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Meine liebe Ruth
Aushang am 09.04.
Termin ist der 29.04. in unserer Stadtbibliothek. Vorankündigung:
Hein Horsten.
Er liest aus Werken seines langjährigen Schaffens, außerdem werden einige seiner Schüler lesen.
Allesamt Einwohner von Bad Walsen.
(Es wird um Voranmeldungen gebeten, da das Interesse, wie bei den vorangegangenen Veranstaltungen wieder sehr rege sein wird)
Im Mai wird eine Ausstellung des Malers Maik Gleitsberg und seiner Schüler im Rathaus unserer Stadt eröffnet werden.
Meine liebe Ruth! 16.04.
Der erste Brief an dich und mir kommt es vor, als wärst du schon hundert Jahre fort. Es läuft alles seinen gewohnten Gang, obwohl ich das vor deiner Abreise nicht hätte glauben können.
Ich stehe morgens auf, der Wecker klingelt um acht, doch eigentlich brauche ich ihn nicht, denn ich werde vorher wach. Ich recke mich und öffne das Fenster. Dann absolviere ich bei frischer Luft meinen morgendlichen Sport: zwanzig Kniebeugen, ein bisschen den Hampelmann, etwas Rumpfbeugen. Dabei komme ich kaum außer Atem – nicht schlecht für eine alte Frau!
Nach dem Frühstück mache ich meine täglichen Besorgungen. Wenn ich aus dem Haus gehe, ist Herr Quandt meist schon da und mäht den Rasen oder was sonst anfällt. Da ist er unerschütterlich, kommt jeden Tag vor neun, obgleich ich ihm nicht viel zahlen kann. Eigentlich ist er nicht sehr gesellig – bulliger, alter Mann, aber ich habe den leisen Verdacht, der Gute ist ein klein wenig in mich verliebt.
Das bleibt unter uns, Ruth, nicht wahr. Allerdings wird wohl kaum hierher nach Bad Walsen dringen, was du erzählst, wo du jetzt bist. War das der Vordere Orient, der Hintere, wo es dich hingezogen hat? Ich war noch nie gut in Stadt-Land-Fluss. Einzig dass es dich nach all den Jahren in deinem Alter noch einmal aus unserer Stadt weggetrieben hat, konnte kaum jemand begreifen.
Ich soll dich grüßen, von Herrn Pieper. Der Gute hat mir, wie immer, beim Einkauf geholfen – eine Tüte Zucker, einen Salat, ein paar Mohrrüben und Knäcke.
Er hat mich über die Brille freundlich angeschaut, während er alles in einen Beutel tat. Ich glaube, der Mann wird immer dünner, mit seiner Lauferei übertreibt er es wohl. Ist auch nicht mehr der Jüngste, Herr Pieper.
Schönen Gruß in den Irak, sagte er, als er die Tüte rüber gab. Ich wusste zuerst nicht, was er meinte. Dann begriff ich und sagte, ich würde es in dem Brief ausrichten.
„Ein Brief“, erwiderte er. Er kratzte sich durchs Stoppelhaar und meinte liebenswürdig: „Heutzutage schreibt doch keiner mehr Briefe, geht doch alles elektronisch.“
„Einen Brief kann man anfassen“, sagte ich da zu ihm. „Man kann ihn riechen und wenn er traurig ist, sieht man getrocknete Tränen darauf.“
Als ich seinen Laden verließ, hielt er mir die Tür auf, sagte „Auf Wiedersehen!“ und strahlte mich an, wie jeden Tag.
Ich habe vorhin geschrieben, dass alles seinen gewohnten Gang geht, das stimmt so nicht. Vor ein paar Wochen hat doch die kleine Hündin von Elisa Gehrke fünf entzückende Jungen geworfen. Die Pudeldame. Die Kleinen waren so süß, sie sagt, der Vater wäre ein Shi-Tzu gewesen. Du glaubst nicht, wie possierlich die Tiere sind. Und nun hat Elisa mir einen der Racker überlassen und seit heute Nachmittag lebe ich nicht mehr allein in meinem Haus.
Ruth, ich dachte immer, schlaue Knopfaugen bei Hunden, wären Klischees, doch ich weiß jetzt unerschütterlich, dass dem nicht so ist. Der Kleine ist klug, er weiß genau was er will und er weiß, wie er es kriegen kann. Ich habe noch keinen Namen für ihn, vielleicht weißt du ja einen.
Ist schon komisch, so ein Tier zu kriegen, von dem man weiß, dass es einen wahrscheinlich überleben wird. Ich erziehe hier meinen Erben.
Er sitzt übrigens neben mir, schaut zu mir hoch und weiß ganz sicher, was ich tue.
Meine liebe Ruth, ich schließe jetzt, ich hoffe, der Brief wird dich möglichst bald erreichen. Sei mir gegrüßt und lass es dir gut ergehen!
