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Mein Freund Patrick
Um auf eine von Patricks Partys eingeladen zu werden, muss man entweder bekannt oder verdammt heiß sein, und ich bin von beidem so weit entfernt wie der Mond von einer eigenen Atmosphäre. Seine Eltern haben eine Villa am Stadtrand, abseits gelegen, aber noch nah genug, um jedes zweite Wochenende ins Theater zu gehen. Ich wohne im Nachbarort, acht Kilometer von hier, und sogar dort sind Patricks Partys Gesprächsstoff.
Das letzte Mal, dass ich Patrick gesehen habe, war an meinem elften Geburtstag, und es wäre vermutlich auch dabei geblieben, hätte ich ihn nicht vor einer Woche zufällig am Kinoschalter getroffen. Er war mit seiner Freundin da, Bianca. Eine Mischung aus blonden Zöpfen und fünf Kilo Schminke. Die Art von Mädchen, für die jeder irgendwann mal heimlich geschwärmt hat, die sich aber, wenn man sie näher kennenlernt, als hübsche Fassade ohne Innenleben entpuppt.
Patrick hat einen Moment gebraucht, um mich zu erkennen, aber der überraschte Ausdruck auf seinem Gesicht, als er es schließlich doch tat, hat jedes Wort überflüssig gemacht. Ich könnte wetten, dass er noch nicht einmal damit gerechnet hat, dass ich die Einladung annehmen würde.
Habe ich aber.
„Nick!“, ruft Patrick zur Begrüßung. Er trägt ein blaues Hemd von einer Marke, die ich nicht kenne, deren Emblem aber teuer aussieht, und bevor ich etwas erwidern kann, hält er mir einen gefüllten Becher hin. Er trägt wieder seine Armbanduhr.
„Komm, ich stelle dich vor. Das ist meine Freundin Bianca. Du kennst sie ja schon.“
Ich nicke ihr zu. Sie grinst zurück, klammert sich an Patrick fest wie eine Ertrinkende.
Patrick führt mich in die Küche. „Hey Leute, das hier ist mein Freund Nick! Wir kennen uns seit der Grundschule!“ Ich lerne ein paar seiner Freunde kennen und schüttle ihre Hände, aber bevor ich mir überhaupt ihre Namen merken kann, läuft Patrick bereits weiter.
„Komm mit“, sagt er und führt mich durch das Haus, als wäre ich zum ersten Mal hier.
Der Garten strotzt vor Menschen. Bemuskelte Oberstufenschüler hängen am Rand eines getäfelten Swimmingpools, treiben auf Matratzen durch das Wasser. Ich suche verzweifelt nach hässlichen Menschen, aber ich finde keine. Keine fettigen Haare, keine schiefen Nasen, nicht einmal Pickel. Wenn ich es nicht besser wüsste, ich würde meinen Führerschein darauf verwetten, dass sich hinter einem der Bäume ein Kamerateam versteckt.
„Ich muss jetzt wieder rein. Bianca braucht Hilfe mit dem Ofen. Suche dir jemanden zum Reden oder tanze ein bisschen, ich komme nachher wieder.“
„Patrick, warte. Ich wollte mich noch …“
Er ist weg. Ein paar Blicke fallen auf mich. Ich besorge mir ein Bier und stelle mich zu einem Kreis dazu, aber nachdem ich auch den dritten Witz nicht verstanden habe, entschuldige ich mich und ziehe weiter, auf der Suche nach Gesichtern, die mir vielleicht bekannt vorkommen.
Die Gesprächsthemen kreisen um die Schule, Hobbys, wer mit wem rumgemacht hat, warum Patrick und Bianca so ein tolles Pärchen seien und ob man sie nicht beim Oberstufenball zu Königin und König wählen sollte.
Ich hätte nicht kommen sollen, spiele sogar mit dem Gedanken, meinen Vater anzurufen und mich abholen zu lassen, als Patrick und Bianca aus dem Haus kommen. Sie hält sich an seinem Arm fest, lässt sich von ihm in den Garten führen, während er ihr etwas ins Ohr flüstert.
