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- 09.12.2016
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Mensch ärgere dich nicht
„Ihr habt Glück, dass die Sicht heute so klar ist“, sagte Lilli, als sie aus dem Wellblechcontainer trat und mich den Himalaya bewundern sah. Die Luft war frisch und roch nach Pinien, von der Straße tönte Kinderlachen zu uns herüber. Lilli stellte ein Glas dampfenden Masalachai vor mir auf den wackeligen Tisch. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, setzte sich neben mich auf den Betonvorsprung und lehnte den Rücken an die Außenwand des Containers. „Die Schneespitzen sind nur ganz selten zu sehen.“
„Wahnsinns-Begrüßungsgeschenk! Als wir das letzte Mal hier waren, war es so dunstig, dass ich dachte, hinter dem Dorf ist die Welt zu Ende.“
Ich nahm das Teeglas in beide Hände, pustete und trank in kleinen Schlucken. „Aber sonst scheint sich hier nichts verändert zu haben. Na ja … Euer Café ist neu.“ Ich wies mit dem Kopf auf den Container. „Und du siehst jetzt aus wie ein Hippie.“ Lachend zog ich an einem der mit Mehl besprenkelten Dreadlocks, die wie Drähte von Lillis Kopf abstanden.
Sie lächelte schief und blickte über das Blumenbeet zur Straße, wo Rani mit ein paar anderen Kindern Ringelreihen spielte. „Erst haben wir gedacht, es gibt Stress, weil wir nicht von hier sind. Aber ist auch für die locals gut, wenn mehr Touristen kommen. Gibt mehr Geld.“ Sie zog eine Zigarette aus der Schürzentasche und seufzte. „Der Kleinen kann ich nichts Schöneres bieten, als hier aufzuwachsen. In Deutschland … Nee.“
In der Abenddämmerung kam ein leichter Wind auf, die Räder der kleinen Windmühlen im Blumenbeet begannen sich zu drehen. Ich musste die Flamme mit der Hand abschirmen, um Lilli Feuer geben zu können.
„Bin schon total gespannt auf sie“, sagte ich.
Lilli blies den Rauch aus und sah ihm hinterher. „Lass uns mal wieder reingehen“, sagte sie. „Wird allmählich zu kalt hier draußen.“
Von der Straße ertönte zänkisches Geschrei.
„Rani, hopp! Komm rein!“, rief Lilli. „Ist Zeit, ‘ne lange Hose anzuziehen.“
Im Container krächzte Janis Joplins Cry baby aus den Boxen, der Wind glitt durch die offene Tür und blähte die bunten Tücher an den Wänden auf. Ganga Ji, Lillis Mann, stand am Herd hinter dem Tresen, schüttelte eine Pfanne zischender Zwiebeln und lächelte mir höflich zu. Seine hüftlangen Dreadlocks waren kurzem Haar gewichen. Ordentlich geschnitten und gekämmt unterschied es ihn kaum von Millionen anderen indischen Männern.
Als Lilli mich zu sich hinter den Tresen winkte, versuchte ich mir den Ganga Ji von damals vorzustellen. Den, der als heiliger Mann auf der Straße gelebt hatte, nur mit einem langen Wickeltuch um die Hüften und einem weiteren um den Kopf geschlungen. Wegen seines verschmitzten Lachens war Lilli während eines Yogaurlaubs auf ihn aufmerksam geworden. Sie engagierte ihn als Reiseführer, um ein anderes Indien zu sehen als die meisten Touristen. Danach kündigte sie ihren Bürojob in Deutschland, heiratete Ganga Ji und lebte seit zehn Jahren in diesem Bergdorf.
Wie ein deplatziertes Möbelstück stand ich hinter dem Tresen herum. Eine Gruppe junger Israelis verteilte sich auf Matratzen vor niedrigen Tischchen und bestellte gebratene Nudeln. Als Ganga Ji sie servierte, sah ich, dass er teure Wanderschuhe mit offenen Schnürsenkeln trug. Sie wirkten viel zu groß. Ohne ein Wort stellte er die Teller ab.
„Obwohl ich auch froh bin, wenn ich sie mal los bin“, hörte ich Lilli neben mir. Sie rollte Kuchenteig auf einer Anrichte, lachte und zog in ihrer typischen Art die Nase kraus. „Die ganze Arbeit hier im Café, und dann will sie auch noch ständig Aufmerksamkeit.“
„Wo ist Arjun?“, rief Ganga Ji mir zu.
„Schläft“, sagte ich. Er nickte.
