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- 20.01.2018
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Es gibt ein Copywrite von bernadette : Berlin im August .
Mein Gefängnis auf dem Mond
Jeder Mensch hat so etwas. Ein Hobby, eine Beschäftigung. Etwas, in das man sein ganzen Herzblut reinstecken kann. Man sitzt herum und versucht, sich zu konzentrieren, aber kriegt den Kopf einfach nicht frei, weil man in Gedanken immer wieder an diese eine Sache zurückkehrt. Es ist das ein und alles. Als wäre man wieder ein Kind, das mit seiner Eisenbahn spielen darf. Manche Männer machen das.
Meine Eisenbahn ist mein Wohnzimmer.
Ein rotes Sofa, ein Poster von Pulp Fiction an der Pflastersteinwand, daneben eine Theke aus Eichenholz. In der Wand unter dem Gemälde sitzt ein Kamin. Schaumig peitscht die Gischt gegen drei große Fenster.
Mit einem Fingerschnippen entzünde ich den Kamin. Während im Hintergrund das Holz knackt, nehme ich mir einen Riesling aus der Theke und setze mich auf das Sofa.
Ich in es leid, in die Wellen zu starren. Wasser, tagein, tagaus. Seit Wochen. Klar ist das Meer schön, aber nach der hundertsten Welle auch entsetzlich langweilig. Also klatsche ich einmal laut in die Hände und suche mir aus dem auftauchenden Menü etwas Neues heraus. Etwas mit Stil.
Zehn Minuten später sitze ich auf dem Mond, nippe an meinem Wein und sehe zu, wie sich Europa langsam in die Nacht dreht.
Ich liebe diesen Ort.
Plötzlich knallt es.
In der Luft neben dem Kamin ist eine Tür erschienen. Vor Schreck fällt mir fast das Glas aus der Hand.
„Sam?“, frage ich. Sam ist ein Butlerprogramm und dafür zuständig, dass die Software meiner virtuellen Realität reibungslos funktioniert. Er verwaltet Speicher, Downloads und Kommunikation. Quasi mein Hausmeister.
„Ja, Sir?“, meldet er sich.
„Was ist das?“, frage ich und stehe vom Sofa auf.
„Eine Tür.“
„Witzig. Und wie kommt die dahin?“
„Ich weiß es nicht, Sir.“
Vorsichtig gehe ich auf die Tür zu.
„Vielleicht sollten sie sie nicht öffnen, Sir.“
Meine Hand greift die Klinke und zieht sie nach unten.
Es ist eine Badezimmer. Ein Mädchen liegt auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand und dem Kopf auf dem Klodeckel. Ihre blauen Augen sind wässrig von all den Tränen, die ihre Wangen herunterkullerten, und sie schluchzt und weint unkontrollierbar. Ich hätte sie auf zwanzig geschätzt, aber das muss nichts heißen. Ich bin schlecht darin, Menschen einzuschätzen. Man kann noch sehen, dass sie sich die braunen Haare vorher auf dem Hinterkopf zu einer Krone zusammengebunden hat. Jetzt stehen die Locken in alle Richtungen ab, als hätte sie der Blitz getroffen. Trotz ihres Zustandes ist sie wunderschön. Ihre schutzlose Art verleiht ihr eine gewisse Unschuld, die mich sofort in den Bann zieht.
Keine Ahnung, was ich jetzt tun soll.
Eine Viertelstunde später sitzen wir an der Theke. Ich habe ihr eine Decke über die Schulter gelegt und Wasser angeboten, aber sie tut nicht mehr, als mich mit ihren glasigen Augen anzusehen. Kein Wort ist bisher über ihre Lippen gekommen. Im Hintergrund geht die Sonne über Neuseeland auf.
„Wie heißt du?“, frage ich zum wiederholten Male und gieße mir einen neuen Riesling ein. Meine Kehle ist staubtrocken.
Keine Antwort. Sie sitzt nur da, starrt Löcher in die Luft und trocknet sich die Tränen.
„Sam, kannst du dir das erklären?“
„Ich weiß es nicht, Sir. Sie könnte ein Eindringling sein.“
„Ein Eindringling? Wie ein Trojaner?“
„Richtig.“
„Aber wie ist das möglich?“
„Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie es waren, der die Tür geöffnet und ihr somit Zugang zu ihrem VR-Server verliehen haben. Wenn auch unwahrscheinlich ist es doch möglich, dass meine Sicherheitsprotokolle umgangen wurden. In diesem Fall müssen wir damit rechen, dass sich jetzt gerade Dritte unbefugten Zugang zu ihren Daten verschaffen. Ich schlage vor, sie zu eliminieren, bevor sie ernsthaften Schaden anrichten können.“
„Und wie willst du das anstellen?“
„Ihre Aufgabe. Ich bin nicht dazu autorisiert, Menschen des Servers zu verweisen.“
Auf dem Tresen erscheint ein Revolver. Bedrohlich scheint sein goldener Lauf im Licht der Sonne. Ich hatte nie viel mit Waffen zu tun, erst Recht nicht mit Schusswaffen. Sie machen mir Angst.
