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Mein Engel
Das Telefon klingelte. Mürrisch stand ich vom Sofa auf und nahm den Hörer ab.
„Ja? Hallo?“
Mein Vater meldete sich zu Wort.
„Hallo, Schatz.“
Hallo Schatz?? Dem geht’s wohl nicht gut, seit wann nennt er mich Schatz?
„Wie geht’s dir denn?“
Ich setzte ein gezwungenes Lächeln auf.
„Gut und dir?“
Zu mehr war ich nicht im Stande. Warum musste er ausgerechnet an dem Tag anrufen, an dem er Mama verlassen hatte und sie deshalb gestorben war?
„Auch gut. Hör mal, ich wollte fragen ob du in den Sommerferien schon was vorhast. Du kommst doch dann zu uns nach Amerika, ja?“
Genau das hasste ich so an ihm. Er stellte mir eine Frage, wartete die Antwort aber nicht ab, sondern sagte mir dann, was er schon beschlossen hatte.
Schon allein aus diesem Grund gab ich ihm keine sehr begeistert klingende Antwort. „Nein, ich komme nicht.“
Um die Schärfe aus den Worten zu nehmen fügte ich noch eine Notlüge hinzu.
„Ähm, ich bin .... ich bin da auf einer Freizeit … für … Ach egal, auf einer Freizeit eben!“
Puh, ich konnte noch nie gut lügen.
„Das ist aber schade, aber du kommst uns doch mal besuchen, oder?“
War ja klar, dass ihm die Notlüge nicht einmal auffiel. Oberflächlich wie er war, wäre das wohl zu viel verlangt gewesen. Und ehrlich gesagt hatte ich auch gar keine Lust mehr auf das ewige Rumgeheuchle.
Dementsprechend gelangweilt viel daher meine Antwort aus.
„Klar, können wir mal schauen. Ich melde mich dann irgendwann mal wieder. Ich muss jetzt zu einer Freundin, ein Referat vorbereiten, okay? Wir hören voneinander. Tschüss!“
Er konnte gerade noch ein Auf Wiedersehen antworten, da hatte ich schon aufgelegt.
In Wahrheit musste ich weder zu einer Freundin, noch hatten wir ein Referat vorzubereiten. Erstens konnte ich schwer zu einer Freundin gehen, denn seit dem Tod meiner Mutter habe ich es glänzend verstanden, den Kontakt zu anderen Menschen zu meiden und zweitens würde ich, selbst wenn wir ein Referat vorzubereiten hätten, nie auf die Idee kommen dies auch wirklich zu tun.
Seufzend lies ich mich zurück auf das Sofa fallen und starrte hinaus in den Regen.
Ich vermisste meine Mutter. Sehr. Und wenn ich ganz ehrlich war, vermisste ich auch meinen Vater. Und wenn ich noch mehr darüber nachdachte, vermisste ich meine Freunde. Ja, die vermisste ich wohl am Meisten. Es war ja nicht immer so gewesen, dass ich keinen Kontakt nach außen hatte. Im Gegenteil. Früher war ich ein sehr aufgeschlossenes und kontaktfreudiges Kind. Aber wie gesagt, erst die Trennungsabsichten meines Vaters und dann der plötzliche Tod meiner Mutter war einfach zu viel für mich. Ich legte den Kopf zurück und schloss die Augen.
„Hallo, Julia! Wach auf. Du machst dir sonst noch deinen Rücken kaputt!“
Grummelnd öffnete ich die Augen. Meine Oma stand vor mir und schaute mich liebevoll an.
Ein Blick aus dem Fenster reichte, um zu erkennen, dass es schon ziemlich spät geworden war. Stöhnend richtete ich mich auf.
„Oh man, mein Rücken tut echt höllisch weh! Warst du bis gerade einkaufen?“
Meine Oma nickte.
„Ich habe mich noch nett mit unserem neuen Nachbarn unterhalten. Ein Goldstück sage ich dir! Wenn ich noch mal 20 wäre … “
Grinsend zog sie mich vom Sofa hoch. Sie wusste, dass ich nicht über Mamas Tod reden wollte und ich war ihr sehr dankbar dafür, dass sie das akzeptierte. Wir aßen noch schnell zu Abend, dann verabschiedete ich mich und legte mich schlafen.