Rani stürmte mit glühenden Wangen herein, rannte zu Lilli und erzählte von ihrem Tag, während sie ab und zu verstohlen zu mir herübersah. Sie sprach perfekt Deutsch, nicht nur für eine Vierjährige, die in Indien aufwuchs. Lilli gab Ratschläge, sah an ihr herab und schnitt Grimassen, bevor sie laut singend eine frische Unterhose aus dem Stapel Kinderwäsche neben sich auf dem Hocker kramte. Rani hüpfte lachend auf und ab.
Gegen neun kam Arjun, um mich abzuholen. Sein dichtes, schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, die Turnschuhe trug er ohne Socken. Es würde nicht lange dauern, bis er sich darüber beschwerte, den Gestank nicht mehr aus den Schuhen zu bekommen. Ganga Ji holte eine Flasche unter dem Tresen hervor, goss sich und Arjun einen doppelten Whisky ein und füllte das Glas bis zum Rand mit Wasser. Die Gläser klackten aneinander, dann tranken die Männer sie in einem Zug aus.
Der Wind ließ nach, als wir zwei Stunden später auf den Pfad zu unserem Gästehaus einbogen. Arjun zappelte neben mir herum und schubste mich immer wieder sanft im Spaß. Ich wehrte ihn lachend ab, kramte mein Handy aus der Bauchtasche, schaltete die Taschenlampe ein und blickte mich nochmal um. Die kleine Familie tuckerte auf dem Scooter die spärlich beleuchtete Dorfstraße hinab. Rani saß schlafend in der Mitte, auf dem Trittbrett thronte Goofy, die beigefarbene Promenadenmischung mit den Schlappohren.
„Ich freue mich so, dass die beiden es tatsächlich geschafft haben, sich hier was aufzubauen“, begann ich und wich einer weiteren Schubsattacke aus. „Hast du eigentlich schon gefragt, ob du im Café mithelfen kannst?“
Arjun spuckte einen Strahl Pan in den Knick und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Ganga Ji hat es mir schon angeboten“, sagte er. „Wollte ich dir sowieso erzählen.“
„Echt?“ Ich blieb stehen. „Das ist ja super! Dann kann ich mich um meine Übersetzungen kümmern und ab und zu auf Rani aufpassen. Klingt doch nach 'ner super Saison.“
Arjun zog mich zu sich heran und drückte mir einen Kuss auf den Mund.
Rani brachte zwei ihrer vielen Puppen mit ins Café. Beiden hatte sie die Haare abgeschnitten.
„Komm, wir spielen“, sagte sie in einem Ton, als wäre ich schon immer da gewesen, legte ihre kleine Hand in meine und zog mich in den Garten hinaus. Weil Sonntag war, trug sie ein rosa Tüllkleid. Am Unterrock hatte sich der Saum gelöst und schliff wie das ausgefranste Überbleibsel einer Schleppe hinter ihr her. Sie raffte den Rock, setzte sich auf den Betonvorsprung unter den Rhododendronstrauch und gab mir eine der Puppen in die Hand. Lilli drückte ihre Zigarette in einer verrosteten Blechdose aus und zwinkerte mir zu.
„Das macht sie normalerweise nicht“, sagte sie. „Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“
Sie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da zerrte Rani schon an meinem Ärmel.
„Du bist die Mutter, ich bin das Kind. Du musst sagen, dass ich jetzt ins Bett soll.“
„Hmmm“, sagte ich. „Eigentlich wollte ich aber was ganz anderes sagen. Ich wollte sagen, dass …“
„Doch! Du musst!“
„Und du musst die Dana auch mitspielen lassen“, sagte Lilli, erhob sich und verschwand im Container.
In den folgenden Minuten muckte ich noch ein paarmal auf, dann plapperte ich alles nach, was Rani mir diktierte. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass Vierjährige sich nicht länger als eine Viertelstunde konzentrieren könnten. Das würde ich gerade noch durchhalten, ohne unser erstes Treffen mit einer Puppenschlacht zu beenden.
Etwa eine Stunde später kam Lilli, um ihre Tochter zum Essen zu bewegen, aber Rani blickte sie nur verständnislos an. Erst, als sie am späten Nachmittag aufs Klo musste, konnte ich durchatmen. Ich fischte eine Zigarette aus meiner Tasche, raufte mir die Haare und kam mir vor wie nach einer Doppelschicht im Callcenter. Den Rücken am Container, plierte ich einem knallblauen Schmetterling hinterher und genoss den ersten Zug. Drinnen gröhlte Joe Cocker: With a little help from my friends, lautes Lachen drang zu mir heraus. Lilli unterhielt die Gäste mit Anekdoten aus ihrem Leben in den Bergen.
