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Melnik
Gestern habe ich Melnik gesehen. Es kam mir seltsam vor, nach all den Jahren. Ich sah ihn auf der Straße und konnte nicht glauben, wie sehr er gealtert war. Ich sagte „Hallo Melnik“, aber er erwiderte nichts darauf, und sah mich voller Entsetzen an, gerade so, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. Daraufhin drehte ich mich um und ging davon, an alte Zeiten denkend.
Ich wohnte damals in einem kleinen Backsteinhaus am Stadtrand von Warschau, und obwohl die Miete für damalige Verhältnisse zu hoch war und ich nur drei kleine Zimmer mein Eigen nennen durfte, war es doch meine erste eigene Wohnung, die mich mit gewissem Stolz erfüllte.
Frau Egna, die Vermieterin, eine großgewachsene, herrschsüchtige Person, eröffnete mir bei meinem Einzug, dass sie noch drei weitere Mieter unter Vertrag hatte, allesamt ehrbare und ruhige junge Leute. Ich musste bei dieser Zusatzbemerkung schmunzeln und Frau Egna`s Adleraugen sahen mich missbilligend an. „Auch wenn ich hier nicht wohne, weiß ich doch über alles Bescheid, dessen können Sie sich gewiss sein“ schnaubte sie und musterte meine - für damalige Zeiten – hochmoderne Kleidung. Wahrscheinlich kam sie sich verraten vor - zum Vorstellungsgespräch war ich mit einer biederen Bluse und einem eben solchen Rock erschienen, um die alte Nebelkrähe zu beeindrucken .
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, sagte ich höflich und das schien sie zu beruhigen. Sie übergab mir die Schlüssel und es gelang ihr sogar, mich anzulächeln.
Die nächsten Tage richtete ich mich häuslich ein, erkundete die Umgebung nach Einkaufsmöglichkeiten und fühlte mich das erste Mal in meinem Leben richtig unabhängig.
Schließlich lernte ich auch die anderen Mieter kennen: Milena, eine unscheinbare Blondine, die mir gegenüber wohnte, Melnik, einen atemberaubend gutaussehenden jungen Mann, der die Wohnung im ersten Stock gemietet hatte und Dvora, die über die Dachwohnung verfügte und deren elegante Kleidung mich – so oft ich sie sah - immer wieder faszinierte. Ich begegnete ihnen öfter im Treppenhaus, aber bis auf einen flüchtigen Gruß hatten wir noch kein Wort miteinander gewechselt.
Eines Abends – ich hatte es mir gerade mit einem Buch im Bett bequem gemacht – schellte es an der Tür. Hastig warf ich einen Morgenmantel über und öffnete. Draußen standen meine drei Nachbarn, jeder eine Flasche Sekt in der Hand und grinsten mich freundlich an. „Sorry, dass wir dich so überfallen, aber wir dachten, dass es schön langsam an der Zeit ist, uns besser kennen zu lernen“ sagte Melnik und sah mich erwartungsvoll an. „Bitte ...“ murmelte ich etwas verwirrt, „kommt doch rein“. „Und wir stören dich auch nicht?“ fragte Milena etwas schüchtern. Ich schüttelte den Kopf und bat die drei ins Wohnzimmer.
Ich mochte meine neuen Nachbarn sofort. Sie waren unbekümmert und sehr offen, keine Spur geziert. Außerdem brachten sie mich zum Lachen. Im Laufe des Abends wurde mir bewusst, wie geschickt sie die gestrenge Frau Egna an der Nase herumführten.
