- Beitritt
- 13.04.2003
- Beiträge
- 7.599
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 24
Michael
Peter Krieter setzt zum Endspurt an. Den hätte er gar nicht nötig, so überlegen, wie er das Feld anführt. Drei Kilometer vor dem ersten Verfolger. Für das Publikum, das ihm an der Straße zujubelt, gibt er noch einmal sein Bestes. Keine Siegerpose, kein schon vor der Ziellinie in die Luft gestreckter Arm. Er bleibt konzentriert im Rhythmus, den die Zuschauer anfeuernd klatschen, tritt in die Pedale, bis er die Zeitmessung erreicht hat. Ein großer Champion.
Ich bin zu Hause, stelle mein Fahrrad im Hof ab und gehe in den Laden.
»Guten Tag Frau Brunner, guten Tag Frau Melfsen, guten Tag Frau Seifert.«
»Wie schön, eine Hilfskraft«, begrüßt Mama mich. Papa höre ich im Keller Kartoffeln wiegen. Jacke und Schultasche schmeiße ich auf das Sofa im Aufenthaltszimmer, eile hinter den Tresen, schaue den beiden Damen ins Gesicht, die Mama gerade nicht bedient. »Wer will zuerst?«
»Ach Peterchen, was koche ich denn heute?«, fragt Frau Seifert. »Ich habe mir nebenan ein schönes Stück Kassler gekauft.«
Ein kurzer Blick auf den Bestand im Fenster. »Versuchen Sie die Teltower, Frau Seifert. Die sind so frisch, die brauchen sie nicht zu schälen. Ich suche Ihnen kleine raus, einfach mit Salz und Pfeffer in Öl dünsten, zum Schluss mit Zitronensaft und Honig ablöschen. Das passt prima zum Kassler.«
»Dann geben Sie mir bitte ein Pfund davon.«
Ich reiße eine Tüte vom Haken, fülle die Rübchen hinein.
»Ihr Sohn ist immer so freundlich«, höre ich Frau Melfsen zu Mama sagen, »Den haben Sie wirklich gut erzogen. Und er strahlt immer.«
»Nur ich merke nichts davon.«
*
Peter Krieter ist es gelungen, das Simple in der Haute-Cuisine zu etablieren. Es muss nicht immer Kaviar sein. Nicht immer Lachs, Entenbrust oder Wildfilet. Der deutsche Spitzenkoch hat gezeigt, welch Gaumengenuss Kartoffeln und Möhren sein können, wenn man sie auf den Punkt gart, mit saisonalen, frischen Kräutern würzt und weder Geschmack noch Vitamine mit dem Kochwasser in den Ausguss kippt. Großartige Küche, die jeder sich leisten kann.
»Willst du deinen Vater umbringen?« Mama schaut Papa an, nicht mich. Ihre Gabel in der Hand als wollte sie damit zustechen. »Du weißt doch, dass er nicht so viel Salz darf.«
Papa isst schweigend.
»Ich habe es doch nur zum Schluss mit einer halben Tasse Gemüsebrühe abgelöscht.«
»Das ist zu viel.«
»Schmeckt es nicht?«
»Doch, aber dein Vater darf kein Salz.«
Papa isst schweigend. Mama isst knirschend. Ich esse nichts, warte, bis mein Vater sich Nachschlag nimmt.
»Wir haben heute einen Neuen in die Klasse bekommen. Er heißt Michael.«
Papa isst schweigend, Mama isst stumm. Ich esse meinen Teller leer, räume ab, koche Kaffee, während meine Eltern sich für eine halbe Stunde hinlegen, bevor wir den Laden wieder öffnen.
*
Peter Krieter läuft aus dem Tor. Ganz allein steht er dem angreifenden Stürmer gegenüber, fixiert diesen, wartet, für eine Seite muss der Stürmer sich entscheiden, für eine Seite muss Peter Krieter sich entscheiden. Jetzt taucht er rechts nach unten, wirft sich auf den Ball, bleibt Sieger. Es ist einfach kein Vorbeikommen an diesem Klassetorwart.
Ich werfe den Ball zu Dennis, einem meiner Klassenkameraden, der schießt ihn weit nach vorn. Hauptsache weg. Uns ein bisschen Verschnaufpause gönnen, bevor der nächste Angriff kommt.
»Bist wohl mächtig stolz, Krieter«, schimpft Frank. »Den Nächsten schieß ich dir durch die Beine.«
»Ich bin gespannt.«
Wir sind die Loser, Timo, Matthias, Manuel, Andreas und ich. Wir gehören nicht zu denen, die sich gleich zusammenfinden, wenn der Sportlehrer Fußball anordnet. Gegen Frank, Thomas, Kevin, Kaan und Younes haben wir keine Chance. Aber noch haben sie kein Tor geschossen.
Der Ball kommt zurück. Kevin spielt zu Frank, Timo kann nicht hinterherlaufen. Ich muss wieder raus, mich wieder entscheiden, warten, bevor ich mich auf den Ball werfe, ihn unter mir begrabe. Frank setzt zum Schuss an, zieht durch, tritt mir aus vollem Lauf in die Rippen.