In Liebe
Deine Elsbeth
P.S. Ich weiß nicht, ob du es vor deiner Abreise noch mitbekommen hast, unsere Stadt Bad Walsen wird von der Partnerstadt Morlaix in der Bretagne ein Buch zum Geschenk erhalten. Es soll sich um ein sehr wertvolles Stück handeln und hier sind alle in großer Aufregung, weil die feierliche Übergabe in einigen Wochen stattfinden soll.
Meine liebe Ruth, 21.04.
ich glaube, da, wo du bist, ist es erheblich ruhiger, als hier in unserer Stadt. Ist dort nicht furchtbar viel Wüste?
Hier, jedenfalls, herrscht heillose Aufregung, alles und jeder ist in gespannter Erwartung. Es wird eine kleine Abordnung französischer Gäste herkommen und dem Museum das versprochene Buch überreichen.
Nächste Woche ist es soweit, und ich muss dir gestehen, dass auch ich ein wenig kribbelig bin. Es passiert nicht alle Tage, dass ein paar Reisende angerauscht kommen und im Gepäck ein wertvolles Präsent haben.
Der einzige, so scheint es, den diese fiebrige Spannung nicht gepackt hat, ist Kastor, der Kleine.
Liebe Ruth, ich konnte nicht länger auf einen Brief von dir warten, in dem du einen Namen für meinen Begleiter vorschlägst; ich habe ihn Kastor genannt.
Kastor, der Zerbrechliche, der schließlich von Idas jämmerlich erschlagen wurde.
Herr Quandt mag den Hund nicht besonders, obwohl er es nicht zu zeigen versucht. Er kam heute Vormittag zu mir und hat sich schüchtern dafür entschuldigt, dass er gestern und vorgestern nicht da war, er hätte krank daniedergelegen.
Die ganze Zeit klebte dabei ein lustiges Blättchen auf seiner Stirn – seiner Glatze. Ich konnte nicht anders, in einem fort starrte ich darauf und irgendwann kam es über mich und ich musste lachen. Obwohl er gar nicht wusste, was mich erheiterte, stimmte er mit ein und unser gemeinsames Lachen verband uns für den Augenblick. Als ich das Blatt dann vorsichtig entfernte, hielt er ganz still und schaute mich an.
Glaub es, Ruth, oder lass es bleiben. Im selben Moment knurrte von unten Kastor herauf und wir beide mussten schon wieder lachen.
Herr Quandt, der allein ein kleines Häuschen am Stadtrand bewohnt. Er muss früher Handwerker gewesen sein, so große und starke Hände, wie er hat. Er ist immer schüchtern gewesen, redet nicht viel, aber ein böses Wort kam nie über seine Lippen.
Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Ruth. Kaum bist du fort, geht’s der alten Elsbeth zu gut, aber nein, sei ganz beruhigt, ich habe ja meinen Kastor, der mich verteidigt, selbst nachts noch, vor dem Bett.
So, meine liebe Ruth, genug der Neuigkeiten. Ich hoffe, der nächste Brief kommt von dir!
Sei lieb gegrüßt,
Deine Elsbeth.
P.S. Ich bin eingeladen, beim Empfang der französischen Delegation als Ehrengast mitzuwirken.
Meine liebe Ruth, 25.04.
du hättest es sehen sollen!
Sie standen alle in einer Linie. In vollem Ornat!
Man sollte meinen, die Zahl der Stadtoberen übersteige die Zahl der Einwohner von Bad Walsen, so viele, wie sich dafür halten. Und ein Gefunkel war das in der ganzen Reihe. Es blitzte und strahlte nicht nur auf den Anzügen der Herren, sondern auch in ihren Gesichtern.
Wir waren zwei Frauen im Empfangskomitee, Frau Gehrke und ich, die wir seit Jahren das Stadtmuseum mitbetreuen. Wir standen beide in der zweiten Reihe, ich fürchte, wir waren nicht zu sehen. Die Vertreter aus Morlaix müssen einen schönen Eindruck von uns bekommen haben. Nicht nur, dass jedermann hier verliebt ist in seine Orden und Trachten, nein, zu allem Überfluss scheint die Stadt nur aus hochmütigen alten Männern zu bestehen.
Ein leises Gemurmel kam auf, als die Franzosen – stolz und erhaben – mit dem Buch ankamen. Der Bürgermeister des französischen Städtchens hielt es in Händen, alles verstummte, er trat vor und legte es im Großen Saal des Museums auf ein extra eingerichtetes Pult. Ehrfürchtig wurde ein Absperrband drum gezogen und erst dann wurde geklatscht.
Ruth, die ganze Zeremonie war so steif, so feierlich, man rechnete jede Sekunde damit, irgendwo ein Springteufelchen rauskommen zu sehen.
Abends bin ich noch einmal hinein und habe mir das Buch ganz allein angeschaut.
Der Raum in Dunkelheit gehüllt, nur das Pult beleuchtet. Ich ging herum und betrachtete es von allen Seiten. Dann bückte ich mich und kroch unter dem Absperrband durch.