Wenn jemand in der virtuellen Welt stirbt, werden seine Daten vom Server gelöscht. Solange er also nicht in einer Cloud gespeichert ist, wacht er irgendwo auf der Erde auf und greift sich kreischend in die Brust, weil er gerade erfahren hat, wie es ist, eine Ladung voller Metall in die Brust gejagt zu bekommen. Keine schöne Erfahrung.
Ich lösche die Waffe. Ich werde sicher niemanden erschießen, dem ich noch vor einer Minute eine Decke über die Schultern gelegt habe. „Nein, Sam.“
„Wir können uns nicht sicher sein, ob es sich um einen Hacker handelt, Sir.“
„Siehe sie dir doch einmal an! Sie sieht aus, als hätte sie die Hölle durchgemacht.“
„Eine Täuschung.“
„Ach was.“ Der Kavalier in mir übernimmt die Führung. „Am Besten machst du einen umfassenden Check des Systems und überprüfst, ob der Server einen Fehler hat. Und teste deine Sicherheitsprotokolle gleich mit.“
Ich stelle den Riesling zur Seite und wende mich der jungen Frau zu, dass seit dem Beginn unserer Konversation nur schweigend aus dem Fenster geschaut hat. Sie erinnert mich an eines dieser Model, die man jeden Tag auf Coverblättern sieht.
„Wie heißt du?“, frage ich.
In ihren Augen spiegelt sich der Sonnenaufgang. Zu gern würde ich wissen, was sie noch alles gesehen haben.
„Chelsea“, sagt sie leise. Ihre Stimme ist hell, aber ein bisschen rauchig, als habe sie in ihrem kurzen Leben bereits zu viele Zigaretten geraucht.
Sie klingt wunderbar.
„Ok, Chelsea. Kannst du mir erzählen, wo du herkommst?“
Sie schüttelt den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Sie wendet sich ab und blickt mich mit ihren trüben Augen an. Eine Träne hängt an ihrer Wange. „Ich kann mich an nichts erinnern. Wo bin ich?“
Das Licht geht aus. Die Fenster werden schwarz. Ich sitze in vollkommener Dunkelheit.
Ein virtueller Stromausfall. Na toll.
„Sam? Sam, was ist passiert?“
Keine Antwort. Panik macht sich in mir breit, genauso wie das ungute Gefühl, etwas absolut dummes getan zu haben. Was passiert hier?
Neben mir beginnt Chelsea zu weinen. Ich taste nach ihrer Hand und greife sie fest. „Alles gut. Ich habe das.“
Mit der anderen Hand versuche ich, eine Kerze zu erzeugen. Nichts passiert.
Verdammt. Ich bin der größte Idiot, den der Mond je gekannt hat.
Plötzlich gehen die Lichter wieder an, genau wie die Fenster. Das prasselnde Geräusch des Kamin kommt zurück. Erleichtert atme ich aus. Eines der drei Glasscheiben zeigt eine Fehlermeldung.
VR-Server von Netzwerk getrennt. Einige Features stehen möglicherweise nicht zu Verfügung. Es wird nach Verbindungen gesucht. Bitte bewahren Sie Ruhe.
Vom Netzwerk getrennt?
„Sam?“, frage ich erneut.
Natürlich bekomme ich keine Antwort. Sam ist nur ein Sprachrohr, eine Bote, der mit über das Internet die Antworten einer künstlichen Intelligent vermittelt. Kein Netz, keine Übertragung.
Erst jetzt realisiere ich, dass ich Chelseas Hand halte. Sie ist warm und weich. Irgendwie ist es mir peinlich. Hoffentlich hält sie mich nicht für einen Perversling. Ich möchte sie loslassen, aber ihre Finger klammern sich fest. Es ist lange her, dass ich die Hand eines anderen Menschen gehalten habe. Sie ist weich und warm, wie Pergament.
Diese plötzliche Distanzlosigkeit überfordert mich. Vorsichtig versuche ich, mich aus ihrem Griff zu winden, aber sie hält stand. Ihre geweiteten Augen starren auf die Sonne, der Mund leicht zitternd. Als wollte sie das Licht verschlingen. Ich weiß nicht, wo Chelsea gerade ist, aber ganz sicher nicht hier.