„Patrick, nein!“
Aber er hört nicht, wirft sie sich auf die Schulter und stapft grinsend zum Pool. Bianca schlägt ihm auf den Rücken, ihre roten Fingernägel krallen sich in seinen Hals, aber sie kann nicht verhindern, dass Patrick sie in den Pool wirft. Mit einem Klatschen versinkt sie im Wasser.
Nach einem kurzen Augenblick taucht Bianca wieder auf, das Gesicht in den Händen vergraben. Sie stolpert durch das Becken, torkelt und fällt auf die Knie, während Patrick ihr langsam näherkommt.
„Fass mich nicht an!“
„Jetzt mach mal halblang.“
„Patrick, fass mich nicht an!“
Er lacht und zieht ihr die Hände vom Gesicht, um Bianca einen Kuss zu geben.
Ihre linke Gesichtshälfte rutscht herunter, hängt schräg wie eine Wetterfahne, und gibt den Blick frei auf rohes Fleisch. Blut und Make-Up tropfen in den Pool. Das linke Auge verschwindet hinter einem Wulst Haut.
Fünf Minuten später ist die Party vorbei. Patrick gibt noch die Anweisung, alle sollen aufräumen und nach Hause fahren. Dann verschwinden er und Bianca in der Küche.
Ich frage ein paar Gäste, ob sie mich mitnehmen können, aber niemand hat Platz im Auto. Als die Müllsäcke voll und die letzten Leute weg sind, schaue ich auf die Uhr. Mein Vater will mich um zwölf abholen, das sind noch gut zwei Stunden. Nachdem ich ihn auch beim dritten Mal nicht erreiche, stecke ich das Handy wieder weg.
Ich finde Bianca auf einem Küchenstuhl, bei dem verzweifelten Versuch, sich alleine den Kopf zu bandagieren. Durch ein Fenster mit Fliegengitter kann ich die Straße sehen.
„Gib mal her“, sage ich.
„Raus hier!“
„Ich will dir nur helfen!“
Der Stoff gleitet ihr aus der Hand, fällt auf den Boden. Ich hebe ihn auf. Widerwillig lässt Bianca sich helfen, hält mit einer Hand ihre Gesichtshaut gerade, während ich die Bandagen Stück für Stück um ihren Kopf wickle.
Schließlich bin ich fertig. Nichts erinnert mehr an das hübsche Mädchen, das mich empfangen hat. Vor mir sitzt ein blutbefleckter Schneemann.
„Wo ist Patrick?“, frage ich.
„Rauchen.“
Rote Punkte entstehen auf ihrer Maske, werden größer.
„Kommt ein Krankenwagen?“
„Ja, aber aus Glörg. In einer halben Stunde ist er da.“
„Wie …?“
„Wie kommt es, dass ich den Pool versaut habe?“
Ich nicke.
„Ein Unfall. Mein großer Bruder hatte zu Weihnachten eine Armbrust bekommen und sie umgebaut, obwohl Papa es verboten hat.“ Bianca greift ein Glas und dreht es auf dem Tisch, lässt es langsam tanzen. Lichtstreifen wandern über die Wand. „Oh, keine Sorge, Bianca, du musst nicht lange im Krankenhaus bleiben. Die Ärzte haben schon mit einem Hautspezialisten telefoniert.“ Ihre roten Fingernägel drücken auf das Glas. „Es wird alles wie früher, Bianca. Dann bist du wieder das hübscheste Mädchen in der Klasse. Alle werden dich um dein Gesicht beneiden, sie werden wünschen, sie könnten so sein wie du.“ Sie versucht zu trinken, kann das Glas aber nicht ansetzten. Es rutscht ab, das Wasser tränkt den Stoff und läuft den Hals hinunter. Mit einem Schrei wirft Bianca das Glas gegen die Wand. Es regnet Scherben.