Es ist ein großes Buch, schwer und wuchtig. Es stammt aus dem 17.Jahrhundert, ein Nachdruck von Sigmund Feyerabend. Es handelt sich um eine Sammlung von Bittbriefen an verschiedenste Schutzheilige der damaligen Zeit.
Mit dem Einband in dunkelblauem Leder scheint es ein lebendiges Wesen zu sein und es machte den Eindruck, als beherrsche es den gesamten Raum. Ich hielt die Luft an, um zu sehen, ob es nicht atme.
Unsinn, selbstverständlich. Ich verließ das Museum, und als ich auf die Straße trat, musste ich beinahe ein bisschen blinzeln, obwohl es schon fast dunkel war.
Ich nahm das Fahrrad, stieg auf und fuhr sofort los.
Es war so dämmrig, dass wenigstens die Straßenlaternen angegangen waren; so fuhr ich die Greiffenstraße hinunter, den Münsterweg hinab, um dem Autoverkehr ein bisschen zu entgehen. Trotzdem überholte mich das eine oder andere Fahrzeug.
Meine Fahrradbeleuchtung funktioniert und ich bin trotz meines Alters noch immer eine recht sichere Fahrerin. Aber als ich in die Meinhardt-Straße einbog – du weißt, hier stehen die schönen Ulmen, aber einen Radweg gibt es immer noch nicht – da überholte mich ein Auto von dunkelblauer Farbe so rasant und in halsbrecherischer Manier, dass ich ins Straucheln kam. Ich stürzte, konnte mich eben noch fangen und stolperte an die Straßenseite. Der Flegel fuhr ungerührt weiter, ich bin sicher, er hatte mitbekommen, was vor sich gegangen war.
Als ich das Rad an einen Baum gelehnt hatte und ein wenig verschnaufte, um mich zu beruhigen, lief ein abendlicher Jogger auf dem Bürgersteig an mir vorüber. Es war Herr Pieper, der seine Runden drehte, er musste das Unglück mit angesehen haben. Doch er lief weiter, rannte, als ob nichts geschehen wäre. Ich rief ihn noch an, aber kurze Zeit später war er im Dunkel verschwunden.
Ich war ganz entsetzt, das hatte ich noch nie erlebt in unserer Stadt.
Sei es drum, liebe Ruth. Ich will dir natürlich nichts vorklagen.
Frau Gehrke hat mich eingeladen zu einer Tasse Tee. Wir wollen über die weitere Verwendung des Buches im Museum beraten. Momentan herrscht nichts anderes als ein Provisorium, das gute Stück kann nicht ewig so schutzlos liegen bleiben.
Frau Gehrke wohnt ja nur ein paar Häuser weiter, ich kann praktisch in Hausschuhen rüber gehen.
Ich werde dir berichten, liebe Ruth. Bis dahin hoffe ich aber, endlich ein Lebenszeichen von dir zu erhalten.
In Liebe,
Elsbeth.
Meine liebe Ruth, 01.05.
die Sonne meint es heute gut mit uns, die ersten wirklich warmen Strahlen des Jahres. Und schon treibt es die Menschen hinaus in den Garten, in die Natur. Alles wächst und sprießt.
Trotzdem habe ich ein unschönes Gefühl, wenn ich durch die Stadt gehe. Die Menschen sind emsig, sie richten die Beete her, mähen Rasen, pflanzen. Jeder in seinem eigenen Reich. Jeder für sich.
Herr Quandt war wieder zwei Tage nicht da, ich hätte ihn gut brauchen können bei der vielen Arbeit, die nun anfällt. Dann war er am dritten Tag plötzlich hier, als wenn nichts gewesen wäre, und machte seine Arbeit nicht richtig, die Sau.
Er ging mit dem Rechen übers Gelände und sollte das gesamte Grundstück von Unrat befreien. Dabei ließ er das Stück unter dem Walnussbaum völlig unberührt, warum auch immer. Ich sah es erst, als er schon wieder weg war.
Du kannst dir vorstellen, wie ich mich geärgert habe. Ich nahm die Harke selbst zur Hand, ich alte Frau, und machte den Ecken sauber.
Als er am nächsten Morgen angeschlurft kam, wartete ich schon auf ihn, um ihn zur Rede zu stellen.
Ich las ihm die Leviten, er stand mir gegenüber und sagte keinen Ton. Du hättest ihn sehen sollen, wie er mich von oben herab angestiert hat. Kastor sprang die ganze Zeit aufgeregt um uns herum.
Ich endete und er starrte mich weiter an; wir schwiegen beide. Ich bekam es ein bisschen mit der Angst.
Da drehte er sich plötzlich um und ging grußlos davon.
Ich musste ihm die Meinung sagen, er wird von mir bezahlt!
Ich grüße dich,
Elsbeth.
Meine liebe Ruth, 02.05.
Was ist nur über mich gekommen? Gleich nachdem der Brief rausgegangen ist, habe ich bereut, ihn aufgegeben zu haben.
Der arme Herr Quandt, ich kann nicht glauben, dass ich ihn ausgeschimpft habe.