Rani zog an meinem Ärmel. „Weitermachen!“
Ich biss die Zähne zusammen. Gleichzeitig hämmerte ich mir ein, dass sie erst vier war, es wäre albern, sie als Terroristin zu beschimpfen. Trotzdem konnte ich mir ein genervtes Stöhnen nicht verkneifen und klatschte mir etwas zu heftig auf den Oberarm. Die Mücken fingen bereits zu stechen an.
Endlich kam Lilli mit einem „Tadaaaa“ in den Garten gesprungen und verharrte in Kampfstellung, einen unsichtbaren Säbel in der Hand. Rani kicherte.
„Mäuschen, komm. Ist Zeit, nach Hause zu gehen.“ Lilli setzte sich neben ihre Tochter. Ich atmete auf.
„Nein!“ Rani verschränkte die Arme vor der Brust und kickte mit den Hacken ihrer schwarzen Lackschühchen gegen den Betonvorsprung.
„Bald sind Ferien. Da kannst du den ganzen Tag mit der Dana spielen.“
„Ja, wenn ich Zeit hab, spiel ich gerne mit dir“, beeilte ich mich zu sagen.
„Du hast immer Zeit!“, rief Rani. Lilli lachte.
Arjun kam spät, und so schaffte ich doch noch eine halbe Übersetzung, bevor er gegen Mitternacht ins Zimmer stolperte.
„Boah, hast du 'ne Fahne“, sagte ich, als er mir um den Hals fiel.
„Ja, Ganga hat wieder 'ne Flasche Whisky aufgemacht “, sagte Arjun leicht lallend. „Und die Typen, die Lilli so zum Lachen gebracht hat, waren auch noch lange da.“ Er zog sich umständlich das T-Shirt über den Kopf, steckte einen Moment lang fest und eierte im Zimmer herum. Ich kam ihm lachend zu Hilfe.
„Findest du nicht, dass Lilli sich ein bisschen zu lange mit denen unterhalten hat? Ganga hat schon ganz finster geguckt.“
Ich verdrehte die Augen. „Ihr Inder habt immer gleich Hintergedanken. Wieso? Hat er was gesagt?“
„Nein. Der sagt ja nie viel.“
Ich wandte mich wieder dem Laptop zu und gähnte.
„Kommst du nicht ins Bett?“, fragte Arjun.
„Nein, ich muss noch ein bisschen weitermachen hier. Hab heute nicht viel geschafft.“
Arjun kroch unter die Decke. Wenige Minuten später schnarchte er so laut, dass ich erst einschlief, als es dämmerte.
„Daaaanaaaa!“
Ich schreckte aus dem Tiefschlaf. Meine Augen waren verklebt, ich konnte sie nur einen Spalt breit öffnen. Das Display meines Smartphones zeigte Viertel vor acht. Arjun schmatzte vor sich hin.
„Daaaanaaaa! Iiiich biiiin's, Raaaaniiii!“
Ich wollte aufspringen und ihr erklären, dass es noch zu früh wäre, besann mich aber, dass mir am Vortag nicht mal eine Pause gegönnt worden war und blieb bewegungslos unter der Decke liegen. Rani tippelte ums Haus. Dann erschien ihre verschwommene Gestalt an dem großen Milchglasfenster, hinter dem die Terrasse lag. Es reichte fast bis zum Boden. Sie legte ihre Puppen auf die Fensterbank und drückte die Nase an der Scheibe platt, die Hände als Sichtschutz an die Schläfen gelegt. Ich hörte auf zu atmen und starrte sie an. Obwohl ich wusste, dass sie mich nicht sah, zog ich die Decke im Zeitlupentempo bis zur Nasenwurzel.
Rani setzte sich auf die Fensterbank und guckte in die Gegend, die Glatzenpuppen im Arm. Einen Moment lang fühlte ich mich so schlecht, als hätte ich sie ausgesetzt. Aber dann sagte ich mir, dass sie sich gar nicht erst angewöhnen solle, mich nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
Die Wochen vergingen. Arjun hatte sich gut im Café eingearbeitet. Erst war er nur zu den Stoßzeiten da, aber es kamen immer mehr Yogatouristen, und er musste bald jeden Morgen vor acht aus dem Haus. Rani nutzte die Gelegenheit, zur Tür hereinzuschlüpfen.
