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Menschen am Strand

Monster-WG
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04.03.2018
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Menschen am Strand

»Warum isst du die Weißen nicht?«, fragt Zozo.
»Die Weißen, die sind gemein«, antwortet Oriol. Er pickt ein Weißes aus der Tüte, legt es quer auf den Daumennagel und schnippt es im hohen Bogen weg. Es fällt mit einem leisen Patsch ins Wasser. Ein Fisch schnappt danach. Kleine Ringe tanzen auf der Oberfläche, der Fisch schlägt kräftig mit der Schwanzflosse und taucht unter.
Die Sonne steht tief und tanzt mit flirrenden Strahlenspitzen auf dem Wasser, ein löcheriger Vorhang aus graubraunen Wolken zieht vor dem orangeblau gefleckten Himmel auf.
Der Fisch ist aufgetaucht und wackelt einen langgezogenen Halbkreis, bevor er zuckt und untergeht. Kurz darauf dreht sich der helle Bauch nach oben.
Oriol schüttelt den Kopf. »Da war wohl jemand zu gierig.« Durch die schwarzen Strähnen, die ihm über die Stirn fallen, streift sein Blick Zozo, er senkt den Kopf. Zozo starrt auf die Stelle, wo der Fisch im Wasser treibt. Die Strömung unter der Steinbrücke nimmt ihn auf, schaukelt ihn sachte.
»Hast du das gewusst?«, fragt sie. Oriol zuckt die Schultern, dreht den Rücken zum Wasser, stützt beide Hände hinter sich auf die Brüstungsmauer.
»Ist doch egal, oder?«, sagt Oriol und Zozo fragt sich, ob er die Absicht meint oder den Fisch. Er knistert mit der Tüte, greift sich den nächsten Drobs.
»Wer sagt's denn, einmal 'Engelsblau', Teufel nochmal, das brennt auf der Zunge wie Schlumpfscheiße.« Oriol pfeift durch die Zähne, steckt sich den Blauen in den Mund und schnauft wie ein Pferd.
Zozo muss grinsen, weil sie noch nie darüber nachgedacht hat, ob Schlümpfe auch scheißen und ob die Scheiße blau ist, geschweige denn ob die auf der Zunge brennt. Sie weiß, Oriol zieht eine Show ab, aber das ist gerade egal.
»Du bist echt merkwürdig.« Zozo sucht seinen Blick. Oriol schaut über das Wasser, macht den Mund auf und streckt ihr seine blaue Zunge raus.
»Schlimmer als die Blauen sind nur die Silverdrobs.« sagt er. Mit seinen gelben Augen erwidert er Zozos Blick. »Da läuft dir heißes Eisen die Kehle runter.
Zozo schluckt. Gerade wenn sie sich ein wenig näher fühlt, sagt er wieder sowas. Oriol ist wirklich sehr speziell. Wie er sie anschaut, wie er redet und was er sagt, fremd ist das, niemand redet so. Nicht da, wo sie herkommt, aber von da kommt er ja auch nicht. Woher will er das alles wissen?
Sie wendet den Blick ab, schaut runter auf ihre nackten Knie. Unter ihren knallroten Lackboots wälzt sich träge der dunkle Fluss zwischen den vermoosten Brückenpfeilern hindurch. Vor der Brücke versinken die letzten Sonnensplitter im schwarzen Wasser.
»Gibt's überhaupt welche, die gut schmecken?« fragt sie.
»Klar, die Roten, hm, nach blutigem Steak … und die Gelben«, sagt Oriol und grinst. »Wonach schmecken die, was meinst du?«, fragt er.
»Weiß nicht, obwohl warte, ganz sicher Zitrone.«
Oriol fletscht die Zähne und hält Zozo die Tüte hin. »Nimm mal eins.«
Zozo fingert in die Tüte, holte ein Gelbes heraus, riecht daran und rümpft die Nase. Sie knabbert ein winziges Stück ab und nimmt es in den Mund. Schnell spuckte sie es aus und wischt über den Mund.
»Alter, ist das widerlich, wer isst so was?«
Oriol kneift die Augen zu und grinst. Er hält die Hand auf. Zozo sagt nichts und legt den Rest vom Gelben auf seine Handfläche.
»Ich … und alle, die so sind wie ich.«
Oriol wirft das Gelbe in die Luft und schnappt es mit dem Mund. Beim Kauen verzieht er keine Miene. Als er rülpst, klopft er mit der Faust auf die Brust und zeigt mit einem Lachen seine blanken Eckzähne.
Er sucht Zozos Blick, kommt dem Gesicht näher, flüstert in ihr Ohr. »Weißt du, ich mag manches, was sonst niemandem gefällt.« Zozos Nackenhaare stellen sich auf, sie hebt das Kinn und dreht den Kopf leicht …