„Was machst du so?“, fragte Melnik, der sich gemütlich auf der Couch räkelte und sich denkbar wohl fühlte. Wir alle fühlten uns wohl, soviel sei angemerkt. „Ich bin im ersten Jahr an der Kunstuniversität“ erwiderte ich, und sah neugierig in die Runde. „Ich bin Schauspielerin“, sagte Dvora mit ihrer rauchigen Stimme. „Übertreib nicht“ witzelte Melnik, und sagte dann vertraulich zu mir gewandt: „Sie würde es gerne sein, aber bis jetzt ist sie nur mit diversen Theater-Produzenten ins Bett gestiegen, aber ohne Erfolg“. Ich hielt den Atem an. Wie würde Dvora das auffassen? Ich war völlig perplex, als sie einfach nur in schallendes Gelächter ausbrach. „Melnik hat Recht“ sagte sie amüsiert und ich war von ihrer Freimütigkeit fasziniert.
Milena war Sekretärin an einer Grundschule und Melnik versuchte sich als Musiker, aber mit wenig Erfolg. Seine Eltern waren reich und versorgten ihn ausreichend mit Geld, also bekümmerte ihn seine Erfolglosigkeit wenig. Er liebte es, in den Tag hineinzuleben.
Der erste Abend wird mir immer im Gedächtnis bleiben, denn an diesem lernte ich die besten Freunde kennen, die ich jemals hatte.
Tja, was soll ich sagen? Sie nahmen mich in ihre Gemeinschaft auf und ich fühlte mich geborgen, verstanden, wohl. Die Tage, Monate, Jahre plätscherten dahin, wenn ich nicht auf der Uni war oder lernen musste, verbrachte ich meine Freizeit mit ihnen. Ja, wir sahen eine ganze Menge voneinander.
Bis zu einem Tag im November. Ich hatte schon ein seltsames Gefühl, als ich die Haustür aufschloss. Als ich bei meiner Wohnungstür angelangt war, hörte ich vom Dachboden laute Stimmen, Gepolter, Möbel rücken. Ich ließ meine Mappe mit den Unterlagen fallen und rannte nach oben. Dvora`s Wohnungstür stand offen, der Anblick, der sich mir bot, ließ mich zurückfahren.
Dvora saß kreidebleich auf ihrem Bett, auf dem Boden lag ein Mann, tot, mit einem Fleischermesser im Rücken. Melnik stand mit geballtem und vor Wut verzerrtem Gesicht über ihm. Als er mich gewahrte, packte er meinen Oberarm und zerrte mich ins Zimmer, die Türe hinter sich zuziehend.
„Was um Himmels Willen ist passiert?“, brachte ich stockend heraus. „Der Fettsack auf dem Boden. Das ist passiert“, sagte Melnik. „Er hat Dvora bedroht, ich hab`s gehört und bin nach oben gerannt. Ich konnte das doch nicht zulassen“. Ich sah Dvora an. Sie starrte auf die Leiche, unfähig ein Wort zu sagen. Ich setzte mich und beschloss, einen klaren Kopf zu bewahren. „Melnik“, begann ich schließlich, „du hast so eben einen Mord begangen, wir müssen das der Polizei melden“. Er sah mich an, noch immer außer sich. „Wer ist der Mann überhaupt?“, fragte ich Dvora, die aber nur geschockt dasaß und noch immer kein Wort herausbrachte. Sie musste es mir auch nicht sagen, ich konnte es mir denken. Dvora`s Männer, der alte Hut.
„Du würdest unsere Freundschaft doch nicht aufs Spiel setzen wollen?“, fragte Melnik, und mir entging der lauernde Tonfall in seiner Stimme. „Mord ist Mord“, antwortete ich, stand auf und griff nach dem Telefon. Und da spürte ich plötzlich seine Hände an meinem Hals, sie drückten zu, erwürgten mich.
Meine ehemals besten Freunde vergruben meine Leiche und Dvora`s toten Liebhaber im Wald. Sie wurden nie erwischt, die Polizei stellte die Nachforschungen schließlich ein.
Ich kann es nachvollziehen, dass Melnik kreidebleich wurde, als ich gestern plötzlich vor ihm stand und ihn begrüßte.
[ 07.08.2002, 17:10: Beitrag editiert von: Liz ]