Der nächste Morgen fing mit einer absoluten Katastrophe an: Mein Wecker klingelte zwar, aber ich war so dumm auf den Aus-Knopf zu drücken anstatt auf den Schlummer-Knopf. Und als meine Oma mich schließlich wach rüttelte, hatte ich noch genau 10 Minuten, um mich zu richten und in die Schule zu laufen. Mein Glück war, dass diese nicht allzu weit von unserem Haus entfernt war.
Meine Haare waren eine einzige Katastrophe und auch sonst sah ich noch sehr verschlafen und unkoordiniert aus.
Ich rannte durch das Bad, riss meine Jacke vom Haken und vermied so gut es ging den Blick in den Spiegel.
„Ich bin dann mal weg, Oma! Bis später! Hab dich lieb!“
Und schon war ich zur Tür hinausgeeilt, schüttelte meine Jacke zu Recht und versuchte meine Haare in irgendeine Ordnung zu bringen; natürlich vergeblich.
Ach egal, die Anderen beachten mich doch eh seit Monaten nicht mehr. Wenn kümmert es also.
Genau mit dem Klingeln huschte ich durch die Tür und auf meinen Platz. Als Einzige in meiner Klasse saß ich allein; was ja nicht ganz verwunderlich ist, wenn man keine Freunde hat.
Kaum saß ich auf meinem Platz öffnete sich auch schon die Zimmertür und unser Klassenlehrer kam herein. Hinter ihm lief ein verdammt gut aussehender Junge. Und so wählerisch wie ich war, musste das echt was heißen. Man konnte förmlich hören, wie der weibliche Teil der Klasse unterdrückt seufzte.
Na toll; ausgerechnet heute sah ich wie ein wandelnder Strohhaufen aus. Klasse. Das war typisch ich.
„So, guten Morgen! Da hier ist euer neuer Schüler Christian Lorenz. Er wird ab heute in eure Klasse gehen und ich bitte euch ihn ein bisschen zu unterstützen. Vielleicht erklärt sich jemand bereit ihn im Schulgebäude herumzuführen?“
Nach Sophies Blick zu urteilen war klar, dass sie nicht nur dazu durchaus bereit war, sondern wohl auch noch zu einem kleinen kostenlosen Extraservice.
Ich schüttelte nur den Kopf und schaute aus dem Fenster. Sie hatte doch einen Freund; reichte ihr das nicht?
„So, willst du nicht noch etwas von dir erzählen?“
Christian rieb sich verlegen den Kopf und warf einen verschmitzten Blick in die Klasse.
Verdammt sieht er gut aus!
Mein Blick blieb an ihm hängen wie eine Fliege auf Klebeband.
Dunkelblonde, schon fast braune Haare, etwas länger aber nicht zu lang. Ein perfekt geschnittenes Gesicht, von dem sich selbst Brad Pitt eine Scheibe abschneiden könnte.
Und seine Augen! So eine Leuchtkraft hatte ich noch nie gesehen! Eine Mischung zwischen Ozean-Blau und Smaragd-Grün. Unglaublich.
„Ähm, ja. Also ich heiße Christian ... Aber das wisst ihr ja schon ...“
Wow.
Sein Lächeln war umwerfend. Dass so etwas von unserer Erde sein konnte wollte sich mir nicht begreifbar machen.
Von Sophie kam ihr typisch falsches Lachen. Sie schaute ihn kokett an. Ihr Augenaufschlag war hollywoodreif. Doch Christian lächelte ihr nur zu. Was heißt nur; von so etwas konnte ich nur träumen.
„Was gibt es noch groß zu sagen, ich bin erst vor kurzem hier in die Gegend gezogen und ja ... Ich mache viel Sport und ich spiele Klavier.“
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und blickte Herrn Zimmermann fragend an.
„Nun gut, das sollte für den Anfang reichen. Ihr werdet ja sicher im Laufe der Zeit noch mehr über ihn erfahren. Bitte, setze dich … “
Auf der Suche nach einem freien Platz ließ er den Blick durch den Raum schweifen.
Nein – bitte nicht! Nicht neben mich! Nicht heute, wo ich wie eine gerupfte Vogelscheuche aussah! Nein, bitte sag nicht meinen Namen. Bitte, bitte!
Ich kniff panisch die Augen zusammen und machte mich so klein es ging.
