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Menschenleere
Menschenleere
Ich betrachtete das staubige Panorama der Großstadtkulisse. "Ganz schön trostlos", murmelte ich und richtete meinen Blick in die Ferne, wo sich sandige Ranken zum Himmel streckten. "Hast du Feuer?"
Charlie sah mir irritiert in die Augen, während er am Rand des Daches hin und her wippte. "Feuer?", wiederholte er, als wisse er nicht, was das Wort bedeute.
"Es ist zwar heiß, aber meine Zigarette zündet sich trotzdem nicht von selbst an, mein Lieber."
Er wühlte in der Tasche seines Jacketts. Wortlos überreichte er mir ein silbernes Benzinfeuerzeug.
Mit einem Nicken bedankte ich mich.
"Behalt es. Ich rauche nicht mehr", murmelte er nervös und blickte in den Abgrund vor seinen Füßen.
Ich lachte angesichts der Ironie seiner Aussage.
"Ganz schön tief", nuschelte ich mit Zigarette im Mund und beobachtete eine Plastiktüte, die vom Wind über den Asphalt getrieben wurde.
"Vierundvierzig Stockwerke", erklärte mein Bekannter mit wehleidigem Blick. "Fällst du da runter, war's das auf jeden Fall."
Ich schmunzelte und schnippte die Asche in die Tiefe. Mit einem Nicken lenkte ich seine Aufmerksamkeit auf das stürmische Spektakel in der Ferne. "Wenn dich der Sandsturm dort erwischt, dann auch."
Charlie lachte, fast hysterisch.
"Ich bin ein bisschen wehmütig, wo es so langsam auf's Ende zu geht", gab ich zu und klopfte ihm auf die Schulter, was ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte. Panisch hielt er sich an mir fest und strafte mich sofort mit einem wütenden Blick.
"Was soll das?", zischte er, machte aber keine Anstalten, zurückzutreten. Ich schwieg und betrachtete wieder das Treiben der Sandkörner in der Ferne, die den Himmel gar lodern ließen, während er weiterhin auf die menschenleere Straße starrte.
Eine erste Träne rann seine Wange hinunter. Ich stieß ein verächtliches Schnauben aus. "Den Flüssigkeitsverlust kannst du dir hier nicht leisten."
Er ignorierte mich.
"Die Menschen waren nie schlecht", stammelte er schließlich und wirkte damit noch armseliger.
"Und doch stehen wir beide hier."
"Was willst du schon wissen."
An seinem Tonfall gemessen, war das wohl eine Beleidigung.
Wieder schnippte ich die Asche in die Tiefe. "Ich wage zu behaupten", begann ich langsam, während ich mich an den Rand des Wolkenkratzers setzte, "dass ich das alles hier deutlich besser bewerten kann als du es je könntest."
"Was willst du schon wissen", wiederholte er etwas leiser und sah wieder in den Abgrund. Ich rollte mit den Augen und genoss anschließend einige Momente der Stille.
"Wenn du gehst, mein Freund, dann bin ich quasi arbeitslos", warf ich schließlich ein und blickte halb schmunzelnd zu ihm auf. "Du bist der Letzte."
Kommentarlos drehte er seinen Kopf zu mir und spuckte auf meine Badesandalen. Ich nahm es hin.
"Denk an den Flüssigkeitsverlust", erinnerte ich ihn erneut, während er wieder in die Tiefe starrte. "Diese Situation ist genauso kurios für mich, wie für dich."
"Aha?", entgegnete er sarkastisch.
Auf meinem Gesicht spürte ich, dass uns die ersten Sandkörner erreicht hatten. Genüsslich zog ich an meiner Zigarette. Es würde wohl auch eine meiner letzten sein. Tabak war so unheimlich selten geworden.
"Hattest du jemals Familie?" Er sah mir direkt in die Augen, als er die Frage stellte. Ich war ein wenig überrascht, auch wenn Menschen meistens sentimental wurden, wenn sie ihr Ende in Sicht hatten.
"Nichts, was du als solche bezeichnen würdest." Einen Augenblick später dämmerte mir langsam der Gedanke, dass er wohl eine Gegenfrage erwartete. Ich tat ihm den Gefallen. Schließlich war heute ein besonderer Tag.
"Und du?"
"Nie verheiratet, aber eine uneheliche Tochter, die bei ihrer Mutter aufwuchs", schoss es aus ihm heraus. "Ich hab' sie nie kennengelernt. Sie wohnte in Portugal."
Ich zuckte mit den Schultern. "Da kenn' ich traurigere Geschichten."
Er sah mich erneut wütend an.
"Ich kann dich auch belügen, wenn du dich dadurch besser fühlst", fügte ich schließlich hinzu.
"Man kann auch einfach die Klappe halten", zischte er zurück.
Vielleicht hatte er damit recht, dachte ich. Das war nur nie mein Job gewesen.
"Wenn es dich gibt, gibt es doch sicherlich auch einen Himmel, oder?"
Hoffnungsvoll sah er mich an. Ich zog meinen Strohhut tiefer ins Gesicht. Der Sand biss nun stärker.
"Wenn ich ehrlich zu dir sein soll," - und ich war ehrlich - "weiß ich es tatsächlich nicht."
Er schluckte. "Ein guter Mensch war ich ja."
Ich lachte. "Zumindest keiner meiner Klienten. Das spricht für dich."
Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.
"Weißt du", meinte er schließlich, "wenn du nicht so ein Zyniker wärst, wärst du kein schlechter Kerl."
"Der Zyniker liegt in meiner Natur. Aber das hier", ich zeigte auf die menschenleere Wüstenstadt, "war das Werk eines Volkes von Egoisten, nicht von Zynikern."
"Das ist also nicht das Ergebnis deiner Verführungen?"
Verunsicherung war in seiner Stimme zu hören.
"Ich bin ein Freund der Natur. Ich säge doch nicht den Ast ab, auf dem ich sitze."
Er schwieg.
Eine Weile lauschten wir dem Sandsturm, der bald an der Stadtgrenze angekommen war. Wir hatten nur noch Sekunden.
"Immerhin hatte ich die Gelegenheit, einmal mit dem Teufel persönlich zu sprechen", meinte er mit tiefer Ruhe in seiner Stimme. Es rührte mich tatsächlich ein wenig, diese Szene mitzuerleben, ein Teil von ihr zu sein. Der Tod des letzten Menschen. In wenigen Augenblicken im Sandsturm zerfetzt. Ich beschloss, ihm einen Gefallen zu tun.
"Viel Glück vor Himmels' Pforten", rief ich ihm durch das zunehmende Getöse des Sturms zu und verpasste ihm einen Tritt. Ohne einen Schrei stürzte er in die Tiefe.