– »Sonja!« –
Zozo tippt zweimal auf die rechte Kante, der UltraVR Helm löst sich von Stirn und Schläfe und klappt auf. Sie blinzelt, schiebt das Teil auf die Station. Mist, sie hat nicht mitbekommen, dass Frau Berger aufgewacht ist.
– »Sonja!« –
»Ist gut, ich komme.« Zozo reibt die Augen, fährt mit den Fingerspitzen über die gerötete Haut der Schläfe. Ihre Hand wandert tiefer, zu der Stelle an ihrem Hals, wo er sie angehaucht hat. Sie spürt dem Ziehen nach, hinunter in die Brust, atmet tief und wartet, bis es aufhört.
Als sie die Tür öffnet, schaut Frau Berger sie mit großen Augen an.
»Sonja, wo bleiben Sie denn?« Der Fernseher gegenüber dem Pflegebett steht auf maximaler Lautstärke. Die übliche Vorabend-Quizshow läuft. Das Abendbrot auf dem Tablett ist kaum angerührt.
»Ich war kurz nebenan.« – Wie?« – Applaus vom Band brandet auf. Zozo geht zum Pflegebett, wiederholt ihre Antwort und setzt ein Lächeln auf.
»Sonja, gleich kommen die Nachrichten, ich möchte vorher noch auf Toilette.« Der Moderator stellt die nächste Frage, im Sekundentakt zählt ein nervtötender Beeper rückwärts. Zozo atmet laut aus. Sie dreht den Tablettwagen zur Seite, schlägt die Bettdecke zurück, fasst beide Beine an den Unterschenkeln und dreht sie nach vorne. Sie bückt sich, hebt die Pantoffeln auf und steckt sie über Frau Bergers verkrümmte Zehen, dann richtete sie sich auf.
Vorsichtig greift sie hinter die Achseln, eine Wolke aus altem Schweiß nimmt ihr den Atem. Sie hält die Luft an, zieht Frau Berger in den Stand und dreht sie zum Rollstuhl. Als sie umgreift, lässt Frau Berger sich fallen. Zozo hält sie an den Händen fest, so gut sie kann. Die alte Frau stöhnt.
»Der Jerome …, ach schon gut.«
Zozo erwidert leise: »Tut mir leid, aber ich bin nicht der Jerome.« Zozo spürt den Schmerz im unteren Rücken und den Zorn, denn sie kennt das, das Stechen wird sie bis morgen begleiten.
Mit kleinen Schritten schiebt sich Frau Berger Richtung Bad, der Rollstuhl rollt gegen den Türrahmen. Zozo zieht ihn zurück, schiebt ihn zur Türmitte. Frau Berger will nicht geschoben werden, sie besteht darauf, alles selbst zu tun, wozu sie noch in der Lage ist. Bevor Frau Berger durch die Tür gefahren ist, schaltet Zozo das Licht an.
Sie geht in die Küche, setzt Teewasser auf und schaut aufs Smartphone. Eine Nachricht. Komme später, Bahn fährt nicht, bis später, LG Silke.
– »Scheiße!« –
Draußen im Licht der Straßenlaternen tobt Eisregen, heftiger Wind fegt die letzten Blätter von den alten Kastanien. Zozo wird den Bus verpassen, der nächste fährt erst kurz vor acht. So lange wird er nicht on sein und warten. Heute Morgen sah es nicht nach schlechtem Wetter aus, sie hat nur eine dünne Jacke, bis sie zuhause ist, wird sie nass sein bis auf die Knochen.