„Setz dich einfach neben Julia. Da ist noch ein Platz frei ... Ihr kommt sicher gut miteinander aus.“
Sophie warf mir einen abschätzigen Blick zu und fing sofort an mit ihrem Nebensitzer zu tuscheln. Natürlich in einer Lautstärke, in der es auch der letzte Volldepp, also kurz gesagt: Ich, es mitbekommen musste.
„Oh mein Gott, neben der hält es doch keiner aus. Der Neue tut mir jetzt schon Leid. In der Pause nehmen wir ihn besser gleich in unsere Mitte auf.“
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte einfach wegzuhören. Ich muss sagen, mit der Zeit bekommt man darin echt Übung.
Es half alles nichts, der Neue musste sich wohl oder übel neben mich setzen. Ob er wollte oder nicht.
Ich schob meine Sachen beiseite um ihm Platz zu machen. Ich vermied es ihn anzusehen und schaffte es mit knapper Müh und Not ein unbegeistertes „Hey“ hervorzubringen.
Sophie fing natürlich sofort an, sich an den Neuen ranzumachen. „Oh Mann. Du hast echt Pech. Seit ihre Mutter gestorben ist, ist sie echt nicht auszuhalten. Wenn ich du wäre, dann würde ich mir ganz schnell einen anderen Platz suchen.“
Ich verdrehte die Augen. Es wäre weniger auffällig, wenn sie sich einfach direkt auf seinen Schoß setzen würde anstatt ihn so selten dämlich von der Seite anzumachen.
Ich erwartete, dass er mich auslachen würde und sich von mir wegdrehen würde, wie alle andern es sonst auch taten. Deshalb war ich umso erstaunter, als er ihr etwas vollkommen anderes zur Antwort gab.
„Wenn du ich wärst, dann wäre dein IQ doppelt so hoch und du wüsstest wie es ist die Eltern zu verlieren. Da du keins von beidem besitzt, kannst du deine Ratschläge an jemand anderen weitergeben.“
Schockiert riss ich die Augen auf und drehte langsam den Kopf zu ihm herum. Dabei viel mein Blick kurz auf Sophie, die nicht minder schockiert aussah. Doch ich warf ihr nur einen sehr kurzen Blick zu, denn Christian starrte mich direkt an. Mit einem unverschämt gut aussehenden Lächeln. Mein Mund stand leicht offen und ich hatte die Augen immer noch aufgerissen. Ich musste erst ein paar Mal tief durchatmen, bevor ich wieder klar denken konnte.
„Ich … Ehm. Das war gerade ja sehr nett von dir, aber ich komm schon klar. Echt … Ehm … Ich … Ich brauche keine Hilfe, danke. Passt schon …“
Verdammt, mit hatte es echt die Sprache verschlagen.
Was redete ich da nur für dummes Zeug?! Jetzt gab es mal einen der sich für mich aussprach und nicht über mich lachte und was machte ich? Beschuldigte ihn und laberte ihn mit irgendwelchem gestotterten Schrott zu?!
Doch er schaute mir nur in die Augen, ohne dass sein Lächeln auch nur eine Spur nachließ. „Das glaube ich dir nicht. Außerdem … Wer sagt denn, dass ich das nur wegen dir getan habe?“
Sprachlos blickte ich ihn an. Was wollte er mir denn damit sagen?
„Ehm, ich glaube ich verstehe nicht ganz …“
„Nun ja, du bist nicht die Einzige, die ohne Eltern aufgewachsen ist.“
Kurz war sein Lächeln verschwunden, allerdings nur, um gleich im nächsten Moment wieder aufzutauchen.
Ich senkte den Kopf.
„Das tut mir sehr leid.“
Er schüttelte den Kopf und lächelte mir aufmunternd zu.
„Du weißt doch, das braucht es nicht. Und wenn ich ehrlich bin … Habe ich das doch hauptsächlich deinetwegen gesagt.“
Hatte er das gerade wirklich gesagt? Das kam ja fast so rüber, als… Ja, fast so, als würde er mich mögen.
Ich konnte es kaum glauben und anscheinend stand mir das ins Gesicht geschrieben. Denn er blickte mich mit fragendem Blick an.
„Ist was?“
Schon wieder dieses unwiderstehliche Lächeln. Sophie schaute ihn immer noch entsetzt an. Ihr dummer Gesichtsausdruck ließ ein Lächeln auf meinem Gesicht erscheinen. Ein Lächeln! Mann, war das ein tolles Gefühl! Ein echtes Lächeln.