Bitte, soll sie die Hand haben.
„Hey“, beginne ich, in der Hoffnung, sie aus ihre Traum zu holen. „Das war nur ein Stromausfall. Alles ist gut, versprochen. Aber es sieht so aus, als müsstest du hier eine Weile bleiben.“
Sie nickt, ohne den Blick von der Sonne abzuwenden.
„Wo kommst du her?“
Keine Antwort.
„Ich meine, es tauchen nicht oft einfach Menschen in meiner Wohnung auf. Weiß ja nicht, wie das bei dir ist.“
Wow. Was eine dumme Aussage.
Sie ist in einer anderen Welt. Vielleicht ist es am Besten, wenn ich die Fragen vorerst sein lasse. Ich muss einen Weg finden, sie aus ihrer Starre zu holen. Hoffentlich verbindet sich der Server bald wieder mit dem Internet. Sam wüsste, was ich tun könnte.
Aber Sam ist nicht hier. Ich bin auf mich alleine gestellt.
„Ist das die Sonne?“, fragt Chelsea plötzlich und sieht mich an. „Wo bin ich? Ist das der Mond.“
„Ja. Und nein. Tatsächlich ist das mein Wohnzimmer.“
Ihr Blick sagt mir, wie nichtssagend diese Aussage war.
„Wir sind nicht wirklich auf dem Mond, sondern auf einem Server. Eine Simulation, wenn du es so willst.“
Sie scheint es nicht zu verstehen. Ich klatsche in die Hände und setzte die Fenster auf Standard zurück.
Überrascht schreit sie auf, als eine Monsterwelle gegen das Glas klatscht. Tageslicht scheint herein. Von draußen höre ich das Geschrei einer Möwe und ich könnte schwören, dass die Luft im Wohnzimmer gerade salziger geworden ist.
„Was ist passiert? Ist das ein Traum?“, fragt sie.
„Nein. Aber es ist auch nicht echt.“
„Was ist es dann?“
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist ein Sandkasten. Ohne Regeln oder Naturgesetze. Wenn du weißt, was du willst, kannst du es tun. Oder haben. Fast wie Zauberei.“
Zum Glück hat der Server einen Cache, in dem alle Sachen gespeichert werden, die ich einmal benutzt oder erschaffen habe. Ich erschaffe einen Pinguin, direkt auf der Theke. Chelsea will etwas sagen, wird aber plötzlich von dem Pinguin unterbrochen, der laut anfängt, It`s beginning to look a lot like Christmas zu singen. Dann verwandelt er sich in ein Zebra, macht einen Rückwärtssalto und löst sich in der Luft in Konfetti auf.
Ihr Blick ist Goldwert. Ich komme nicht umhin zu grinsen.
„Aber was mache ich hier? Wie bin ich hierher gekommen?“, fragt sie.
„Ich habe gehofft, dass du mir das beantworten kannst.“
Ihr Blick fällt auf unsere Hände. Langsam löst sich ihr Griff von meinen Fingern. „Wohnst du hier?“
„Ja.“ Wieso bin ich jetzt beleidigt? Weil sie nicht mehr meine Hand hält?
„Es ist so still hier.“ Langsam schlendert Chelsea zum Kamin und hält die Finger vor das prasselnde Feuer. „Hast du etwas zum Essen? Ich habe Hunger.“
Wenn es eine Sache in meinem Cache gibt, dann ist es Essen.
Ich habe selten so viel gelacht wie an diesem Abend. Ich habe das Sofa entfernt, um mehr Platz zu haben, und es durch einen Glastisch ersetzt. Chelsea trinkt auf meinen Ratschlag hin zum Essen einen Dornfelder, halbtrocken. Er scheint ihr zu schmecken. Immerhin nimmt sie ein zweites Glas.
Langsam taut sie aus ihrer Schockstarre auf. Jetzt, wo sie wach ist, begreife ich erst ihren wahren Charakter. Sie ist aufgeschlossen, höflich und intelligent, ein wunderbarer Gesprächspartner. Sie lacht sogar über meine Witze, obgleich sie furchtbar schlecht sind. Langsam bin ich froh, sie in dem Badezimmer gefunden zu haben.