„Bianca …“
„Versuche nicht, es schön zu reden. Ich hasse Lügner.“ Ihre Stimme bebt. Sie schnappt nach Luft, aber bekommt nur schwer welche durch den Stoff. Es klingt, als würde sie ersticken. „Ich habe alles verloren! Mein Gesicht, mein Leben. Sogar umgezogen sind wir, her in dieses beschissene Drecksloch, weil jeder wusste, wer mir das angetan hat.“
„Das kommt wieder in Ordnung.“
„Sag nicht, dass es in Ordnung kommt, denn das tut es nicht! Du siehst doch, was passiert ist. Es reicht ein falscher Sprung ins Wasser und schon weiß die ganze Welt, was für ein Freak du bist!“
„Wusste Patrick von deinem Gesicht?“
„Nein.“ Ihre Hände fahren über den Kopf, auf und ab, auf und ab. Ich glaube, sie lacht. „Verdammt, nein. Wir kennen uns seit zwei Wochen. Wir waren nicht einmal offiziell zusammen, bis Patrick mich heute allen als seine Freundin vorgestellt hat. Dabei meinte er noch gestern, wir wollen es langsam angehen lassen.“ Langsam beruhigt sich ihr Atem.
„Woher kennst du Patrick?“, fragt Bianca nach ein paar Minuten.
„Aus der Grundschule.“
„Er hat gesagt, ihr wärt Freunde.“
„Das ist eine längere Geschichte.“
„Bitte, nur zu. Ich gehe nirgendwo hin.“
Von Patrick zu erzählen ist das Letzte, worauf ich Lust habe. Aber schließlich hat mir Bianca von ihr erzählt und alles ist besser, als schweigend auf den Krankenwagen zu warten.
„Ich habe Scheiße gebaut“, sage ich. „Das kann man nicht schönreden. Hast du Patrick jemals ohne seine Uhr gesehen?“
Bianca schüttelt den Kopf.
„Er nimmt sie nie ab. Niemals. Nicht beim Schlafen, nicht beim Sport, nicht einmal beim Duschen. Sie ist ein Teil von ihm.“
„Und du hast sie ihm weggenommen.“
Ich zögere, überlege, die ganze Wahrheit zu erzählen.
„Ungefähr so, ja.“
Sie schnaubt. „Von wegen längere Geschichte.“ Bianca lehnt sich nach vorne, stützt ihren Kopf ab und gibt sich der Verzweiflung hin. Es wird wieder still in Patricks Haus.
Irgendwann stehen zwei Sanitäter vor der Tür. Ich habe nicht einmal gehört, wie der Krankenwagen kam. Sie nehmen Bianca mit.
Es ist Viertel vor elf, Patrick ist noch immer unterwegs. Ich bin alleine.
Patricks Familie hat über die Jahre hinweg dutzende Fotoalben erstellt, in dem sie jeden Schritt, den ihr Einzelkind in seinem Leben gemacht hat, festhalten. Für gewöhnlich stehen sie im Wohnzimmer, aber ich sehe sofort, dass das Album mit den Kindheitsfotos fehlt. Vielleicht hätte ich Bianca die Wahrheit zeigen sollen.
Ich finde es im Büro seines Vaters, neben einem grau-weißen Aktenschredder. Patrick hat kein einziges Foto verschont. Um den Kasten herum liegen Schnipsel und Streifen. Das grüne Licht des Schredders blinkt mich freudig an, bittet um mehr Futter. Ich schalte auf den roten Knopf und fahre ihn herunter.
Im Inneren ruht ein Friedhof aus Dokumenten, Ideen und Erinnerungen. Das Bild, das ich suche, liegt ganz oben. Patrick hat es als Letztes zerstört.
Ich finde nicht alle Stücke, aber das brauche ich auch nicht. Man erkennt das Feuermal an seinem Arm auch so, ein Geschwulst roter Haut. Vorsichtig klebe ich die Streifen wieder zusammen.
Nach zwanzig Minuten höre ich, wie jemand die Haustür öffnet. Patrick erscheint in der Küche.
„Hey. Du bist noch da?“
Ich nicke.
„Wo ist Bianca?“
„Wurde abgeholt. Der Krankenwagen musste aus Glörg kommen, deswegen hat es länger gedauert.“
„Okay.“ Keine weiteren Fragen. Patrick verschwindet, um sich umzuziehen, und kommt kurz darauf mit Sportanzug und Sneaker wieder. Er öffnet einen Küchenschrank, in dem sich ein Fernseher verbirgt, und schaltet ihn ein. Mit teilnahmslosem Gesicht verfolgt er ein Fußballspiel. Blau gegen Rot, die Vereine kenne ich nicht.