»Stabil, Alter.« Zozo geht an den Türstehern vorbei in den Club, schlängelt sich durch die Leute. Auf dem Mainfloor wird geshuffelt, eine halbe Treppe drunter liegt die BLCKBX. Schwarzlicht lässt Zähne und Augen blitzen, tunkt Brillen, Armbänder und Schnürsenkel in grelles Neon. Oriol wird nicht da sein, sagt sie sich und schaut sich um. Heftige Bässe schlagen in den Magen, lassen ihre Unterschenkel zittern. Trettmann feat. KitschKrieg. Einige Vamps sind da, Oriol ist nicht dabei. Zozo hält sich fest, der Bass ist komplett brutal und fetzt ihr in die Waden. Tief unten in ihrer nassen Jacke hat sie eine halbe Benzo gefunden, schmeißt sie ein und spült mit einem Drink vom nächsten Tisch. Wenig später setzt die Wirkung ein. Auf der Backwall labert ein Influencer, hält schwarze Sneaker und bedruckte Festivalklamotten in die Kamera, der nächste wirbt für Eckzahnimplantate, product placing speziell für Vamps.
Zozo hebt die Arme, auf dem Floor ist es heiß, ein dampfender Strudel aus Leibern, der sie aufnimmt und in der Mitte ausspuckt. Sie dreht sich im Kreis, saugt das Ultraviolett mit den Augen auf und schließt die Wimpern, ihre roten Lackboots kicken im Takt. Sie atmet schneller, ein Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Endlich fühlt es sich richtig an, für einen kurzen Moment ist sie nicht lost, sondern ganz bei sich, auch ohne Oriol.
Dann nimmt sie jemand in den Arm, sie lässt die Augen geschlossen, will nicht wissen, wer sie berührt, genießt das Streichen von Haut über Haut. Sie atmet den anderen Duft, fährt mit den Fingern durch unbekannte Haare, lässt sich tragen von Händen und tastenden Fingerspitzen, bis diese zu forsch und zu fordernd werden. Mit einem Ruck löst sie sich, es wird Zeit zu gehen. Hinter dem DJ stehen die Vamps, Oriol ist dabei, er lacht und lässt seine Eckzähne blitzen. Neben ihm steht eine Rothaarige, er beugt sich hinunter zu ihrem Ohr, nimmt sie in den Arm. Zozo steht starr, kann sich nicht bewegen, atmet nicht. Dann schweift Oriols Blick rüber zu ihr, er löst sich aus der Gruppe, kommt auf sie zu. »Zozo …«
Zozo reißt sich den Helm vom Kopf und pfeffert das Teil durchs Zimmer. »So eine Scheiße!« Ein Heulkrampf schüttelt sie durch. Der Wecker zeigt ein Uhr achtundreißig.

»Guten Morgen, Sonja, heute ist ein schöner Tag, um zehn kommt der Friseur ... Alles in Ordnung bei Ihnen?« Frau Berger sitzt in ihrem Bett, die Decke glattgestrichen unter die Beine geschlagen. Silke ist alte Schule, letztes Jahrtausend, alles neat and clean. Sogar vom Frühstück hat Frau Berger gut gegessen, das Tablett steht noch auf dem Wagen.
»Alles okay, Frau Berger«, sagt Zozo, »ich bin nur ein bisschen erkältet und müde.«
»Aha, ein bisschen erkältet also …« Frau Berger schaut sie prüfend an.
»Wollen Sie uns einen Tee kochen, Sonja?«
Die Zweige der Kastanien sind mit sauberem Schnee bestäubt. Tausend weiße Augenbrauen glotzen sie an. Zozo ist froh, dass nicht auch noch die Sonne scheint und alles unecht glitzert.
»Bin gestern erst spät zuhause gewesen, weil ich lange auf den Bus warten musste. Und bei dem Wetter …«
»Ja, da muss man sich schon richtig anziehen. Sie stecken mich aber nicht an, Liebes?«
»Nee, Frau Berger, ich bin nur ein bisschen angeschlagen, aber nicht richtig krank. Mir fehlt gerade Zeit zum Durchschnaufen, bei den vielen Vertretungsdiensten ...«
»Sie können sich ja gleich was hinlegen, ich komme schon klar, aber dann auch wirklich ausruhen und nicht wieder das Ding auf den Kopf.« Frau Berger tippt an ihre Schläfe.
Zozo liegt es auf der Zunge, Frau Berger zu sagen, dass sie keine Ahnung hat, wie es ihr geht und was ihr fehlt, weil Sie ihr Leben nicht kennt und dass sie in ihrer Wohnung nichts von der Welt mitbekommt und sich trotzdem rausnimmt, über sie zu urteilen.
»Dabei weiß Sie einen Scheiß!« Das ist Zozo rausgerutscht und sie kann es nicht mehr zurücknehmen, nur noch versuchen, es zu entkräften. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Schon gut, das ist schon okay. Was raus muss, darf raus, immer.«
Frau Berger schaut sie an. »Es kann sein, dass ich einen Scheiß weiß, wie sie meinen. Ich bin ja nicht mehr up to date und ich kenne Sie nicht gut, aber auf mich wirken sie nicht glücklich. Dabei hätten Sie allen Grund dazu. Ich möchte Ihnen etwas erzählen, später, wenn Sie sich ausgeruht haben.«