Ich hoffe, du hast jetzt kein falsches Bild von mir, liebe Ruth. Du weißt, so bin ich sonst nicht.
Ich habe ihn heute Morgen gleich angesprochen, ich bin mir nicht sicher, ob er die Entschuldigung akzeptiert. Er hat etwas vor sich hingemurmelt, wie das immer seine Art ist und fuhr fort, den Weg zu fegen. Es täte mir leid, wenn er mir den Vorfall übelnähme.
Es sind verrückte Zeiten, hier. Das Museum ist jeden Morgen aufs Neue rappelvoll, die Menschen stehen Schlange. Sie kommen mittlerweile von außerhalb, um an dem Wälzer vorbeidefilieren zu dürfen; das Buch indessen liegt gleichmütig und unbeeindruckt inmitten des Trubels und schert sich keinen Deut um die aufgeregte Menge. Es scheint in einer anderen Zeit zu existieren, aus einer fernen Vergangenheit zu stammen, was ja so auch stimmt. Und was wohl gerade für das enorme Interesse verantwortlich ist.
Ich war wieder bei Frau Gehrke, und etwas Erschütterndes ist passiert.
Ich bin gern an der frischen Luft, und so war es mir angenehm, dass wir im Garten bei ihr Platz fanden und dort den Kaffee tranken. Sie war sehr liebenswürdig, sie tischte Kuchen auf und wir plauderten angeregt. Ihre Enkelin ist für ein paar Tage zu Besuch. Die dreijährige Dorothea saß zu unseren Füßen auf dem Rasen und spielte mit ihren Puppen.
Das Grundstück am Haus ist sehr schön angelegt, man sitzt in einem grünen, luftigen Zimmer, der Blick in die Nachbarschaft ist bis auf eine Stelle mit Büschen und Blumen verwehrt. Wir hatten den Eindruck, auf Kilometer die einzigen Menschen in diesem Urwald zu sein. In der einen freien Stelle zum Nachbargrundstück erschien plötzlich der schmale Kopf von Herrn Pieper.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass er hier wohnte. Ich wollte ihn begrüßen, als ich den Ausdruck in seinem Gesicht sah und er jeden freundlichen Gruß mit schneidender Stimme abwehrte.
„Sie haben meine Johannisbeerbüsche abgeschnitten!“, keifte er über den Zaun hinweg, ohne mich überhaupt zu beachten. „Sie haben verdammt wieder an meinen Pflanzen herumgeschnitten!“
Frau Gehrke stand auf und ging auf ihn zu. Wir hatten uns eben noch nett unterhalten, über das Buch, das die Franzosen in die Stadt gebracht hatten und darüber, dass es eine Bereicherung für unser Leben geworden war. Die ganze zauberhafte Atmosphäre war dahin.
„Ich habe lediglich…“
Sie wollte besänftigend auf ihn einreden, doch er ließ ihr keine Gelegenheit dazu. Er schrie: „Sie haben die Büsche abgeschnitten, und ihren Müll schmeißen Sie rüber!“
„Herr Pieper!“
Er hob die Hand und schlug ihr mit vollster Wucht ins Gesicht. Dann lachte er kurz, wandte sich ab und rannte davon. Zehn Meter, dann blieb er stehen und drehte sich um. „Noch mal, und ich bring Sie um, Sie Hexe!“
Ich konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Frau Gehrke versuchte sich aufzurappeln, während sie sich das Gesicht hielt.
„Er hat mir eine Backpfeife gegeben“, murmelte sie fassungslos.
Ich versuchte ihr aufzuhelfen, doch sie blieb sitzen und schaute mich an.
„Er hat mich tatsächlich geschlagen, der Idiot“, sagte sie.
„Was ist nur los“, erwiderte ich. „So kenne ich ihn gar nicht.“
Sie begann zu lachen. Es war wirklich unheimlich.
Tja, meine liebe Ruth, das war’s von mir. Jetzt bist aber wirklich einmal du dran mir zu schreiben, ich mache mir ernsthaft Sorgen.
Sei gegrüßt, in Liebe
Elsbeth.
Meine liebe Ruth, 08.05.
ich ängstige mich ein wenig um meine beste Freundin, die mich damals, als ich hierher gezogen bin, so nett aufgenommen hat Du bist nun seit über einem Monat fort, und ich habe noch kein Lebenszeichen von dir erhalten. Manchmal bereue ich, es nicht einmal versucht zu haben, dich zur Mitnahme eines Handys zu bewegen. Ich weiß, du magst diese Dinger nicht – ich ja auch nicht. Aber was würde ich jetzt für einen kurzen Anruf von dir geben, der mir sagt, dass es dir gut geht.
Vielleicht ist es ja wirklich so, dass die Post so furchtbar lange braucht, einen Brief dorthin zu schaffen, wo du dich gerade aufhältst. Ich nehme es mal an, das zu glauben lässt mich auch ruhiger schlafen.