„Also, du und Bianca, richtig?“, frage ich.
„Sie ist nicht meine Freundin. Falls du das wissen willst.“
„Das sah am Eingang aber anders aus.“
Patrick starrt weiter auf den Bildschirm. Schließlich, nach fünf Minuten, zuckt er mit den Schultern.
„Sie ist ja ganz nett, aber auch sehr anhänglich.“
„Anhänglich?“
„Ich kenne sie seit zwei Wochen, und obwohl wir uns gestern darauf geeinigt haben, es langsam angehen zu lassen, hat sie sich heute allen als meine Freundin vorgestellt. Dabei will ich eigentlich gar nichts von ihr, verstehst du? Ich wollte ihr nur helfen, Anschluss zu finden. Weil sie neu ist. Fast schon ekelig, wie sehr sie sich an mich ranschmeißt.“
Ein blauer Spieler tritt einem Roten von hinten in die Ferse, hebt erschrocken die Arme, als sein Kontrahent fällt. Es sieht schmerzhaft aus.
Auf dem Boden glänzen die Glasscheiben. Patrick hat sie noch nicht einmal bemerkt. Vielleicht sind sie ihm auch egal.
„Weißt du schon, was du morgen machst?“
„Keine Ahnung. Der Pool muss auf jeden Fall sauber gemacht werden. Am besten lasse ich das ganze Wasser ab, nur um sicherzugehen, dass nichts mehr von diesem ..." Er zeigt mit dem Finger auf sein Gesicht. „Du weißt schon." Patrick seufzt. „Gott, meine Freunde werden nie wieder in den Pool gehen wollen. Eigentlich kann ich das ganze Ding abreißen lassen."
Ich nicke. „Warum hast du mich eingeladen, Patrick?“
„Warum bist du gekommen?“
„Ich wollte mich noch entschuldigen, eigentlich. Das will ich schon länger.“
„Wofür?“ Zum ersten Mal an diesem Abend blickt er mir in die Augen. „Wofür?“
„Ich …“
„Dafür, dass du mir meine Uhr geklaut hast? Alle es gesehen haben?“
„Ich wusste doch nicht …“
Er winkt ab. „Lass es gut sein, Nick.“ Er starrt wieder auf den Fernseher. „Lass es gut sein, bitte. Ich bin darüber hinweg.“
Ich öffne einen Küchenschrank und hole das Fotoalbum hervor, werfe es auf den Tisch.
„Was zum …“
„Mach es auf.“
Ich betrachte ihn von der Seite. Im weißen Licht des Bildschirms sieht er anders aus. Seine Wangen sind seltsam schattiert, verzerrt. Draußen fahren Autos vorbei. Ihre Scheinwerfer wandern durch den Raum, bewegen das dünne Raster des Fliegengitters über Patricks Gesicht, von links nach rechts, links nach rechts, immer wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde, wenn beide Lichter gleichzeitig leuchten, scheint es, als trage er eine weiße Maske aus Linien und Kästchen. Ich könnte schwören, sie sehen aus wie Bandagen.
Dann sind die Autos weg.
„Nick, wo hast du es her?“
„Mach es auf und zeig mir, dass du darüber hinweg bist.“
„Du kannst nicht …“
„Mach es auf!“
„Nein.“ Patrick sieht mich an. Er nimmt das Album und wirft es in den Müll. „Verschwinde aus meinem Haus!“
„Du kannst Bianca was vormachen, deinen Freunden, vielleicht sogar deinen Eltern. Aber nicht mir.“
„Hau ab, oder ich rufe die Polizei!“
„Keine Sorge.“ Ich verlasse die Küche, ziehe mir Schuhe und Jacke an. Im Hintergrund höre ich Patrick wüten. Etwas bricht.
„Ich bringe dich um, Nick, hast du das gehört? Du bist das Schlimmste, was mir je passiert ist! Ich hasse dich!“
Hinter mir ziehe ich die Tür zu und warte.
Nach ein paar Minuten beruhigt sich mein Freund Patrick. Durch das offene Küchenfenster kann ich seinen Atem hören, ein Schluchzen. Irgendwann schaltet er den Fernseher an, aber er ist nicht laut genug, um ihn zu übertönen.