Anfangs fragte ich sie manchmal, ob sie ihren Eltern entwischte, denn der Bus zur Vorschule fuhr genau zu der Zeit ab, in der sie bei uns auftauchte. Aber Rani wich meiner Frage ständig aus, und als ich sie so weit hatte, mich erst Kaffee trinken zu lassen und beim Spielen für mich selber zu sprechen, gewöhnte ich mich an ihre Besuche. Ich ertappte mich sogar dabei, mich zu fragen, wo sie blieb, wenn sie mal nicht kam.
„Sie will einfach nicht in die Vorschule“, sagte Lilli eines mittags, als sie im Schneidersitz neben mir im Café saß. Ich war ausnahmsweise mal allein, Rani war auf dem Weg stehengeblieben, um ein Vogelnest zu begutachten. „Sie tut dann immer so, als ob sie kotzen muss, aber ich weiß genau, dass sie nur simuliert. Das nützt aber nichts, wenn ihr Vater ...“ Bei dem Wort Vater hob sie die Stimme und sah zu Ganga Ji hinüber, der mit dem Nachbarbauern Mensch ärgere dich nicht spielte, „ ... ihr jedes Mal sagt, sie müsse nicht gehen, wenn sie nicht will.“
Der Würfel klackte in einem kleinen Filmdöschen, das Ganga Ji langsam zwischen Daumen und Zeigefinger schüttelte. Sein Gegner und er saßen sich auf Plastikstühlen an dem einzigen großen Tisch gegenüber. Lilli bat Arjun, ihr einen Kaffee zu machen, seufzte und griff nach der Zigarettenschachtel neben sich.
„Willst du auch Kaffee?“, fragte Arjun über den Tresen. Als ich nickte, warf er mir einen Luftkuss zu.
„Ach ja, bevor ich's vergesse“, begann Lilli und lachte ein wenig hölzern. „Du hast letztes Mal vergessen, deinen Tee zu bezahlen.“
„Oh.“ Ich holte meinen Geldbeutel aus der Tasche.
„Muss nicht jetzt sein.“ Sie legte die Hand auf meinen Unterarm. „Du kannst ihn auch zusammen mit dem Kaffee ...“
„Nee nee, lass mal. Sonst vergess ich's wieder.“
Arjun kam mit dem Kaffee. Ich bekam ein Glas, Lilli einen gelben Plastikbecher mit einem Angry Bird-Bild. Sie lachte.
„Das passt ja genau zu meiner Stimmung“, sagte sie, straffte den Rücken und drehte ihren Körper einmal nach links und rechts, bis es knackte. „Dein Mann weiß wenigstens, wie er andere aufmuntert.“
„War keine Absicht.“ Arjun grinste und zeigte seine Grübchen. „Alle Gläser sind dreckig, da musste ich dir Ranis Becher geben.“
„Du bist echt 'ne große Hilfe.“ Lilli ließ die Scheine in ihrem BH verschwinden. „Bisher hatten wir hier nur begriffsstutzige Aushilfen. Aber so kann ich wenigstens in Ruhe Kuchen backen und mich um Rani kümmern. Ihr Vater tut das ja nicht.“ Wieder hob sie die Stimme und sah zum Tisch hinüber. „Ich hab das Spiel extra versteckt, damit er hier nicht morgens schon rumhängt und spielt und ich wieder alles alleine vorbereiten muss“, wandte sie sich in gleichbleibender Lautstärke an mich. „Aber das bringt natürlich nichts, denn der Herr kauft einfach ein neues.“
Ich nickte, nippte hastig an meinem Kaffee und verbrannte mir den Mund. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Ganga Ji mich fixierte. Als ich ihm zulächeln wollte, traf mich sein starrer Blick direkt in die Magengrube. Ich sah in mein Glas und pustete immer schneller.
Rani kam durch die Tür gefegt. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie sah den Becher in Lillis Hand und fing an zu kreischen, bis sie kaum noch Luft bekam.
„Mein Beeeeecheeeeeer!“
„Nee, da gehe ich jetzt nicht drauf ein“, begann Lilli und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Ich finde, ihr Vater könnte sich jetzt auch mal kümmern.“ Sie zog das versteckte Mensch ärgere dich nicht-Spiel unter der Matratze hervor, klappte das Brett vor sich auf dem Tisch auf, fingerte die Figuren aus einem kleinen Plastikbeutel und baute sie langsam auf.
„Komm, wir spielen“, sagte sie und schob das Brett in meine Richtung.