Wie gut das tat. Und wie lange es her war, dass ich so gelächelt hatte.
Einen Moment war ich – ja, einen Moment war ich einfach nur glücklich.
„Ach, er wird schon zu Vernunft kommen. Hast du grad die Grimmasse gesehen, die die dumme Gans geschnitten hat? Sollte das vielleicht ein Lächeln sein? Er wird schon bald merken, dass sie eine totale Langweilerin ist ... Vielleicht nehmen wir ihn dann doch noch auf ... Mal sehen …“
Tja, das war’s dann schon wieder mit meinem Glück. Sophie hatte in dieser Klasse einfach das Sagen und wenn ich nicht wollte, dass Chris bald genauso dastand wie ich, dann machte ich besser den Mund auf, bevor es zu spät für ihn war.
Langsam drehte ich mich zu Christian um.
„Ähm … Christian, ich ... “
„Chris, okay? Einfach nur Chris.“
„Okay, Chris. Also, ich glaub das ist keine gute Idee. Jetzt hast du noch die Chance mit den richtigen Leuten abzuhängen, ohne dass sie dich auslachen und so was. Wenn du morgen immer noch mit mir sprichst, dann werden sie dich nicht mehr aufnehmen und … Und das will ich nicht.“
Langsam ließ ich die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen. So; jetzt war es raus. Ich fühlte mich beschissen und mein Herz sagte mir, dass es komplett falsch war, was ich da gerade tat. Mein Verstand hingegen sagte, dass es für ihn und für mich wohl das Beste war, wenn es von Anfang an kein Missverständnis gab. Ich holte gerade Luft, um noch ein paar Argumente zu bringen, da schüttelte er nur leicht mit dem Kopf und ich verstummte. Verschämt senkte ich meinen Kopf; mir fiel wieder ein wie ich heute aussah. Er musste mich echt für ein ungepflegtes und minderwertiges, ohne jedes Selbstbewusstsein bestücktes Wesen halten. Sanft hob er mit seiner Hand mein Kinn an und zwang mich so ihn anzusehen.
„Julia.“
Mit einem weiteren Kopfschütteln schaute er mir in die Augen.
„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen und ich kann mir durchaus selbst meine Freunde aussuchen. Ich denke mal ich hab meine Seite gezeigt.“
Ich schaute ihn einfach nur an. Es war verrückt, ich kannte ihn … Wie lange? Vielleicht 10 Minuten?! Und doch war er mir vertrauter als all meine Klassenkameraden zusammengenommen. Ich fand seine Entscheidung nicht gut, doch andererseits; es war wirklich seine Entscheidung. Warum sollte es das Schicksal nicht einmal gut mit mir meinen?
Langsam ließ er seine Hand sinken und umfasste meine im Schoß verschränkten Hände. Ich senkte meinen Blick nicht und er wandte den Blick nicht von meinen Augen ab. Da war irgendwas zwischen uns; das spürte ich deutlich. Und anscheinend war ich nicht die Einzige, der das auffiel. Als es klingelte, schreckte ich zusammen und konnte kaum glauben, dass die erste Stunde schon vorbei war. Ich löste meine Hände von Seinen und packte rasch meine Sachen zusammen. Schüchtern warf ich ihm einen Blick zu.
„Soll ... Soll ich dir den Weg zeigen?“
Lächelnd nickte er und eine wütende Sophie rauschte an mir vorbei.
„Das werdet ihr noch bereuen! Das schwöre ich euch!“
Der Schultag ging für meinen Geschmack viel zu schnell rum. Mir war nicht bewusst wie schön Schule sein konnte, wenn man jemanden hatte, mit dem man sich unterhalten konnte. Und mit Chris konnte man das. Er fragte mich alles Mögliche.
Nach meiner Lieblingsfarbe, meinem Lieblingstier, was ich gerne aß und was nicht, wie meine Oma hieß, was mit meinen Eltern war.
Es war erstaunlich: Ich hatte mit noch kaum jemandem darüber gesprochen und jetzt fragte mich ein Junge, den ich gerade mal einen Tag kannte einfach so was mit meinen Eltern war. Und das Erstaunliche war: Ich redete mit ihm darüber!