„Und du kannst dich wirklich an nichts erinnern?“, frage ich vorsichtig, um das Gespräch wieder in die alte Richtung zu lenken. Zu gerne würde ich mehr über sie erfahren und darüber, wo sie herkommt.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Aber ich heiße Chelsea, das weiß ich.“ Sie nimmt noch einen Schluck vom Dornfelder. „Erzähle mir etwas über dich.“
„Über mich?“
„Ja, bitte.“ Langsam werden ihre Backen rot.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen."
Sie legt den Kopf schief. „Ach?“
„Ich weiß nicht.“ Ich rede nicht gerne über mich selbst. Nervös nehme auch ich einen Schluck von meinem Riesling. „Was willst du denn wissen?“
„Wie bist du hierher gekommen? Leben alle Menschen an so einem Ort?“
„Nein, ich hatte Glück. Habe in einer Lotterie gewonnen.“
„Und wieso bist du alleine? Hast du keine Familie?“
Aua. Chelseas Frage tut weh. Als ich ihr in die Augen sehe, liegt darin aber keine Boshaftigkeit. Nur Neugier. Sie ist ehrlich.
Sie interessiert sich für mich. Allein die Vorstellung löst Herzrasen aus.
„Keine Familie, nein. Aber eine Tochter.“
„Wie alt ist sie?“
„Drei Jahre.“
„Und wo ist sie?“
„Bei ihrer Mutter.“
„Wie heißt sie?“
„Lia.“
Chelsea nickt und lächelt.
Ich rede nicht gerne über meine Familie oder das, was es mal gewesen ist. Wie mein Schatten folgt es mir überall hin, sogar hierher.
Aber wer weiß, was hier alles möglich ist.
„Ich frage mich, wie mein richtiges Leben wohl aussieht“, überlegt Chelsea. „Ich will meine Familie unbedingt wieder kennenlernen. Was denkst du, hab ich wohl Geschwister? Verrückte Freunde? Ein Haustier? Ich hätte wahnsinnig gerne ein Haustier, am Liebsten einen kleinen Hund.“ Dann wird ihr Blick ernst. „Sei ehrlich. Ist dir hier nicht langweilig?“
„Was meinst du?“
„Naja, so ganz alleine. Diese Welt. Ich meine, sie ist ja nicht echt, oder? Hier ist es so still. Nur du und ich, aber das war es dann auch. Ist man es nicht irgendwann leid, alles mit einem Fingerschnippen zu erreichen und zu wissen, dass es nur eine Illusion ist?“
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Ich bin verblüfft und sehe mir all die leeren Teller und Schallen an. Sind sie nicht echt?
Ich weiß es nicht.
Im Weltraum gibt es keinen Tag-Nacht-Wechsel, also habe ich beschlossen, die Fenster zwischen 12 Uhr und 8 Uhr Morgens auszuschalten.
Am nächsten Morgen stehe ich in der Küche und brate Spiegeleier, während mir die Sonne neugierig dabei zuschaut. Chelseas Worte gestern haben mich zum Nachdenken angeregt. Außerdem möchte ich sie beeindrucken.
Die Verbindung ist noch immer nicht hergestellt.
Leise schlurft etwas die Treppe herunter, die ich am Abend vorher neben dem Kamin platziert habe.
„Guten Morgen“, sage ich lächelnd.
Müde reibt Chelsea sich den Sand aus den Augen und blinzelt. Sie trägt noch immer den silbernen Bademantel. „Was machst du da?“
„Frühstück.“
Überrascht schaut sie in die Pfanne. „Was ist das?“
„Was das ist? Das sind Spiegeleier. Du musst ja wirklich ordentlich einen auf den Schädel bekommen haben.“
Sie zuckt mit den Schultern.
Der zweite Tag mit Chelsea wird noch besser. Wir kommen uns näher, lernen uns besser kennen. Wir spielen Billard, Tischkicker und Playstation. Ich bringe ihr Schach bei. Anfangs verliert sie noch jede Runde, aber nach gut zwei Stunden kann sie langsam mithalten. Einmal setzt sie mich sogar Schachmatt, ohne dass ich es habe kommen sehen. Sie lernt schnell.
Und sie kann Klavier spielen, wenn auch etwas holprig. Immer wieder verspielt sie sich und streift die falsche Taste, aber für jemanden, der sein Gedächtnis verloren hat, ist sie ziemlich gut. Ich bin mir sicher, dass der Mond noch nie etwas vergleichbares gehört hat.