Zozo versucht es auf dem Gothyard, es wimmelt vor Vamps. Auf den Grabsteinen flackert rote Laufwerbung, künstliche Fackeln erleuchten die Wege. Aus den Speakern tönt ein Spinett, irgendwas super Uraltes, die Vamps gehen total ab, stellen sich in Formation und beginnen mit dem Schreittanz. Fräcke und bauschige Röcke wippen im Takt, weiße Blusen und Hemden leuchten hell aus der Dunkelheit. Die Musik wechselt, ein harter Goth Rave wummert los, sofort zerfällt die Formation in ein wild moshendes Durcheinander. Zozo liebt die Musik, an einem anderen Tag wäre sie schon mittendrin, aber heute geht es nicht.
An mehreren Plätzen wird Bloodeaux vom Fass ausgeschenkt, Pillen und Drobs. Zozo holt sich einen Drink. »Hier, probier Mal!« Jemand tanzt sie an, hält ihr einen Drobs hin, Zozo nimmt ihn in den Mund, sofort zieht sich ihre Kehle zusammen, mit jedem Schlucken mehr. Der Typ lacht. Sie spuckt den Drobs aus, keucht nach Luft, schreit dem Typen ein Idiot! ins Gesicht. Sie geht weg von ihm, schaut sich um, ob sie wen kennt. Durch Beine flackert das Campfire. Oriol tanzt mit der Rothaarigen dort, Funken stieben hoch in den Nachthimmel. Er hält sie an der Hand, sie tanzen so'n Discofox-Scheiß, einfach nur zum Weggucken. Die Rothaarige dreht sich in Oriols Arm und lässt sich von ihm küssen.
Eine Rakete ist in Zozos Kopf explodiert. Mit einem Mal ist alles zu viel und komplett falsch. Zozo spürt es, das ist nicht ihre Welt, wird es nie sein, denn sie gehört nicht dazu. Das was sie hier finden kann, das ist alles nicht wahr. Sie nimmt den Helm ab und legt ihn weg.
Sie wird nicht wiederkommen. Als sie das versteht, überkommt sie die Traurigkeit des Abschieds und zugleich eine Erleichterung, weil sie es nicht mehr versuchen muss.