Hier läuft alles seine Bahnen, es scheint so, als sei alles ein wenig hektischer und aggressiver geworden. Die Sonne scheint schneller zu kreisen, die Nacht ein bisschen finsterer zu sein. Frag mich nicht, wie ich darauf komme! Alles nicht fassbar, das Unwohlsein findet unter der Haut statt.
Melde dich bitte, Ruth!
In Liebe,
Elsbeth.
Meine liebe Ruth, 10.05.
Pieper ist ein Arschloch! Während ich heute Nachmittag in seinem Geschäft einkaufte, hat er die ganze Zeit auf mich eingeredet. Ohne großartig Luft zu holen, sprach er in einer Tour. Davon, wie gut das Buch doch unserer Stadt tue, wie toll es doch sei, und was es Großes beinhalte. Die ganze Zeit hing ein ekelhafter Spuckefaden an seinem Mundwinkel und ich musste an mich halten, ihn nicht wegzuwischen.
Ach, Pieper, dieser abgemagerte Langstreckenläufer, der dürre Mann, mit dem es hin und wieder mal durchgeht.
Er erzählte weiter und weiter, und lief die ganze Zeit hinter mir her. Er scheint verliebt zu sein in das Buch. Irgendwann war ich fertig mit meinem Einkauf und wollte bezahlen. Da erst hielt er endlich seine Klappe.
Ich sagte: „Schlagen Sie lieber weniger Frauen!“
Er starrte mich an, dann lachte er, auf diese dreckige, unbeholfene Weise, wie sie Betrunkenen und gewalttätigen Kindern eigen ist. In letzter Zeit scheint jeder in unserer Stadt etwas zu lachen zu haben.
Wenn ich im Museum bin, muss ich immer einen Blick auf das Buch werfen, Pieper hat schon Recht. Es geht eine gewisse Faszination von den Pergamentseiten aus, im kreischenden Neonlicht scheinen die üppigen Illustrationen zu atmen, zu pulsieren.
Wenn ich Glück habe, ist es leer in dem Raum, manchmal komme ich spät abends oder nachts hierher. Die ganzen Bittbriefe an die Schutzheiligen, man glaubt, die Gebete zu hören, die wispernden Stimmchen, das Flüstern, das von den Wänden zurückhallt.
Als ich dann zurückkam, hockte Quandt auf den Stufen vor dem Haus und starrte mich an.
„Was wollen Sie?“, fragte ich ihn außer Atem. Ich wollte die Beutel nicht aus der Hand stellen, weil ich davon ausging, dass er Platz machen würde.
Er grinste unbeholfen, aber in seinen Augen sah es nicht lustig aus.
Erst als mir einer der Beutel aus der Hand rutschte und ein Eisbergsalat über den Weg kollerte, stand er auf. Hatte ich jemals geglaubt, der Kerl da hätte etwas für mich übrig?
„Ich brauch mehr Geld“, sagte er. Er war unrasiert; eigentlich habe ich ihn niemals unrasiert gesehen.
„Oh“, erwiderte ich und stellte den anderen Beutel aus der Hand. „Herr Quandt, Sie können ja sprechen.“
„Ich will mehr Geld.“
Das war es, was er sagte: „Ich will mehr Geld!“ Nichts anderes, aber sein Gesicht sprach viel mehr.
Es erzählte von Unsicherheit und Verschlagenheit, von der lauernden Feindseligkeit, niemals waren wir so etwas wie Freunde gewesen.
„Lassen Sie mich bitte vorbei, Herr Quandt.“
Ich muss zugeben, in dieser Situation hatte ich eine schlimme Angst vor dem Mann. Aber die Furcht war durchsetzt mit Wut, ich hätte knurren können. Was bildete er sich ein?
„Ich will mehr Geld.“
Ich zitterte, mein Einkauf lag auf dem Weg verstreut und der Kerl machte keine Anstalten, zur Seite zu gehen. Dort das Haus, hier ich und zwischen uns der alte Mann, der immer noch groß und kräftig war. Es schien ein bisschen so, als wunderte er sich selbst über sein Verhalten.
Hätte ich nur irgendetwas zu Händen gehabt, womit ich mich hätte wehren können.
Die Gartenpforte quietschte; ich wandte mich um. Selten war ich dankbarer gewesen, Herrn Pieper zu sehen.
„Macht er Schwierigkeiten?“ Der gute Herr Pieper hatte die Situation sofort erfasst. Er kam aufs Grundstück, ging an mir vorbei und stellte sich direkt vor Quandt. Der wiederum machte sich recht groß, dass er Herr Pieper wohl um einen Kopf überragte. Ich sah die Augen von Quandt, das Weiße war kaum noch weiß, als wären sie mit Blut gefüllt.
Pieper stieß ein Knurren aus, er war zwar kleiner, aber ein Gutteil jünger als sein Kontrahent.
Ich klaubte meine Sachen auf, und es gelang mir, mich an den beiden Männern vorbeizudrücken. Sie sahen sich, wie sie so dastanden und von mir überhaupt nichts mitkriegten, so unglaublich ähnlich, in diesem Moment hätten sie Brüder sein können.