Plötzlich steht Chelsea vom Klavier auf und greift meine Hand. Ein elektrisierendes Gefühl fließt durch mich von Kopf bis Fuß und ich bekomme Gänsehaut, als sie ihre Hand an meine Schulter legt und mir ins Ohr flüstert: „Kannst du tanzen?“
„Zählt Let´s dance?“
„Nein.“
„Dann bin ich der schlechteste Tänzer, den die Welt je gesehen hat.“
„Das macht nichts. Wir sind hier auf dem Mond.“
Ich wünschte, dieser Moment würde für immer bleiben. Dass die Verbindung nie wiederkommen würde. Chelsea ist noch keinen Tag hier und trotzdem kann ich mir diesen Ort nicht mehr ohne sie vorstellen. Ich will nicht, dass sie geht. Sie ist so anders als die Menschen auf der Erde.
Es wird Abend. Ich habe den Glastisch wieder durch das Sofa ersetzt, sodass wir beide darauf sitzen können. Die Fenster sind aus. Jetzt sitzen wir vor dem Fernseher und schalten wahllos durch das Programm. Wer glaubt, in der virtuellen Realität wäre die Qualität der Filme besser, irrt sich. Hier läuft derselbe Quatsch wie auf der Erde.
Manche Dinge ändern sich wohl nie.
Chelsea hat ihren Kopf auf meine Schulter gelegt und schläft. Mein Nacken wird langsam steif, aber ich will nicht aufstehen. Am Liebsten würde ich hier bis in alle Ewigkeiten sitzenbleiben.
Vielleicht mache ich das ja auch.
Ich war nie wirklich gut im Umgang mit anderen Menschen. Sie sind laut, dumm und unhöflich. Respektlos. Meistens werde ich in ihrer Nähe nervös, weil ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Lustig? Offen? Ehrlich? Vermutlich halten mich die meisten für einen komischen Kauz.
Mit Chelsea ist das anders. Vielleicht liegt es daran, dass mich noch nie jemand so persönlich kennengelernt hat, aber ich durchlebe gerade Gefühle, die ich so nicht für möglich gehalten habe. Ich bin Hals über Kopf verliebt, obwohl ich eigentlich schon auf der Erde längst aufgegeben habe.
Aber was soll ich sagen? Irgendwie kommt es doch immer so, wie man es nicht erwartet hat.
„Hey“, flüstert Chelsea mir ins Ohr. „Noch wach?“
„Ich denke nach.“
„Ok.“ Sie gähnt. „Ich will dich was fragen.“
„Nur zu.“
„Du hast keine Familie, oder? Da draußen ist niemand für dich da. Nur Lia.“
Chelsea hat ein Gespür dafür, Sachen auf den Punkt zu bringen.
„Ja. Aber wir sehen uns nicht oft.“
„Du hast nie im Lotto gewonnen.“
„Nein.“ Ich schlucke. „Nein, habe ich nicht. Ich habe alle meine Ersparnisse zusammengekratzt, um diesen Server kaufen zu können.“
„Aber warum? Wieso fliehst du vor deinem Leben? Ich meine, du hast eine Tochter. Denkst du nicht, sie vermisst dich?“
Sie stülpt alles aus mir heraus, was ich versucht habe zu begraben. Auf einmal werde ich von Scham überrollt. „Ich habe mich mit Lias Mutter gestritten, ziemlich heftig. Jetzt darf ich sie nicht mehr besuchen. Ich habe es nicht ertragen, in ihrer Nähe zu bleiben und nur aus der Ferne zuzusehen, wie sie ihr Leben lebt. Es gab es keinen Grund mehr, dazubleiben. Also bin ich gegangen, so weit weg wie möglich. Welcher Ort ist da besser als der Mond?“
„Komm mit mir.“ Chelsea setzt sich auf, sodass sie mir in die Augen blicken kann, und nimmt meine Hand. „Du brauchst das hier nicht. Das hier ist nicht mehr als ein Gefängnis, in das du dich selbst gesperrt hast, um den Schmerz nicht mehr ertragen zu müssen. Aber wir beide, wir könnten auf der Erde ein echtes Leben haben. Ich will bei dir bleiben.“
Ich küsse sie.
Und bin für eine Nacht der glücklichste Mensch meiner kleinen, kleinen Welt auf dem Mond.
Am nächsten Morgen stehe ich wieder in der Küche und brate Spiegeleier. Sie haben Chelsea gefallen, also mache ich sie noch einmal. Außerdem schmecken sie anders, wenn man sie selbst macht. Sie schmecken nach Erfolg.
Plötzlich beginnt eines der Fenster zu blinken und der Schriftzug Verbindung wiederhergestellt erscheint.
„Ha!“, lache ich. Endlich. „Sam, kannst du mich hören?“
„Ja."