Er ließ mich reden und hörte mir einfach nur zu. Selbst als ich nicht verhindern konnte, dass mir eine Träne über die Wange lief, reichte er mir nur ein Taschentuch und sagte nichts weiter. Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl darüber zu reden. Als ich nach Hause lief, fühlte ich mich frei wie ein Vogel. Als wäre eine zentnerschwere Last von meinen Schultern genommen worden. Und da wusste ich, dass ich mich auf Chris verlassen konnte. Immer. Und ich wusste noch etwas: Ich hatte mich in ihn verliebt.
Meine Oma merkte natürlich sofort, dass etwas anders war als sonst.
„Hallo, mein Schatz. Wie war die Schule?“
„Schön. Richtig, richtig schön!“
Fragend zog sie eine Augenbraue hoch und ich erzählte ihr von meinem neuen Freund. Man konnte es doch durchaus Freund nennen, oder? Ich meine, wir haben den ganzen Tag zusammen verbracht und ich hab wahrscheinlich so viel geredet und gelacht wie im gesamten letzten Jahr nicht.
Sie schaute mich an und ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen.
„Ich sehe zum ersten Mal seit dem Tod deiner Mutter deine Augen wieder leuchten. Du siehst so sehr hübsch aus.“
Ich lächelte verlegen, aber glücklich. Wir setzten uns an den Esstisch und begannen zu essen.
„Jetzt erzähl! Wie sieht er aus, was macht er, wo kommt er her, was sind seine Hobbys? Hat er Geschwister, habt ihr euch verabredet?“
Ich lachte amüsiert. Meine Oma war wirklich keine normale Oma. Sie war meine beste Freundin.
„Nun ja, seine Eltern sind auch tot. Sie sind schon sehr früh gestorben und er hat in einem Heim gelebt, bis …“
Ich runzelte die Stirn. Ich wusste, dass er früher in einem Heim gewohnt hatte und jetzt nicht mehr. Aber was dazwischen war, hatte er übersprungen.
„Egal, jetzt lebt er auf jeden Fall hier und … Ja … Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden.“
Meine Oma blickte mich an und fing Angesichts meines strahlenden Lächelns an zu grinsen. Ich warf eine Nudel nach ihr und machte mich dann an den Abwasch.
Am nächsten Tag stand ich extra früher auf, kämmte meine Haare und schminkte mich. Nicht zu stark, eher schlicht. Ich mochte Natürlichkeit. Ich zog mir etwas Besseres an als am Tag zuvor; eine meiner Lieblingsblusen, die mir meine Mutter geschenkt hatte. Als ich in den Spiegel blickte war ich selbst überrascht.
War das wirklich ich? Die Augen strahlten ungewöhnlich intensiv, meine Wangen waren rosig und ich sah – ich sah gut aus. Auch meine Oma war begeistert.
„Du musst den Jungen ja echt mögen. Mir ist es recht.“
Auf dem Weg zur Schule pfiff ich fröhlich vor mich hin; wann hatte ich das letzte Mal solch gute Laune gehabt? Doch als ich in der Schule ankam verging meine Hochstimmung sofort. Sophie wartete schon auf mich; war aber Dank meines Outfits erst mal sprachlos. Doch dann legte sie umso mehr los.
„So, du kleine Schlampe. Willst dich wohl gleich an den Neuen ran machen? So geht das aber nicht, Fräulein. Er gehört mir, hast du das verstanden? Er macht das doch alles nur aus Mitgefühl, nach einer gewissen Zeit wird er dich links liegen lassen. Und wenn du nicht willst, dass es ihm wie dir ergeht, dann lässt du die Finger von ihm! Sonst werden wir ihn so lange bearbeiten, bis er freiwillig von einer Brücke springt!“
Mir waren die Tränen in die Augen gestiegen. Ich wusste ganz genau, dass sie ihre Worte genauso gemeint hatte, wie sie sie ausgesprochen hatte. Sie wusste nicht, wie sehr sie mich mit ihren letzten Worten getroffen hatte. Denn genau so war es mir am Anfang ergangen. Ich wollte wirklich nicht mehr leben und an das Gefühl konnte ich mich nur allzu gut erinnern. Mit einem verächtlichen Lachen und einem letzten drohenden Blick drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ mich stehen. Da hörte ich eine mir vertraute Stimme.
„Hey, Julia! Hey, hier!“
Oh nein, bitte, nicht er. Konnte er nicht krank sein?
So sehr mich seine Stimme vor ein paar Minuten noch in Glücksgefühle versetzt hätte, so sehr zog sie mich nun runter.