Mein Kiefer spannte sich an, ich sah abermals zu Ganga Ji hinüber. Auf seiner Stirn zeichnete sich eine steile Falte ab. Dann sprang er so heftig auf, dass ich zusammenzuckte. Der Stuhl fiel um und segelte knapp am Kopf eines meditierenden Hippies vorbei, der hinter ihm auf einer Matratze hockte. Im nächsten Moment stand Ganga Ji vor unserem Tisch.
„Kümmer dich gefälligst um deine Tochter!“, fuhr er Lilli an und zog das Spielbrett an sich. Die Figuren kippten nach allen Seiten, prasselten auf die große, gemalte Sonne auf der Tischplatte, einige rollten auf den Boden. Ganga Ji riss das Brett in der Mitte durch, schleuderte eine Hälfte zwischen unseren Köpfen hin und her und traf mich leicht am Ohr. Dann klatschte er die beiden Hälften zurück auf den Tisch.
Lilli stieß die Luft durch die Nase aus und zog ein Gesicht, als hätte es sowieso keinen Zweck mit ihm, Rani brüllte. Ganga Ji zerrte sie an sich und auf seinen Arm.
„Schluss jetzt! Alle gehen nach Hause!“, rief er in die Runde und stapfte in seinen klobigen Schuhen nach draußen. Rani streckte zappelnd die Arme nach ihrer Mutter aus.
„Mama!“ Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
„Hör auf, nach deiner Mutter zu brüllen, deine Mutter ist tot!“, schrie Ganga Ji.
Ich starrte erst ihn an und dann Lilli. Sie sammelte die Figuren ein und steckte sie zurück in den Plastikbeutel.
Das Café blieb am nächsten Tag geschlossen, Rani tauchte auch nicht auf. Eine weiße Wolkenwand quoll die Berge herab, hielt auf das Dorf zu und verschluckte es so schnell, als würde sie aus einer Nebelmaschine gepumpt. Mir wurde kalt. Durch das kleine Fenster über dem Bett zogen Wolkenfetzen ins Zimmer wie Rauch, der aus einem Schornstein wich. Ich schloss das Fenster und kuschelte mich tief in die klamme Wolldecke. Zum fünften Mal tippte ich Lillis Nummer ins Telefon. Immer noch aus.
„Lass sie“, sagte Arjun in ungewöhnlich scharfem Ton. Mein Kopf schnellte hoch.
„Ja, ist so“, sagte Arjun. „Das ist bestimmt nicht das erste Mal, dass sowas passiert, und es interessiert sie doch auch nie, wie es uns eigentlich geht.“
Ich ließ das Telefon sinken. „Wie meinst du das?“
Er schwieg eine Weile.
„Wir haben immer noch nicht übers Gehalt gesprochen“, sagte er dann. „Ich kann umsonst essen, ja. Aber sonst denken die wohl, ich mach das gerne, weil ich dein Freund bin.“
„Was? Du hockst da doch jeden Abend bis Mitternacht.“
„Immer, wenn ich gehen will, zieht Ganga 'ne Flasche Whisky unterm Tresen vor.“
„Ach, komm. Du könntest ja auch ablehnen.“
„Wahrscheinlich denkt er, damit gleicht sich das aus, weil Alkohol hier oben teuer ist. Die Miete können wir davon aber nicht zahlen. Du kommst ja grad auch nicht viel zum Arbeiten.“
Ich blieb ihm die Antwort schuldig und blickte durchs Fenster nach draußen. Der Baum vor dem Haus war nur noch schemenhaft zu erkennen. Arjun sah mich von der Seite an.
„Sprich das doch einfach mal an“, sagte ich schließlich.
„Ich weiß nicht, ich komm mir irgendwie komisch dabei vor. In den letzten Wochen bin ich sowas wie Gangas bester Freund geworden, da fällt es mir schwer, über Geld zu sprechen.“
„Soll ich es ansprechen?“
„Auf gar keinen Fall!“
„Alles in Ordnung?“, fragte ich am Tag darauf, als ich auf dem Betonvorsprung saß und Lilli zu mir in den Garten hinausschlurfen sah. Es war ungewöhnlich ruhig, Rani war in der Vorschule. Lilli blieb vor meinem Tisch stehen, sackte übertrieben in sich zusammen, ließ die Zunge heraushängen und sich auf einen Stuhl fallen.
„Ja. Wieso? Ach, wegen vorgestern.“ Sie winkte ab. „Das meint er nicht so.“
„Aber was er da zu Rani gesagt hat, ist ja schon ...“
„Wir streiten uns normalerweise nicht. Das war erst das zweite Mal in zehn Jahren. Man, bin ich geschafft. Kann ich mir 'ne Zigarette von dir schnorren? Bin jetzt zu faul, nochmal aufzustehen. Hehe.“ Sie zog die Nase kraus.
