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- 23.03.2002
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Meer-Prinzip
Der Dichter Lart Pourlart verfasste einmal im Juni am Strand liegend das folgende Gedicht:
Das Meer hat keine Prinzipien,
Es hat nur Wasser und Licht.
Mehr Licht, mehr Wasser, mehr Meer –
Und jedes Prinzip zerbricht.
In Feuchte zerfließende Sonne
Tropft auf die Sinne, verwirrt
Uns die Gedanken. Besonnen
Kann man nicht sein, wenn es wird
Sonnig, und luftig, und meerig!
Wer ohne Prinzipien blieb –
Nur mit Gefühlen - der folgte
Dem wahren Meer-Prinzip.
Was ihn zum Erschaffen dieses schicksalhaften Werkes inspirierte, war vor allem seine gedankenlos gute Laune sowie die Hitze und das plötzliche Bewusstsein dessen, dass die Wörtchen „Meer“ und „mehr“ eine wunderbare Alliteration ergeben, sich reimen und überhaupt für etliche Wortspiele und Kalauer sehr gut geeignet sind. Dies hielt er in seiner romantischen Naivität für seine eigene Entdeckung, also präsentierte er dieses Schreiben voller Stolz in einer modischen, leicht intellektuell angehauchten Poesiezeitschrift „Rimbaud III“. Da der gute Lart zu diesem Zeitpunkt schon ein gewisses Ansehen als Dichter genoss, löste sein neues Werk eine ziemlich hitzige Diskussion unter Kritikern auf, die sich sogar ins einfache Volk übertrug, das ja auch ab und zu „Gedichte lesen tut“, wie es durchaus treffend in einem Leserbrief von Mathilde Bierdeckel aus Schweinefurt an die Zeitschrift formuliert wurde. Das Gedicht wurde ein gesellschaftliches Ereignis, und sogar der anerkannt größte Philosoph dieser Zeit, Herr Pr. Dr. Plankton, äußerte seine Meinung, die darin bestand, dass es eine Idee des Meeres gibt, eine für jedes Meer obligatorische Eigenschaft, die er als „Meerheit“ bezeichnete. Der Zustand der Meerheit, so Plankton, ist im Gedichte Pourlarts sehr poetisch, jedoch richtig beschrieben und erstrebenswert für jedes, auch kein Meer seiendes, Wesen. Bald spaltete sich die Gesellschaft in Anhänger und Feinde des Meerheitsprinzip (kurz „Meer – Prinzip“, von Satirikern auch „Meerhai – Prinzip“ genannt).
Was als eine abstrakte philosophische Auseinandersetzung anfing, endete in einem fürchterlichen Blutbad. Es gab viele Tote auf beiden Seiten, am schlimmsten hatten es jedoch solche, die versuchten, die Spaltung zu ignorieren oder sich zwischen den beiden Bewegungen nicht entscheiden konnten. Die wurden nämlich von den „Meerheitern“ sowie von ihren Gegnern massenweise umgebracht. Zu dieser völlig sozial unengagierten und im Laufe des großen Meerheitskrieges fast ausgestorbenen Kategorie zählte auch Lart Pourlart, der einfach nicht einsehen wollte, dass sein Werk eine prinzipielle Bedeutung hat. Er wurde bereits in der ersten Woche der Straßenkämpfe von einem Anti-Meerheiter getötet, was die Meerheiter sehr empörte – sie wollten den prinziplosen Dichter selbst zerfleischen.
Wer sich aber freute, waren die Fische, die Algen und andere Meeresbewohner. Sie durften nämlich endlich wieder im klaren Wasser leben, da die Industrie nun stillstand und keiner sich auf die Straße traute. Und schon gar nicht an den Strand....