Doch ich wusste, dass ich es nicht ewig vor mir aufschieben konnte. Je eher ich ihm sagte, dass ich nicht mit ihm befreundet sein konnte, desto weniger Schmerzen würde ich ihm und mir bereiten. Also holte ich tief Luft und ging langsam auf ihn zu.
Die ersten Tropfen vielen vom Himmel. Mich störte das nicht besonders, es kam mir sogar sehr gelegen, denn die Schüler eilten in das Schulhaus ohne uns weiter zu beachten.
Sein Lächeln verschwand, als er die Tränen auf meinen Wangen sah.
„Hey, was ist denn passiert? Du weinst j ... “
Ich ließ ihn nicht ausreden sondern legte gleich los.
„Okay, hör zu. Ich will das nicht, aber es ist das Beste für dich. Wir können nicht befreundet sein. Sie werden dich fertig machen; unerbitterlich. Die hören nicht auf. Ich weiß das, weil sie das mit mir auch schon gemacht haben. Und das Gefühl war echt nicht schön und ich will nicht dass dir das auch alles passiert weil … Selbst wenn ich dich erst so kurz kenne, bedeutest du mir wirklich schon viel und … “
Jetzt war er es, der mich unterbrach. Sanft hatte er mein Gesicht in seine Hände genommen und senkte den Kopf. Seine Lippen berührten die Meinen zärtlich. Ich hielt die Luft an; mir war schwindelig. Geschah das gerade wirklich? Ja, es geschah wirklich.
Er zog mich zu sich heran, ich ließ es willenlos geschehen. Er löste seine Lippen nicht von meinen; er küsste mich nur stärker, aber immer noch so sanft als wäre ich eine zerbrechliche Porzellanpuppe. Langsam konnte ich klar denken und begann seinen Kuss zu erwidern. Es war unglaublich. Die Welt löste sich nicht auf, aber sie verschwamm; ich nahm nichts wahr außer dem warmen Gefühl seiner Lippen auf Meinen und nahm so viel von dem Moment auf wie ich konnte. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen und trotzdem fand ich es viel zu kurz.
Keuchend schnappte ich nach Luft und löste so unsere Lippen voneinander. Ich blickte ihm in die Augen. Was ich darin las, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Einerseits sah ich unendlich große Liebe, doch da war noch etwas anderes. Irgendetwas verschwieg er mir. Irgendetwas, das ihn bedrückte und das unheimlich wichtig war.
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich wollte ihn gerade darauf ansprechen, als er mich an der Hand nahm und zusammen mit mir ins Schulhaus rannte. Kurz vor unserem Klassenzimmer blieben wir noch einmal kurz stehen und er schaute mich an.
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich da jetzt gerne mit dir zusammen hineingehen.“
Ich strahlte immer noch und wahrscheinlich hätte ich ihm in diesem Augenblich auch den Wunsch erfüllt wie ein Hund bellend in das Zimmer zu laufen. Aber zusammen hörte sich eindeutig besser an.
Hand in Hand gingen wir hinein; alle Augenpaare richteten sich auf uns. Und mitten in der Tür küsste er mich noch einmal.
Vor aller Augen!
Ich war entsetzt, was mich allerdings nicht daran hinderte seinen Kuss zu erwidern und mich unglaublich gut zu fühlen. Ich hörte Sophie keuchen und ein paar Jungs, die Chris ganz nett fanden, fingen an zu pfeifen. In dem Moment hörten wir ein Räuspern hinter uns und Chris löste sanft seine Lippen. Wir drehten uns um und erblickten Herrn Zimmermann.
„Schön, dass du dich schon so gut eingelebt hast, Christian.“
Der lächelte nur verschmitzt und wir gingen an unseren Platzt; ich war noch etwas atemlos, doch strahlte über das ganze Gesicht.
So ging es jetzt schon seit zwei Wochen und ich hatte mich schon daran gewöhnt, dass es mir vorkam, als hätte es nie ein Leben ohne ihn gegeben.
So viel hatte sich in meinem Leben verändert. Durch ihn ging ich öfters weg, fand neue Freunde, hatte endlich wieder Spaß am Leben und an der Schule.
Und das lag alles nur an Chris. Meinem Engel Chris. Er hatte mich in einen Sportverein für Schwimmen mitgeschleppt und ich muss sagen, es gefällt mir dort. Er spielte mir häufig etwas auf dem Klavier vor, solange, bis ich selbst damit anfing.