Ich musste mich setzen, als ich endlich im Haus war. Die Spannung, die sich löste, zog die Beherrschung mit aus meinem Körper, ich musste weinen.
Nachdem ich mich halbwegs beruhigt und die Tränen weggewischt hatte, ging ich nach hinten hinaus und holte mir aus dem Schuppen eine Hacke. Dann schlich ich wieder nach vorne und beobachtete am Fenster, wie die beiden Männer sich prügelten. Es ging wirklich zur Sache, Piepers linker Arm war seltsam auf den Rücken verdreht, aber er hatte Quandt in den Schwitzkasten genommen und stieß nun mit seinem Kopf ein ums andere Mal auf dessen Schädel.
Quandt konnte sich befreien, da saßen sie schwer atmend auf dem Rasen und stierten sich wütend an. Sie hatten immer noch nicht genug.
Ich ergriff die Gelegenheit, nahm das Gerät und schlüpfte zu ihnen hinaus. Ich zog beiden mit der Hacke eins über – Quandt erwischte ich am Hinterkopf, er blutete ein wenig danach, bei Pieper war es ein Volltreffer an der Schläfe.
So ließ ich die beiden Streithähne liegen und zog mich ins Haus zurück. Es dämmerte allmählich, es wurde Zeit, sich bettfertig zu machen. Vorher aber gab es Pilawa im Fernsehen, und den wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Morgens dann, als ich zum Einkaufen ging, sah ich, dass beide weg waren, getrocknetes Blut auf dem Pflaster und ein Büschel Haare waren Beweis für den Kampf am Abend. Meine Blumenbeete hatten die Raufbolde unberührt gelassen.
Pieper war tatsächlich in seinem Laden, er war unglücklich bandagiert und mit Pflastern beklebt, und sein Blick war flatterig. Aber er half mir mit dem Einkauf, auch wenn er nur die rechte Hand benutzen konnte. Ein befremdliches Detail fiel mir auf, er hatte sich auf den Rücken seiner rechten Hand ein „F“ geritzt. Ein blutiges Kürzel für was auch immer.
Als er hinter mir herhinkte und mir einen „Schönen Tag noch!“ wünschte, lächelte er nicht.
Etwas geht vor, das spüre ich ganz deutlich und es wird etwas geschehen in unserer Stadt.
Ich werde heute Nachmittag noch einmal Frau Gehrke besuchen, wir werden beraten, was zu tun ist.
Bis dahin, liebe Ruth
Elsbeth.
Aushang am 10.05.
die mit anpacken und helfen, di
verschönern. Am 16.05 um 08.00Uhr wol
Stadtpark treffen und einen Frühjahrsp
Wir hoffen auf ebenso rege Teiln
wie im letzten Jahr.
Liebe Ruth, 10.05.
es ist alles ganz furchtbar, was nur ist aus dieser Stadt geworden? Bis heute wusste ich nicht, was vor sich geht, aber nun glaube ich es zu wissen, und ich weiß, was getan werden muss.
Ich war bei Frau Gehrke, gleich nachdem ich den Brief an dich eingeworfen hatte. Sie machte nicht auf.
Das war beunruhigend, denn wir hatten uns verabredet und es ist nicht ihre Art, sich daran nicht zu halten.
Also nahm ich den Schlüssel, den sie mir gegeben hatte und öffnete den Eingang. Die Tür war nur zugeworfen gewesen, diese Tatsache machte mich noch ängstlicher. Ich zog dir Tür wieder zu und lauschte.
„Hallo.“ Ich war nicht sicher, ob ich eine Antwort hören wollte. Eigentlich wollte ich auch nicht in dieses Haus gehen, wenn sich seine Besitzerin nicht meldete.
Ich ging trotzdem hinein. Es schien wie immer, alles war aufgeräumt und sauber, freundlich und gut durchgelüftet. Es machte den frischen Eindruck eines Frauen-Haushaltes.
Ein Geräusch war zu hören und mein Herz tat einen Satz. Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich langsam, leise schwang sie auf. Die kleine Dorothea kam heraus. Sie sah wirklich so unschuldig aus, wie sie ängstlich in der Tür stand.
„Komm her, mein Kind!“ Ich hockte mich hin, obwohl mir das nicht leicht fiel.
Das Mädchen war ohne jede Scheu. Ich nahm es in den Arm und dabei bemerkte ich das Blut in seinen Haaren. Es war soviel, dass es unmöglich von dem Kind stammen konnte, der ganze Hinterkopf war blutverschmiert. Die Kleine musste ihren Kopf direkt in die Blutlache hineingelegt haben.
Das Schlafzimmer, durchzuckte es mich. Und auch hier war es so, dass ich Angst hatte, weiterzugehen.
Als ich hineinblickte, sah ich, woher die Kleine den furchtbaren Blutfleck hatte. Wenn man seine Großmutter so sehr liebt, dass man sich an seinen Bauch schmiegt, wenn man sich ängstigt …
Frau Gehrke lag auf dem Bett.