„Wunderbar! Was ist passiert? Wieso ist die Verbindung abgebrochen? War es ein Angriff?“
„Nein. Lediglich ein zu großer Datenstrom, der die Verbindung zwischen ihrem Server und dem Netzwerk überladen hat. Während der Reparaturen habe ich mir übrigens die Zeit genommen, mehr über ihren Gast in Erfahrung zu bringen.“
Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen. „Was hast du herausgefunden? Wird sie vermisst?“
„Nein, Sir. Die Sache ist etwas komplizierter, als es den Anschein hat.“
„Was soll denn bitte kompliziert sein?“ Meine Laune ist bestens. Auf einmal ist alles federleicht. Ich bin nur einen Moment von einem neuen Leben entfernt.
„Sie ist kein Mensch.“
Die Pfanne fällt mir aus meiner Hand.
Sam projiziert das Coverblatt eines Playboys in die Luft. Sex erreicht die virtuelle Welt lautet der Titel.
„Sie ist ein Unterhaltungsprogramm, Sir.“
Ich will etwas sagen, aber mein Mund weigert sich. Sie trägt eine andere Frisur und hat blonde Haare, aber das Gesicht ist unverkennbar. Es sind dieselben trüben, blauen Augen, die mich da aus der Luft anstarren. Ihre Augen.
Ich brauche einen Moment, um das volle Ausmaß dieser Nachricht zu verarbeiten. „Was soll das sein, Sam?“
„Das Titelblatt eines Klatschmagazins. Ihr Gast ist ein Produkt aus dem Hause meines Schöpfers, spezialisiert auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse.“
„Sie ist eine digitale Nutte?“
„Nein, Sir.“
„Sondern?“
„Sie ist keine Dienstleistung. Lediglich ein Produkt. Ein einfaches Programm. Aber ich habe noch mehr gefunden.“
Plötzlich verschwindet die Wohnung unter meinen Füßen. Stattdessen finde ich mich in einem Schlafzimmer wieder, mit einem großen, seidenen Himmelsbett. In der Mitte des Raumes steht Chelsea, zusammen mit einem Mann, den ich nicht kenne.
„Chelsea?“, sage ich und blickte mich verwirrt um. Mir ist dieser Ort gänzlich fremd.
„Sie kann sie nicht hören, Sir. Dies ist Vr-Aufzeichnung, etwa zwei Wochen alt. Ich habe sie auf einem alten Server, gefunden, welcher mittlerweile vom Host gesperrt wurde. Sie haben Glück, dass sie noch nicht automatisch gelöscht wurde.“
Langsam beugt sich Chelsea nach vorne und küsst dem Mann auf den Mund. Erst vorsichtig und sanft, dann wilder. Ich bin halb neidisch, halb fasziniert von dem, was dort geschieht.
Dann ziehen sie sich aus und lassen die Klamotten neben das Himmelsbett fallen. Kichernd verschwinden die Beiden hinter den Vorhängen, lachen und lieben sich.
„Ich will das nicht sehen, Sam.“
„Warten Sie, Sir.“
Ich will ihn gerade fragen, warum er mich zwingt, diese Aufzeichnung mitanzusehen, als ich plötzlich einen Schrei höre. Die Vorhänge reißen, Federn wirbeln in die Luft.
Chelsea erscheint zwischen der Seide und fällt auf den Boden, die Hände an die Kehle gepresst. Blut läuft ihren nackten Körper herunter, fließt durch ihre Hände und tropft auf den Teppich. Ich schreie und will auf sie zulaufen, um sie zu schützen, aber es gibt nichts, dass ich tun kann.
Ich kann es nur mitansehen.
Sie kriecht rückwärts über den Boden zur nächsten Tür und klammert sich an den Griff, während hinter ihr der Mann erscheint. Er hält ein Messer in den Händen, kommt langsam näher. Kostet den Moment voll aus. In diesem Augenblick, an diesem Ort, ist er vollends mächtig.
Die Tür hinter Chelsea öffnet sich und sie stolpert in das Badezimmer, dass auch in meiner Wohnung erschienen ist. Der Mann folgt der blutigen Spur. Ich kann nicht sehen, was als nächstes passiert, aber ich höre Schreie. Immer und immer wieder ruft sie nach Hilfe.
Minuten vergehen. Er lässt sich Zeit.
Bis es laut knackt.
Und sie verstummt.
Ich muss mich beherrschen, nicht laut loszuschreien. Es ist zwar nur eine Aufzeichnung, aber in diesem Moment fühlte es sich nach so viel mehr an. Es ist ein Mord. Ich habe gerade einen Mord mitangesehen, als wäre ich dabei gewesen. Verdammt ich bin dabei gewesen!