Kurz gesagt: Er war immer fröhlich, immer gut drauf und immer für mich da.
Doch irgendwann kam der Tag, an dem etwas anders war. Ich sah in seltener als sonst, er war sehr blass und sah krank aus. Er fehlte öfters in der Schule und meldete sich manchmal tagelang nicht bei mir. Auf Nachfragen antwortete er nur ausweichend und kurz angebunden. Er verhielt sich äußerst merkwürdig.
Als er sich an einem Tag wieder nicht meldete und auch nicht in der Schule war, reichte es mir.
Ich ging in den Flur, nahm den Hörer ab und wählte seine Nummer. Genau in diesem Augenblick klingelte es an der Tür.
Na toll.
Ich war wirklich sauer. Er konnte sich doch nicht einfach tagelang nicht melden und jetzt denken alles sei wie sonst?
Ich riss die Tür auf und zog ein nicht sehr begeistertes Gesicht. Als ich ihn dann allerdings in der Tür stehen sah; schwach, bleich und mit einem Ausdruck in den Augen, der mir das Blut gefrieren ließ, zog ich ihn schnell in die Wohnung.
Irgendwas war passiert; ich sah es in seinen Augen. Seine Begrüßung war etwas zu stürmisch; sein Kuss etwas zu drängend. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte absolut nicht.
„Was ist los?“
Meine Stimme war leise und brüchig.
Er sah mir lange in die Augen, dann holte er zitternd Luft. „Ich ... Können wir in deine Zimmer?“
Überrascht nickte ich. Er redete normalerweise nicht lange um den heißen Brei herum. Was konnte nur so schlimm sein, dass er mich erst in sicherer Umgebung bringen musste, um es mir zu sagen? Wir setzten uns eng nebeneinander auf mein Bett und er nahm sanft meine Hände und legt sie auf seine Beine.
„Also, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll ... “
Er holte tief Luft. Seine Lippen zitterten. Entsetzt sah ich eine Träne in seinen Augen.
Mir stockte der Atem und Panik begann sich in mir auszubreiten.
„So schlimm?“
„Schlimmer.“
Ich schaute ihn an. Mein Herz schlug mir bis in den Hals; mir war gleichzeitig heiß und kalt. Meine Stimme war leise; leiser als ein Flüstern.
„Was ist los?“
Er blickte mich an. Seine Augen sprachen mir stumm zu. Ganz fest drückte er meine Hände und dann … Dann sprach er es aus.
„Ich habe Krebs. Endstadium; nicht mehr heilbar. Die Ärzte geben mir noch ein paar Wochen.“
Nein; das durfte nicht sein. So etwas durfte nicht geschehen.
Nein.
Das war ein schlechter Witz; versteckte Kamera oder so. Doch aus seinen Augen sprach eine solche Trauer, so etwas konnte nicht gespielt sein. Und warum sollte er auch? Wenn er Schluss machen wollte könnte er das auch einfacher haben.
Er nahm mich in den Arm. Ich war wie betäubt. Warum war mein Leben so verflucht? Was hatte ich nur schreckliches getan, dass mich Gott so bestrafte? Wie konnte er mir die Mutter nehmen, den Vater gleich mit und jetzt das?
Genau dann, wenn alles gut wurde. Wenn ich endlich wieder glücklich war?
Wie konnte er mir das antun?!
Ein paar Wochen. Sterben. Chris. Tot. Krebs. Endstadium. Ein paar Wochen. Tot. Chris, Chris, Chris, Tot.
Wirre Gedanken kreisten mir durch den Kopf, doch den Sinn konnte ich nicht begreifen.
Tot. Chris. Krebs.
Sie wollten nicht aufhören. Immer und immer wieder stammelte ich seinen Namen, bis ich anfing zu begreifen. Es war kein Traum. So sehr ich mir das auch wünschte.
Chris würde sterben.
Tot. Nicht mehr da. Kein Lachen von ihm, nie mehr seine Lippen auf meinen spüren; keine Umarmung mehr, kein Schwimmen, keine Klavierstücke.
Er würde sterben.
Und nicht mehr wieder kommen.
Gehen; für immer.
Hemmungslos fing ich an zu schluchzen.