Der Lehrer pfeift. Ich bleibe liegen. Frank grinst. »Loser«, zischt er.
*
Keine Kritik am Essen, obwohl es so ungesalzen bescheiden schmeckte. Keine Kritik am Abendbrot, trotz der Rühreier, die doch den Cholesterinspiegel viel zu stark erhöhen. Fast Harmonie vor dem Fernsehgerät am Samstagabend. Mama weint bei zwei Jungen, die ihre Klassenkameraden am Klang einer Plastikflasche erkennen, die auf deren Kopf geschlagen wird. So, wie bei ihren alten Platten von Heintje oder bei Filmen mit Kindern.
»Der Neue in der Schule ist richtig nett. Michael singt bei den Alsterspatzen und hat mich gefragt, ob ich nicht einmal mit ihm kommen möchte.«
»Und wer soll uns dann helfen?«, fragt Mama. »Du kannst doch gar nicht singen.«
Peter Krieter hat für sein zartes Alter von dreizehn Jahren einen erstaunlichen Stimmumfang. Wichtiger aber ist das Gefühl, mit dem er singt. Brüchig, verletzlich, pianissimo in tragischen Szenen, überschwänglich, fast übermütig, lebensfroh fortissimo in jubelnden Koloraturen rührt er im Duett mit seinem Freund Michael die meist mütterlichen Zuhörer zu Tränen.
*
»Hey Krieter, heute lernst du fliegen, ein Überflieger bist du ja schon.« Kaan und Thomas fangen mich schon bei der Tür zum Klassenraum ab. Beide sitzengeblieben, beide zwei Jahre älter als ich. Frank öffnet das Fenster. Die Pause ist bald vorbei.
Eine 2. Nur eine 2 habe ich in der Mathearbeit geschrieben.
»Wie fühlt man sich als Oberschlauer?«, fragt Timo. »Du hättest mich wenigstens abschreiben lassen können.«
»Du hast abgeschrieben. Offenbar falsch.«
Die Mädchen setzen sich gleich an ihre Tische. Kaan schubst mich voran. Timo und Frank schieben einen Tisch vor das Fenster, stellen sich darauf. Thomas drückt seine Hand in meinen Nacken und zwingt mich mit dem Kopf auf die Tischplatte.
»Du darfst meine Schuhe lecken«, höhnt Frank. »Egal wie schlau du bist.«
Ich sammle soviel Speichel, wie ich kann, und spucke ihm auf seine Sneakers.
»Das wirst du noch bereuen.« Frank setzt seinen Fuß auf meinen Rücken, Kaan und Thomas reißen meine Beine hoch. Ein schmerzhafter Stich.
»Die Wirbelsäule soll ja sehr biegsam sein«, sagt Thomas lachend.
»Das weiß er doch«, fügt Timo hinzu. »Schließlich passt unser Streber in Biologie immer auf.«
»So biegsam nun auch wieder nicht!«, brülle ich. »Ihr brecht mir das Kreuz!«
Die Jungen lachen, von den Mädchen höre und sehe ich nichts. Frank und Timo umklammern meine Fußgelenke, reißen mich an ihnen nach oben. Mein Kopf schwebt über der Tischplatte.
Peter Krieter lässt sich für einen waghalsigen Stunt kopfüber aus dem Fenster der dritten Etage seiner Schule hängen. »Es ist eine Frage der Vorbereitung und des Vertrauens«, gab er vorher in einem Interview an. »Auf meinen Partner Michael kann ich mich hundertprozentig verlassen. Ohne ihn wäre die Nummer nicht möglich.« Kein Netz ist unter dem Fenster gespannt. Lässt sein Partner los, stürzt Krieter kopfüber auf die Steinfliesen. Auch, wenn er natürlich in der Lage ist, sich mit einem Salto zu drehen, bleibt der Ausgang ungewiss.
*
»Endlich Hilfe«, begrüßt Mama mich. »Wir brauchen dringend Kartoffeln vorgewogen. Dein Vater ist beim Zahnarzt.«
»Hallo Frau Seifert, haben Ihnen die Teltower geschmeckt?«
Sie rümpft die Nase, wie sie es immer tut. »Die waren großartig, Peterchen.«
Jacke und Schultasche schmeiße ich auf das Sofa im Aufenthaltszimmer und gehe in den Keller.
»Wenigstens ist er nicht bei den Linken und nimmt keine Drogen«, höre ich die Stimme meiner Mutter.
Peter Krieter hat gekämpft, hart für den Erfolg gearbeitet. Er hat in seiner politischen Laufbahn seine Wurzeln nicht vergessen. Ein Mann aus dem Volk, der die Sprache der kleinen Leute spricht. Einen besseren Außenminister hätte sein Freund und Kanzler Michael nicht finden können. Vielleicht ist es ein Vorteil, dass er in seinem Alter noch nicht so erfahren ist. Das bietet ihm die Chance, sich eingeschliffener Sprechblasen zu enthalten und unkonventionelle Entscheidungen jenseits von Diplomatie und Sachzwängen zu treffen. Sein freundlicher Charme wird ihn dabei unterstützen, auch kritische, den Linken wichtige Themen wie Menschenrechtsverletzungen anzusprechen.