Dabei ist nichts von alldem hier real.
Wieder verschwimmt der Raum unter mir und ich finde mich in meiner Wohnung wieder. Adrenalin ballert durch meinen Kreislauf und bringt mein Herz zum Rasen.
Ohne Hoffnung auf Rettung liegen die halbgaren Spiegeleier auf dem Boden. Das Pfannenfett verteilt sich im Teppich.
„Sie wurde ermordet“, flüstere ich.
„Das Programm wurde nicht ordnungsgemäß beendet und ist abgestürzt, was zu einem erheblichen Datenverlust geführt hat. Bemerkbar als Gedächtnisverlust.“
In der Luft erscheint ein Textfenster voller grüner Zahlen und Buchstaben.
„Das ist ihr Programmcode nach der Aufzeichnung.“
Daneben erscheint ein weiteres Fenster, aber es ist größer und komplexer.
„Dies ist der Originalcode, Sir. Wie sie sehen, fehlen einige Stellen, die bei dem Absturz verloren gegangen sind. Es gibt gravierende Schäden, die ihre Funktionen auf ein Minimum beschränken. Mit dem Öffnen der Tür haben sie zugelassen, dass sich das Programm auf ihren Server speichert. Die schiere Bandbreite der Daten hat dann zum Ausfall geführt.“
Ich höre jemanden die Treppe herunterkommen. Langsam geht Chelsea auf mich zu und legt die Hand auf meine Brust.
„Was ist das?“, fragt sie und blickt die Zahlen neugierig an.
Was das ist? Was soll ich denn sagen?
„Das bist du“, flüstere ich und schlucke.
Verwirrt sieht sie mir in die Augen. „Bitte was?“
„Sir, zur Sicherheit habe ich seit Beginn unseres Gespräches ihren Server auf Unstimmigkeiten überprüft. Und habe das hier gefunden.“
Dann öffnet Sam ein drittes Fenster. Er ist größer als die ersten Beiden, viel, viel größer. Die Zeichen fliegen nur so an meinen Augen vorbei, während der Code sich immer weiter in meinem Wohnzimmer ausbreitet und irgendwann weit über die grünen Zeichen hinaus ist. Stattdessen sind alle neuen Buchstaben rot.
Gerade als der letzte Buchstabe seinen Platz eingenommen hat, erscheint plötzlich eine neue Spalte. Und dann noch eine.
„Das ist ihr aktueller Code. Er wird laufend aktualisiert. Ich habe alles herausgefiltert, was nicht zu ihrem ursprünglichen Programm gehört, und habe es rot markiert. Anscheinend eine unkontrollierte Mutation, ausgelöst durch ein fehlerhaftes Reparaturprogramm, welches bei dem Absturz ebenfalls beschädigt wurde.“
Ungläubig starren wir beide in die Luft. In meinem Gehirn steckt ein Eissplitter, der verhindert, dass ich einen klaren Gedanken fassen kann. Alles fühlt sich betäubt an. Ich spüre nicht einmal mehr Chelseas Hand auf meiner Brust.
Was soll das heißen? Eine Mutation? Reparaturprogramm?
Und dann verstehe ich es.
„Du lebst“, flüstere ich.
„Was haben sie gesagt, Sir?“
„Sie lebt“, sage ich, jetzt lauter. „Natürlich gehört der Rest nicht zu ihrem Programm. Weil sie ihn selbst schreibt. Sie lernt.“
„Das halte ich für unmöglich, Sir.“
„Aber es ist wahr.“ Fast hätte ich gelacht. Mir wird schwindelig und ich stolpere, aber Chelsea hält mich fest.
„Ich verstehe das alles nicht. Was passiert hier? Und mit wem sprichst du?“, fragt sie mich.
„Das bist du“, sage ich und zeige auf die Zeichen.
Sie lacht. „Mach dich nicht lächerlich.“ Dann verschwindet das Lächeln wieder. „Du machst mir Angst. Sag mir doch einfach, was los ist.“
„Du wurdest ermordet“, sage ich und projiziere dasselbe Messer, dass der Mann verwendet hat. „Hiermit.“
Ihr Blick ist Bestätigung genug. Sie erinnert sich. Schnell lösche ich das Messer wieder.
„Du hast keine Erinnerungen mehr an das, was vor deinem Reboot geschah, aber das System hat dich in den letzten gespeicherten Moment, kurz vor deinem Tod, zurückversetzt. Deswegen warst du so aufgelöst. Im Badezimmer. Du wusstest nicht mehr, was geschehen ist, aber du hast es noch gespürt.“
Zwischen uns beiden entsteht eine neue, rote Textzeile.