„Klar.“ Ich hielt ihr die Schachtel hin und forschte in ihren Augen. Aber da war nichts. Sie wandte sich von mir ab und blickte durch die offene Tür nach drinnen. Arjun und Ganga Ji scherzten hinter dem Tresen.
„Ich wüsste echt nicht mehr, was wir ohne Arjun machen würden“, sagte Lilli und zündete die Zigarette an. „Sogar 'ne neue Speisekarte hat er uns erstellt. Ganz von selbst. Das lieb ich, wenn jemand so mitdenkt, ohne dass man immer alles sagen muss.“
Ich wippte schneller mit dem übergeschlagenen Bein und merkte, wie mein Kopf anfing zu glühen.
„Wenn er hier so viel macht, dann sollte er auch dafür bezahlt werden.“ Fast hätte ich mir die Hand vor den Mund geschlagen.
„Ja, das hab ich auch schon gesagt“, begann Lilli wie aufs Stichwort. „Aber Ganga meint, das brauchen wir nicht.“
„ ...“
Sie stand auf, tanzte in den Raum zurück und sang laut zur Musik mit. Die Gäste schauten auf und grinsten.
Am Abend kam Arjun mit leuchtenden Augen heim. „Ganga hat mich endlich auf das Geld angesprochen“, rief er, während er sich die Turnschuhe vor der Tür abstreifte. „Viel kann er nicht zahlen, aber besser als nichts. Hoffentlich bleibt sonst alles beim Alten. Er war so ernst plötzlich.“ Er drückte mir einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel, trotzdem roch ich seine Fahne. Dann schälte er sich aus den Klamotten und warf sich aufs Bett.
„Wieso sollte sich da was ändern, nur weil er dich für deine Arbeit bezahlen muss?“, fragte ich, während ich wieder auf meinen Laptop schaute. „Ich meine, du hilfst da ja nicht bloß aus, sondern bist jeden Tag bis Mitternacht da. Lilli meint, die letzten Gäste gehen meistens gegen zehn.“
„Trotzdem. Man weiß nie.“
Ich nickte vor mich hin. War klar, dass er den letzten Satz überhört hatte. Es war eine Weile still. Ich tat, als ob ich weiterarbeitete, wurde aber das Gefühl nicht los, dass sich sein Blick in mein Profil bohrte.
„Du hast doch nichts gesagt, oder? Das kam so plötzlich. Und ich hab dich heut morgen mit Lilli im Garten reden sehen.“
„Na ja, ich ...“
Er fuhr hoch. „Ich hab doch gesagt, du sollst nichts sagen! Wie steh ich denn jetzt da?“
„Arjun, tut mir leid, der Moment war grad günstig und ... “
„So eine Scheiße! Wie steh ich denn jetzt da?“
Ich sprang vom Stuhl auf. „Wenn du es nicht auf die Reihe kriegst! Wer weiß, wann du endlich was gesagt hättest. Und wir brauchen das Geld!“
„Ich bin heute extra gleich nach Hause gekommen, um das mit dir zu feiern, aber jetzt hab ich keinen Bock mehr. Ich schlaf im Café.“ Er riss ein T-Shirt vom Regal, strampelte in seine Jeans, rannte ins Bad, schnappte sich seine Zahnbürste und marschierte aus dem Zimmer.
„Ja, geh nur!“, schrie ich ihm hinterher. „Du hast ja nur auf den Moment gewartet, den Abend mit deinem geliebten Ganga verbringen zu können. Am besten, du ziehst gleich bei den beiden ein!“
Um Viertel vor acht ertönte der Weckruf. Rani trug zu ihrem Tüllkleid eine große, gepunktete Schleife im Haar. Ich brachte es nicht übers Herz, sie abzuwimmeln, außerdem lenkten die Rollenspiele mich von meinem eigenen Leben ab. Heute war ich die Mutter und Rani war Rani.
„Warum spielst du nicht mal wieder mit den Kindern aus dem Dorf?“, fragte ich.
„Weil die nicht mit mir spielen wollen.“
„Und warum wollen sie das nicht?“
„Weil ich nicht mit ihnen spielen will.“
Ich verdrehte die Augen, legte die Puppe aufs Bett und fühlte mich um Wochen zurückversetzt. Eigentlich waren wir inzwischen so gut eingespielt, dass wir problemlos in der Sesamstraße hätten auftreten können. Aber an diesem Morgen schien Rani genauso bockig zu sein wie ich. Weil ich nichts zu essen im Haus hatte, zogen wir ins Café um.