»Als ich so alt war wie Sie, war ich einen ganzen Sommer lang in Griechenland unterwegs. Traveln haben wir das damals genannt, ich weiß nicht, was ihr heute sagt, vielleicht dasselbe. Ihr seht euch ja auch viel am Handy und im Internet, social media und so, das gab es damals noch nicht. Jedenfalls habe ich im Süden Kretas jemand kennengelernt, einen jungen Mann aus Freiburg, ein Schauspieler, der gerade seine erste Theaterrolle gespielt hatte. Das war der Joe, von Johannes. Und der Joe machte auch richtig lange Urlaub an einem einsamen Strand, wo es nur auf einem großen Felsen im Meer eine kleine Taverne gab. Kleinigkeiten zu Essen gab's da und frisch gebrühten Mokka. Der Grieche, dem die Bude gehörte, fuhr regelmäßig mit dem Boot Vorräte organisieren und hat die Leute am Strand mit dem Nötigsten versorgt.
Ab und zu gingen welche von den Strandmenschen ins nächste Dorf, wobei Dorf schon übertrieben ist bei nur zwei Handvoll Häusern. Eines davon, das direkt am Anleger, das war eine Pension mit drei Zimmern, einem Briefkasten und einem winzigen Restaurant, da hab ich den Joe kennengelernt. Joe hatte da in einer Abstellkammer seinen großen Rucksack deponiert mit der ganzen warmen Wäsche für Deutschland. Am Strand brauchte er ja nichts, da liefen alle rum wie Adam und Eva. Jedenfalls hat er was aus dem Rucksack geholt oder es gab Post für ihn, ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Wie haben Sie Joe kennengelernt?«
»Ich bin vom Boot runter und saß kaum, da hat der Joe mich angeschnorrt wegen einer Zigarette. Bisschen verwegen sah der aus, der Joe, mit seinen wilden Locken und dem Ohrring und dunkel wie ein Brathähnchen war der von der vielen Sonne. Normal kann ich Schnorrer nicht leiden, aber der Joe, der war nicht so einer, der hatte eine Art, so offen und sympathisch. Man konnte ihm einfach schlecht böse sein und ich glaube, das wusste der auch.« Frau Berger lächelt, nimmt einen Schluck von ihrem Tee.
»Beim Rauchen hat er mir von dem Strand erzählt und dann bin ich am selben Nachmittag dahin, er hat mich schon neugierig gemacht mit seinem Strand, Sweet Water Beach hat er ihn genannt – aber der wahre Grund war nicht der Strand …, natürlich nicht.«
»Kann ich mir denken«, sagt Zozo.
Frau Berger streicht mit flachen Händen über die Decke. Ihre Augen schauen in die Ferne, wo das vorbeizieht, was sie damals erlebt hat.
»Schön war's mit Joe, für mich war's das erste Mal, so Hals über Kopf. Der Strand jedenfalls, der war ein Traum, feine weiße Kieselsteinchen und das Süßwasser, das sprudelte an einigen Stellen direkt aus dem Boden. Man musste nur eine Kuhle graben und die Hände reinhalten. So etwa …« Frau Berger legt die Hände übereinander, formt eine Schale. »Das hat gereicht.«
Zozo nickt, sie ist noch nie in Griechenland gewesen, nur in Österreich und Belgien.
»Wo haben die Leute denn gepennt?«
»Einige wenige direkt vorne am Strand, wo es weniger Mücken gab. Aber die meisten unter einem Felsüberhang weiter hinten, da waren Steine aufgeschichtet, gegen den Wind. Jeder hatte seine kleine Mauer, da haben auch wir geschlafen. Ich kann mich erinnern an viele Abende am Lagerfeuer und wir haben so viel geredet.
Was soll ich sagen, es blieben noch knappe drei Wochen, bevor ich wegen meines Studiums zurück musste und jeder einzelne Tag davon war für uns ein Geschenk.«
»Was ist dann passiert?«, fragt Zozo.
»Ich flog zurück und Joe ist geblieben. Ich hatte seine Nummer in Freiburg und er hatte mich zu sich eingeladen. Aber daraus wurde nichts. Oben an der Abbruchkante stand eine Pumpstation die das Dorf mit Süßwasser versorgte. Betrieben wurde sie durch einen Dieselgenerator, der Tag und Nacht leise vor sich hinwummerte.
Ob sich durch die Vibrationen ein Teil der Felswand gelöst hat oder ob es andere Gründe gab, wurde von offizieller Seite nie untersucht. Jedenfalls hat der Hangsturz fast alle unter sich begraben, die nahe an der Wand schliefen. Joe hatte es nicht geschafft, er war unter den dreizehn Toten.«
»Oh mein Gott, das war bestimmt hart.«
»Ja, das war es, aber das ist ja schon eine Ewigkeit her.« Frau Berger schaut in Zozos Augen und Zozo spürt, dass noch was kommt.
»Manchmal denke ich noch an Joe und auch an einen bestimmten Abend am Lagerfeuer. Jemand meinte damals, dass er nicht sicher sei, ob er Kinder in die Welt setzen will, wegen der schweren Zeiten, der Überbevölkerung und der atomaren Bedrohung.«
»Hab davon gehört«, sagt Zozo.
»Joe hat geantwortet, selbst wenn wir alle in einer Katastrophe sterben, ob es denn nicht auf jeden einzelnen Tag ankommt, den ein Mensch geliebt wird und glücklich ist. Und ob das nicht reichen würde. Das habe ich nie vergessen.«
Frau Berger wischt mit dem Zeigefinger unter dem Auge lang und blinzelt. Sie hält Zozo die Hand hin.
»Ich bin übrigens die Walli.«
»Und ich die Zozo. Sonja sagt eigentlich niemand zu mir ..., außer Ihn… äh, dir.«

Zozo sitzt im Zug nach Hamburg. Außer ihr sind kaum Leute im Abteil, neben ihr steht ihr neuer Rucksack. Eine Nachricht kommt rein. Gute Reise wünscht die Walli. Smiley. Vor dem Fenster fliegen Straßenlaternen durch die Dunkelheit. Die Bäume im Lichtschein haben einen zarten grünen Frühlingsflaum.
In der Hand hält sie das Ticket. Der heutige Tag steht darauf und die Zeit von der Ankunft in Chania, ein magischer Name für einen magischen Ort. Chania klingt für Zozo nach Süden, nach salziger Luft und nach Menschen am Strand.

 

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