Das Blut war ihr aus allen Körperöffnungen getreten und es sah nur so aus, als ob sie grinste.
Mich überkam Eiseskälte. Ich wusste nicht, wer das hier getan hatte, noch warum. Aber ich ahnte die Ursache des Ganzen, den Ursprung.
Und wenn ich diesen Gedanken zu fassen bekomme, der da in meinen Eingeweiden umherschwirrt, dann weiß ich, was zu tun ist.
Einstweilen nahm ich das Kind und verließ das Haus. Wir durcheilten die Straßen, möglichst nah an den Häuserwänden, immer ein Auge im Rücken.
Obwohl die Situation meine vollste Aufmerksamkeit erforderte, konnte ich nicht verhindern, über unsere Lage nachzudenken.
Irgendetwas war über uns gekommen, die Stadt ist in Aufruhr.
Was ich bis dahin nicht gesehen hatte, sah ich jetzt: Unrat in den Straßen, Müllkübel umgeworfen, überquellend. Die Stadt war wie infektiöse, pockennarbige Haut.
Gestalten kamen uns entgegen, ich versuchte, ihnen nicht in die Augen zu sehen. Mal schwankten sie vorüber, dann wieder blieben sie stehen und betrachteten die alte Frau und das Mädchen, wie sie gebückt vorbeihasteten. Sie waren alle so fremd geworden, und jederzeit konnte es passieren, dass eine blutige Hand hervor schoss und uns packte.
Ich sitze jetzt hier, habe eine Kerze entzündet, um Licht zu haben für diesen Brief. Die Fenster sind verdunkelt, ich will jegliche Aufmerksamkeit vermeiden. Die Kleine schläft.
Ruth, die Stadt … sie ist anders geworden, wir alle haben uns verändert. Etwas ist von uns genommen, die Menschen benehmen sich wie entfesselt. Und ich kann mir denken, wer oder was Schuld daran trägt.
Ich werde das verfluchte Buch vernichten, das unselige Stück Pergament aus dem Mittelalter. Das die Franzosen aus Unwissenheit oder gar mit purer Absicht bei uns angeschleppt haben. Sie brachten Verderben über uns, es ist dunkel geworden im Ort.
Ich weiß, was ich zu tun habe, Ruth. Noch in dieser Nacht wird es geschehen, und wenn es einen Gott gibt, wird er mir helfen, diese Stadt zu befreien.
Mit dem letzten Punkt auf dem Papier werde ich loseilen, auf dem Weg zum Museum dann den Brief einwerfen; vielleicht ist dies die letzte Nachricht, die du von mir erhältst.
In Liebe,
Elsbeth.
Gott steh mir bei!
Wir sind verloren, für immer dazu verdammt, als das über Erden zu wanden, was wir wirklich sind: egoistische, mordlüsterne Kreaturen, deren Kopf nur eines ausfüllt: das eigene Überleben. Es wird immer schlimmer.
Meine liebe Ruth,
ich war im Museum, der Weg dorthin war nicht leicht. Ich ließ das Kind zurück und meinen Kastor ebenfalls. Unterwegs begegnete ich niemandem, und doch war es mir so, als würde ich von allen Seiten beobachtet.
Ich habe Zutritt zum Museum, auch als Ehrenamtliche, so fiel es mir leicht, hineinzugelangen. Ich schlich durch das leere Gebäude, auch hier stets das Gefühl, viele Augen folgten mir.
Das Buch lag auf dem Pult im Zentrum des Raumes, als seien alle Dinge von ihm abgerückt. Ich schaltete das Licht ein und es kam mir vor wie ein Herrscher, ein kalter, abgehobener Diktator.
Ich hatte vor, das Buch zu verbrennen, so schnell es ging wollte ich es aus dieser Welt schaffen. Doch auch wenn mein praktisches Wissen bescheiden ist, war mir doch klar, dass ich das Buch nicht im Haus verbrennen konnte. Also musste ich es hinausschaffen und unter freiem Himmel vernichten.
Was danach geschehen würde, wusste niemand.
Die Sicherungsanlagen im Haus sind nicht sehr weitreichend, die wenigen Anlagen kenne ich. So dass ich ohne große Verzögerung hinausgelangte.
Das Buch war schwer, zumindest für eine alte Frau wie mich. Doch ich war verzweifelt und gleichzeitig voller Hoffnung, das Richtige zu tun.
Ich schleppte es durch einen Nebeneingang hinaus bis vor die Tür zu einem Geräteraum. Dort ließ ich das unselige Ding auf den Rasen fallen und fand sofort, wonach ich suchte.
Ich war völlig außer Atem als ich den Kanister zu dem Buch geschleppt hatte, ich schaffte es noch, den Großteil der Flüssigkeit über dem Papier zu verteilen. Streichhölzer hatte ich mitgebracht und als ich eines davon anriss, breitete sich ganz plötzlich eine große Ruhe in mir aus. Ich wusste, es war das Richtige, was ich tat.