„Nein, Chris, nein. Bitte, du darfst nicht gehen! Lass mich nicht allein; du musst bei mir bleiben! Nein!“
Ich weinte; weinte in seinen Armen. Und er weinte mit mir. Gegenseitig schenkten wir uns Trost. So saßen wir da; für eine gefühlte Unendlichkeit.
Wir hatten gerade mal einen knappen Monat zusammen gehabt. Nur einen Monat, in dem sich doch so viel verändert hatte. Ich ließ die vergangenen Wochen an mir vorüberziehen. Er war die Liebe meines Lebens gewesen, das stand fest. Ich sah ihn an und wusste: Wenn er gehen musste, dann würde ich mitgehen.
Er las in meinen Augen und schüttelte den Kopf.
„Oh nein. Julia, das wirst du nicht tun. Ich weiß das schon lange und hab nicht einen Monat mit dir gelacht und geweint, damit du jetzt alles hinschmeißt. Du musst weiterleben! Lebe dein Leben und ich werde meines nicht ganz verlieren!
Lebe weiter und ich lebe in dir! So gehe ich nie ganz verloren.“
Er schaute mich lange an.
Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Er konnte nicht gehen. Das konnte einfach nicht sein. Ich schüttelte den Kopf und legte den Kopf an seine Schulter.
Nach trostlosen Tagen hievte ich mich aus meiner Starre hoch und beschloss, die letzten verbleibenden Wochen mit ihm zu genießen. Er hatte starke Schmerzen, musste oft ins Krankenhaus; aber anmerken ließ er sich kaum etwas.
Er war so tapfer. So viel tapferer als ich es gewesen war. Viel zu schnell nahm es sein Ende.
Seine letzten Tage verbrachte Chris im Krankenhaus, an mehrere Geräte angeschlossen. Es war schrecklich ihn leiden zu sehen, doch wenn ich ihn schon nicht auf seinem letzten Weg begleiten konnte, dann wollte ich ihm wenigstens beistehen.
Ich wich nicht eine Minute von seiner Seite, die Schule war mir egal. Meine Oma kam oft vorbei, auch sie hatte Chris sehr in ihr Herz geschlossen. Wir weinten zusammen, lachten zusammen oder saßen einfach nur stumm da.
Alles was zählte war er. Er und nur er.
Und so war ich auch bei ihm als es mit ihm zu Ende ging. Ich merkte es daran, dass sein Herz langsamer wurde und er die Atemmaske ablegte. Ich sprang von meinem Stuhl auf und legte panisch eine Hand auf seine Stirn.
„Soll ich dir etwas bringen? Wasser, etwas zu essen, brauchst du einen Arzt?“
Er nahm nur sanft meine Hand fest in Seine und schaute mich an.
„Es ist vorbei.“
Ganz leise sagte er das und so sanft, als wäre ich es, die im Sterben lag, nicht er. Ich schüttelte den Kopf und konnte nicht verhindern, dass ein hemmungsloses Zittern meinen Körper befiel.
„Doch Julia. Es ist Zeit für mich zu gehen. Aber weißt du was: Liebe besteht über den Tod hinaus. Ich werde immer bei dir sein, nur dass du mich jetzt nicht mehr sehen kannst, sondern nur noch fühlen. Aber ich bin immer da. Immer. Und Julia.“
Er holte keuchend Luft. Seine Hand krampfte sich schmerzhaft zusammen und er verzog gequält das Gesicht.
„Ja?“
„Gib nicht deinem Vater die Schuld an dem Tod deiner Mutter. Wenn er stirbt und du hast dich nicht mit ihm ausgesprochen wirst du dir das nie verzeihen. Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Ich wünschte uns wäre mehr Zeit gegeben worden.
Ich liebe dich.“
Das Gerät piepste einmal, dann war es still.
Er war tot.
Ich fing hemmungslos zu schluchzen an und wich auch in den darauffolgenden Stunden nicht von seiner Seite.
Ich erinnere mich nur noch daran, dass irgendwann eine Schwester mit einem Arzt hereinkam und mich von dem Bett wegzog. Meine Oma wartete schon vor der Tür auf mich und schloss mich fest in die Arme.
Ich warf einen letzten Blick zurück und fast erschien es mir, als ob er mir zulächelte. Dann straffte ich die Schultern und verließ das Zimmer. Ich hatte noch ein wichtiges Telefonat mit meinem Vater zu erledigen.