will nicht die Resultate verkündet bekommen, ich will mir selbst ein Bild von ihnen machen.

Durch die Tischbeine hindurch sah ich ihre Stiefel aus der Kantine gehen.
Das hat fast schon Slapstickqualität. Vermutlich willst du mitteilen, dass der Protagonist gefallen ist, vermutlich durch den imaginären Schuss und nun am Boden liegt. Deswegen befindet er sich auf Tischbeinperspektive. Aber durch Tischbeine kann man nur als Zauberer hindurchsehen.

Die Formulierung mit dem Stiefeln ist auch etwas unglücklich, weil er garantiert nicht nur ihre Stiefel gesehen hat, du es aber so formulierst, dass man denken könnte, die Stiefel hätten dies Eigenleben und gingen jetzt. Diese unfreiwillige Komik willst du sicherlich nicht damit erreichen.

Es wäre also sinnvoll, wenn du dir detaillierte Gedanken darüber machst, was man aus welcher Perspektive sehen kann. Manchmal ist es wirklich hilfreich, sich genau an die Stellen zu begeben, die man beschreiben möchte.
Also ab unter den Tisch und mal prüfen, was man von dort aus alles erkennen kann. :D


Mit weichen Knien erhob ich mich.
Auch hier ist es wieder ungenau. Was findet im Körper des Protagonisten statt, wenn er von weichen Knien spricht? Weiche Knie ist so ein Larifaribegriff, der möglichst nicht verwendet werden sollte. Davon haben wir in unserer Sprache sehr viele Begriffe, die allesamt nicht geeignet sind, in einer Geschichte oder einem Roman etwas auszusagen.

vergänglich wie Kreidestaub
Kreidestaub ist nicht vergänglich. Vergänglich ist ein Wort, das mit Kreidestaub geschrieben wurde, weil dieser Staub sich vom Untergrund lösen, leicht abfallen kann.

Ich hoffe, ich habe dir nicht gänzlich die Freude an deiner Geschichte genommen.


Lieben Gruß

lakita

 

Hallo lakita,

Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Schade, dass dir die Geschichte so wenig gefallen hat, doch deine Einwände fand ich sehr nachvollziehbar - wenn der Plot dich nicht erreicht, kommt auch der Rest kaum nachgehumpelt.

Ich gehe daher davon aus, dass sie eher ganz normale Figuren sein sollten, du aber sie leider nicht normale Dinge tun lässt. Ab diesem kurzen Dialog hatte ich einfach nur noch Probleme das Nachfolgende zu akzeptieren, weil ich immer noch diese Unlogik im Kopf hatte.

Mit Sicherheit bin ich etwas blauäugig in die Geschichte eingestiegen, aber für mich dürfen normale Figuren unnormale Dinge tun. Ich finde Figuren eigentlich überhaupt erst interessant, wenn sie unnormale Dinge tun. Das meiste fand aber ohnehin in ihren Köpfen statt.

Sprachlich habe ich übel übertrieben, ganz klar (du hättest die Geschichte 'mal vor den ganzen Verbesserungen lesen sollen, jetzt geht es ja schon fast).

Deine Anregungen zu den Gesten fand ich sehr interessant - meistens hole ich sie mir von irgendwelchen Leuten, die ich irgendwo beobachte.

... würde jemand, dem gleich die Tränen kommen, nicht eine andere Köperhaltung einnehmen, um vielleicht zu verhindern, dass sie ihm kommen? Würde Meike nicht eher anstelle des versteiften Rückens den Kopf zur Seite drehen und irgendwo hinblicken, um sich ablenken zu lassen?

Darüber habe ich ziemlich lange nachgedacht und dir zunächst recht gegeben. Dann dachte ich aber, dass diese Körperhaltung super zu Tränen der Traurigkeit passt, aber weniger zu Tränen der Wut.

Woran erkennt der Leser, dass der Protagonist verblüfft ist? Wie sieht das aus, wenn jemand verblüfft ist?

Klar ist das eine Verletzung des Showdonttelldogmas - da aber der Protagonist ein Ich-Erzähler ist, habe ich seine Gefühle und Empfindungen an einigen Stellen einfach 'mal erzählt.

... durch Tischbeine kann man nur als Zauberer hindurchsehen.

:lol: Stimmt! Ich meinte natürlich, zwischen den Tischbeinen hindurch sehen, ändere ich.

Kreidestaub ist nicht vergänglich.

Doch, doch, zu, Glück. Es werden andere Geschichten kommen und vielleicht gefällt dir dann irgendwann einmal eine davon. Die Freude an Geschichten nimmt deine Kritik auf keinen Fall - sie ist vielmehr Ansporn, besser und präziser zu schreiben.

Viele Grüße

Willi

 

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