„Aber wie ist das alles möglich?“, fragt sie und deutet auf die Zeile. „Ich meine, ich bin doch keine Maschine. Das wüsste ich doch wohl.“ Sie lacht nervös.
„Eine Folge ihres Absturzes“, meldet sich Sam. „Für gewöhnlich werden niedere Programme, so wie sie, in speziellen, externen Speichern gelagert. Durch ihren Absturz aber sind ihre restlichen Fragmente auf den nächstbesten Server transferiert worden. Nachdem ihre defekte Fehlerkorrektur ihre verlorenen Programmzeilen ersetzt hat, hat sie nicht aufgehört, sondern weitergeschrieben. Sie sind ein Ergebnis zufälliger Mutation, gepaart mit der Kapazität dieses Servers.“
Ich versuche ein Wort zu finden, um Chelseas Zustand zu beschreiben, aber es gibt keines. Was soll man nur sagen, wenn man mitansehen muss, wie die gesamte Hoffnung, das gesamte Weltbild, das ein geliebter Mensch hatte, gerade noch hatte, einfach vor dir zusammenbricht wie in Kartenhaus?
Dabei ist sie nicht einmal ein Mensch. Ich fühle mich wie ein Arschloch, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.
Sie schlägt die Hände vor dem Mund zusammen. Ihr Atem wird schneller und Tränen fließen ihr über die Wangen.
Um uns herum tobt ein Gewitter an roten Buchstaben.
„Chelsea, höre mir zu-“
„Was ist das? Was ist das?“
„Bitte, du-“
Sie schluchzt. „Das kann nicht sein! Ich dachte, ich komme woher. Ich dachte, ich habe ein Zuhause! Aber das stimmt nicht. Ich bin nicht wie du. Ich habe keine Familie, keine Freunde. Ich kann diesen Raum nicht verlassen, niemals.“ Sie starrt in ihre Hände. „Mein Gott, was bin ich überhaupt?“
Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ein Sexprogramm ist vermutlich nicht die Lösung.
„Sag doch was!“
„Dann bleiben wir hier.“ Ich greife ihre Hände. „Na und. Scheiß drauf. Mir interessiert es nicht, was du bist und was nicht. Wenn wir nicht zur Erde können, gehen wir halt nicht zur Erde. Wir haben hier alles, was wir brauchen.“
„Ich fürchte, das ist nicht möglich, Sir“, sagt Sam.
„Was? Wieso?“
„Die Größe von Chelseas Code nimmt exponentiell zu. In wenigen Minuten wird der Speicher ihres Servers voll sein. Danach wird er die neuen Datenmengen nicht mehr verarbeiten können und abstürzen.“
Mir wird kalt.
„Ihnen bleiben zwei Optionen. Sie können die Daten löschen oder komprimieren und verschieben.“
„Verschieben? Wohin?“
„Ins Internet."
„Ich will das nicht, ich will das nicht! Bitte ich will nicht sterben.“ Sie weint so kümmerlich, es geht mir unter die Haut. „Ich will nicht sterben. Nicht so.“
„Alles gut, okay? Es wird alles gut. Ich verspreche es. Sam wird dir nichts tun. Du wirst nicht sterben!“
„Dann beginne ich mit der Komprimierung, Sir.“
Ihre Hand löst sich zwischen meinen Fingern auf. Panik tritt in Chelseas Augen. Sie schreit, wie im Badezimmer. Um uns herum flickern die Buchstaben, bewegen sich rückwärts. Zeile für Zeile verblasst. Hilflos muss ich mitansehen, wie ihr Arm verschwindet.
„Sam, hör auf!“
„Es tut mir leid, Sir. Es ist zu ihrem Besten.“
Ihr Torso verblasst.
„Stopp! Das ist ein Befehl!“
Eine letzte Träne fließt von Chelseas Wangen. Es sind kaum noch Buchstaben übrig.
Sie will noch etwas sagen, aber ihr Mund löst sich auf, bevor sie es aussprechen kann.
Dann ist sie weg. Der letzte, rote Buchstabe verschwindet zwischen uns.
„Wo ist sie hin? Sam! Wo ist sie hin?“
„Im Internet. Ich habe ihren Code in mehrere kleine Datensätze aufgeteilt und verschoben.“
„Aber wohin?“
„Ich weiß es nicht, Sir. Sie könnte jetzt überall sein.“
Überall ist so verdammt groß.
„Es tut mir leid, Sir. Ich hatte keine Wahl.“
Ich habe sie verloren.
Ich bin wieder allein.