Etwas knurrte hinter mir, das war Quandt, der mich die ganze Zeit beobachtet hatte. Natürlich.
Er sah furchtbar aus, getrocknetes Blut überzog sein Gesicht wie ein Flussdelta. Beide Augen fast zugeschwollen, konnte ich doch seinen hasserfüllten Blick erkennen.
Er stand nur da, das Knurren kam tief aus seinem Körper.
Das Zündholz in meiner Hand erlosch schmerzhaft; die Laterne schien nun in Quandts Rücken, so dass sein Gesicht schattenzerfurcht und unheimlich entschlossen aussah.
Als ich das nächste Streichholz anriss, es mühsam zwischen den zitternden Fingern hielt, da gerieten seine Gesichtszüge in hektische Bewegung.
„Ich muss es tun“, rief ich, nur um die Stille zu vertreiben. Er trat auf mich zu.
„Bleiben Sie“, stieß ich aus, doch es war zu spät. Er packte meine Hand, entriss mir das Hölzchen. Die kleine Flamme strich über seine Finger, doch er schien nichts zu spüren.
Er sah mich an, hielt das Holz hoch und warf es dann auf das Pergament.
Es war, als übergösse er das Buch mit Flammen. Die Seiten bäumten sich unter der Hitze, es gab ein Zischen.
Verwundert sah ich zu Quandt, doch der hatte sich schon umgedreht und humpelte davon.
Die Farben der prunkvollen Illustrationen zerliefen im Feuerschein, es schien als weinten die Figuren, als wollten sie fortrennen, sich retten aus den Flammen.
Als ich nach Hause zurückeilte, war das Gefühl des Beobachtetwerdens fort.
Aber sonst hatte sich nichts geändert. Alles war geblieben, der Muff, die schreckliche Kälte, der Verwesungsgeruch.
Rasenden Herzens, doch noch immer nicht ohne Hoffnung hastete ich durch die Straßen. Wieder wich ich Unrat aus, Abfall.
Eine Gestalt lag ausgestreckt an einem Gartenzaun, ich weiß nicht, ob der bedauernswerte Mensch tot war oder nur erschöpft. Ich lief weiter.
Die Gartenpforte stand offen, ebenso die Haustür. Auf dem Abtreter lag Kastor, mein Hündchen. Zumindest machte das verdrehte blutige Bündel den Eindruck, dass er es war. Ich sah nicht mehr hin, stieg über ihn hinweg und konnte nur hoffen, dass der arme Kerl nicht hatte leiden müssen und dass er nicht versucht hatte, einen Sinn hinter seinem Tod zu suchen.
Meine Gedanken galten dem Kind, der Kleinen, die ich zurückgelassen hatte. Ich stürmte hinein, ohne daran zu denken, dass das Monster sich noch im Haus aufhalten konnte.
Das Bett war leer, ich fand es nicht, doch ich wagte nicht zu rufen. Ich musste ganz still sein, dann konnte ich es leise weinen hören.
Das Mädchen hatte sich im Keller versteckt; erst jetzt schien es begriffen zu haben, worum es ging.
Ich sitze wieder hier an dem kleinen Tisch in der Mansarde, habe den Brief vor mir und ich weiß weniger denn je, ob er dich erreichen wird. Ich grübele im Fast-Dunkel und versuche mir klar zu werden, wie es um uns bestellt ist.
Dass ich das Buch verbrannt habe, hat gar nichts bewirkt. Zwar hatten auch andere diese Idee, aber das Tun war fruchtlos.
Warum dann kam diese Veränderung über unsere Stadt?
Ich war mir bis jetzt sicher, dass irgendetwas den Bewohnern zugefügt worden war; eine Macht hatte uns Hass und Egoismus gegeben.
Doch je länger ich nachdenke, desto klarer wird für mich, dass genau das Gegenteil der Fall ist; dass dem Ganzen der Deckel genommen wurde.
Ich fragte mich, welche Veränderung gab es, bevor alles begann?
Ich bin drauf gekommen, Ruth. Du bist der Schlüssel, deine Abreise hat uns in dieses Unglück gestürzt.
Ich flehe dich an, liebe Ruth, wenn dich dies Schreiben erreicht und wenn dir etwas an unserer Stadt liegt, kehr zurück, Ruth, so schnell es dir möglich ist!
In Liebe,
Elsbeth.
Meine liebe Elsbeth,
nachdem ich deine vielen Briefe erhalten und gelesen habe, ist mir klar, dass es ein Fehler gewesen war, euch solange allein und eurem Schicksal zu überlassen. Ich hatte gemeint, ihr wäret schon weiter.
Der Vergleich mit dem Deckel liegt viel näher an der Wahrheit, als du ahnst.
Um zu verstehen, brauchst du nur drei Dinge zu wissen:
Erstens, ich bin älter als gemeinhin angenommen.
Zweitens, wir sind unserer viele, aber längst nicht genug.
Und drittens, ich bin auf dem Weg zu euch.
Liebe Elsbeth, es wird alles gut, vertrau mir!
Ruth.