Arjun schaute sofort weg, als er mich sah. Während wir am Tresen vorbei in den Garten hinausgingen, strich ich mir eine Strähne hinters Ohr und blickte auf den Boden. Lilli war nirgends zu sehen.
„Hier. Ich bin Mama, du bist Papa.“ Rani drückte mir eine der Glatzenpuppen in die Hand. „Ich fahre mit Rani für ein paar Wochen zu Oma und Opa nach Deutschland“, begann sie mit verstellter Stimme. „Und Arjun kann bei uns wohnen.“
Ich schluckte.
„Los, du musst sagen: Ja, das ist wohl das Beste.“
Meine Lippen pressten fest aufeinander. Wenn sie jetzt weiter herumquengelte, würde ich sie als Terroristen beschimpfen, ohne Rücksicht auf Verluste.
„Bist du traurig?“, fragte Rani.
Ich hob den Blick. Sie sah mich an wie Minnie Maus, die Schleife schief auf dem Kopf. Lachend wischte ich mir eine Träne von der Wange. Rani legte die Puppe auf den Tisch, stellte sich aufrecht hin und schlang ihre Arme um meinen Hals.
„Ich verrat dir was“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Ich will viel lieber, dass du bei uns wohnst, dann können wir noch mehr spielen. Aber jetzt muss ich aufs Klo.“ Sie sprang vom Betonvorsprung und lief zum Gebüsch des angrenzenden Brachlands. Mit zitternden Händen zündete ich mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Dann zwang ich mich, das ganze Gerede nicht allzu ernst zu nehmen. Ein paar Tage zuvor hatte Rani von einem Leoparden erzählt, der durchs offene Fenster gesprungen war und ihr eine Gute Nacht-Geschichte erzählt hatte.
Als ich die Zigarette in der Blechdose ausdrückte, hörte ich drinnen Lillis Stimme. Ich setzte mich aufrecht hin. Wo blieb denn bloß Rani?
„Hellööö. Wie geht’s dir? Scheiße, oder?“ Lilli kam in den Garten und drückte mich kurz mit einem Arm an sich. „Arjun bleibt erstmal bei uns.“ Sie stellte mir einen Teller selbstgebackener Mini-Eclairs vor die Nase, forderte mich auf zu essen und sah mich dabei an, als wäre ich seit Wochen im Hungerstreik. „Er hat mich auch gebeten, seine Sachen bei dir abzuholen.“ Sie zog einen Stuhl heran. „Wollte es dir nur sagen. So als Freundin.“
Ich drückte ihr wortlos den Schlüssel in die Hand, biss in ein Eclair und ließ die Sahne im Mund zergehen. Es schmeckte hervorragend.
„Na ja, gut geht’s mir nicht“, begann ich zögernd. „Ich werde nochmal versuchen, mit Arjun zu reden, aber ich glaube, das verzeiht er mir so schnell nicht. Vielleicht sollte ich einfach woanders hinfahren. Der Ort ist zu klein, um sich nicht über den Weg zu laufen.“
Lilli legte eine Hand auf mein Knie. „Na ja, ist vielleicht besser so“, begann sie wie ein Arzt, der seinem Patienten ein heftiges Medikament verschrieb. „Also für dich, meine ich. Ich will natürlich schon gerne, dass du bleibst, aber manchmal ist Abstand einfach das Beste.“
Ich sah sie eine Weile an. Sie betrachtete die Windmühlen.
„Was meinst du“, begann sie. „Soll ich noch mehr Tagetes pflanzen?“
Plötzlich fühlte ich mich so stumpf, als hätte Lilli mir tatsächlich ein Betäubungsmittel gespritzt.
„Schon merkwürdig, dass du mich einfach so gehen lässt“, sagte ich gedehnt.
Sie zog die Hand von meinem Knie. „Wieso gehen lässt, ich bin doch nicht deine Mutter.“ Sie sprang auf, zog eine Zigarette aus der Schürzentasche und setzte sich wieder hin. „Also das finde ich jetzt echt kindisch. Das ist doch deine Entscheidung.“
Ich antwortete nicht.
„Wie soll ich mich denn deiner Meinung nach verhalten?“, hörte ich sie weiterreden. „Ich hab ein Kind und bin praktisch alleinerziehend.“ Ihre Stimme nahm Fahrt auf. „Für dich ist das vielleicht romantisch, wenn hier der Wind durch die Pinien pfeift, aber ich bin hier völlig abgeschnitten von der Welt und heul manchmal stun …“
„Das ist aber nicht meine Schuld.“ Ich knallte das Teeglas auf den Tisch. „Ich finde es einfach komisch, wie gleichgültig du mich ziehen lässt, obwohl ich deine langjährige Freundin bin.“
„Na ja. Wir kennen uns zwar schon lange, aber wir haben in den letzten Jahren ja nur noch E-Mail-Kontakt gehabt, also ich ...“
„Ach, so siehst du das.“
Rani kam in den Garten zurückgestürmt und drückte mir die Puppe in die Hand.
Lilli lachte. „Lass mal die Dana jetzt, der geht’s nicht so gut.“
„Komm, wir spielen weiter.“
„Rani!“
Rani beachtete ihre Mutter nicht.
„Ach, na ja ...“ Lilli winkte ab. „Ich werd mal reingehen.“ Sie erhob sich schwerfällig vom Stuhl und warf ihrer Tochter noch einen letzten Blick zu.
„Die Dana fährt“, rief sie in den Raum, während sie zielstrebig auf den Tresen zu hielt.
Als der Sammeljeep die Serpentinen in die nächst größere Stadt hinabbretterte, begann ich an meinem überstürzten Aufbruch zu zweifeln. Rani tat mir leid, und ich hoffte, dass sie ihr nicht erzählten, ich wäre auch tot. Außerdem bereute ich es, nicht nochmal mit Arjun geredet zu haben. Stattdessen hatte ich Renate in Goa angerufen, die war den ganzen Monsun über da. Renate bot mir sofort an, erstmal bei ihr zu wohnen.
Vor einem Süßigkeitenladen mit offener Frontseite taumelte ich aus dem Jeep und hoffte, dass der Bus nach Delhi auch wirklich dort hielt. Ich setzte mich auf die Stufe zum Laden und klemmte den Rucksack zwischen die Beine. Der Geruch von Sirup und Rosenwasser dampfte mir in den Rücken, Hunde, Autos und Menschen zogen vorbei. Nach einer halben Stunde versperrte mir ein Bus mit jaulenden Bremsen die Sicht und hustete eine schwarze Wolke auf die Straße. Ich sprang auf, um auf das Schild in der Windschutzscheibe zu sehen. Es gab keins. Ein junges, indisches Paar überquerte mit seinen Trolleys die Straße.
„Entschuldigung, ist das der Bus nach Delhi?“, schrie ich den beiden durch den Motorenlärm zu.
„Ja, hier bist du richtig“, antwortete eine Stimme hinter mir.
Ich fuhr herum. „Arjun! Was machst du denn hier?“
Arjun stellte seinen Tagesrucksack auf dem Boden ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. „Wo fährst du denn hin? Doch nicht bloß nach Delhi, oder?“
„Nein, ich fahre zu Renate.“
Arjun rollte mit den Augen.
„Ich weiß, du magst sie nicht, aber ich wollte hier so schnell wie möglich weg. Wo fährst du denn hin? Solltest du nicht im Café sein?“
Er schob die Hände in die Hosentaschen und scharrte mit der Spitze seines Turnschuhs auf dem sandigen Asphalt.
„Als ich gehört hab, dass du fährst, ist mir erst klar geworden, was ich hier eigentlich tue“, sagte er. „Die beiden haben meine ganze Zukunft verplant, ohne dich auch nur ein einziges Mal zu erwähnen.“
Ich schulterte meinen Rucksack.
„Kann ich mit dir kommen?“, fragte Arjun.
„Du tust es doch sowieso, oder?“, sagte ich und grinste.
„Ich hab aber jetzt kein Geld.“ Er stülpte das Innere seiner Jeanstaschen nach außen, kehrte die Handflächen nach oben und zuckte die Achseln. „Ich werd mir da gleich 'nen Job suchen, ehrlich.“
„Aber du hast doch den ganzen Monat gearbeitet.“
Er zuckte abermals die Achseln. Der Bus hupte.
„Renate ist echt nett, du kennst sie nur nicht richtig“, sagte ich, während ich meinen Rucksack im Kofferraum verstaute. „Und sie hat ein großes Haus, also hat sie bestimmt nichts dagegen, wenn wir ein paar Tage bei ihr bleiben. Renate ist ...“
„Eine gute Freundin, ich weiß. Das hast du über Lilli auch gesagt.“