Max hat den Schnee gemacht
Bei Max´s Geburt starb seine Mutter und ich haßte ihn dafür. Ich hatte, seit ich von Sarahs Schwangerschaft erfuhr, mir nichts mehr gewünscht als diesen ersten Moment, ihn im Arm zu halten. Ich stellte mir vor was für ein schönes Gefühl sein würde, ihn endlich zu sehen und zu spüren.
Nun aber haßte ich das Baby weil ich ihm die Schuld gab, das Sarah hatte so sehr leiden müssen.
Ich würde gerne sagen, das es Liebe auf den ersten Blick gibt und das sie bei Sarah und mir passiert ist, aber so war es nicht. Unsere Beziehung war keinesfalls perfekt, hatte nicht perfekt begonnen und war zu früh und überraschend geendet, als das sie hätte perfekt werden können. Wir wohnten im gleichen Haus, sie im Erdgeschoß und ich in der zweiten Etage. Wir liefen uns manchmal über den Weg und irgendwann fragte ich sie, ob wir uns vielleicht mal abends treffen wollen. Sie wollte, ich wollte und ein paar Wochen später war sie schwanger. Ich verstand die Welt nicht mehr, als sie mir sagte das sie das Baby bekommen möchte.
Trotzdem begann ich unser Leben zu planen, und bezog das Baby mit ein. Nach einiger Zeit freute ich mich und als es immer länger zu dauern schien, konnte ich den Tag kaum noch abwarten.
Sarah rief mich an, als sie im Auto neben ihrer Mutter zum Krankenhaus gefahren wurde, und ich beeilte mich wie noch niemals zuvor. Und trotzdem kam ich zu spät. Sarah hatte Max auf die Welt gebracht und war gestorben.
Ich stand an der Tür des Warteraumes, in dem zwei ältere Frauen saßen und starrte durch das Fenster. Meine Gedanken waren bei Sarah, ihrem dunkel blonden Haar, ihren grünen Augen, ihrer Haut, ihren Händen...
Ich dachte nach wie ich mich von dieser Tür je wieder weg bewegen sollte, ich fühlte mich ohne jeden Antrieb und hatte auch keinen Grund mehr. Ich dachte ich könnte ewig einfach so stehen bleiben. Ich wusste nicht wohin ich als nächstes gehen sollte, ich konnte nicht weinen, ich wollte nur schlafen, um nicht mehr zu denken was ich dachte. Es war kein Schmerz, der mich von innen zeriss, keiner bei dem ich nur noch schreien wollte. Es war als ob meine Ohren betäubt und meine Sinne vernebelt waren.
Sarah´s Mutter kam zu mir und sagte mir das der Arzt mit mir sprechen wollte. Was wollte er mir sagen? Das es ihm sehr leid tut? Das er alles getan hatte was in seiner Macht steht? Egal was es war, ich wollte es nicht hören.
Max hatte einen irreparabelen zu engen Herzkanal. Das nötige Blut konnte nicht in seinem Körper zirkulieren. Ich verstand kein Wort von dem was er sagte. Laut Angabe der Ärzte würde er die ersten Monate im Krankenhaus blieben müssen. Der Arzt erklärte mir die Krankheit meines Sohnes bis ins kleinste Detail, aber ich nickte nur und versuchte noch nicht mal interessiert zu wirken, da es mir in diesem Moment völlig egal war was mit Max passierte. Sarahs Mutter saß neben mir und war Gott sei Dank mit einem etwas klareren Kopf gesegnet. Ich bewunderte sie für ihre Stärke, hatte sie doch vor wenigen Stunden ihr einziges Kind verloren.
Mein einziges Kind sah ich erst nach ein paar Monaten zum ersten Mal. Er war so klein und hilflos. Es hatte Sarahs Mutter viel Mühe und Redekunst gekostet, das ich endlich einmal mit zum Krankenhaus kam. Sie besuchte jeden Tag ihren Enkel, der immer noch unter Beobachtung stand. Sie führte die Gespräche mit den Ärzten, entschied was sie für Max tun sollten und was nicht.
Sarahs Mutter erzählte mir, wie gut Max sich macht, wie er alle verwunderte. Er hatte eine Lebenserwartung von etwa zwei Jahren diagnostiziert bekommen, aber er zeigte Stärke. Er lag an den Maschinen, die bisher sein ganzes Leben bestimmt hatten, er kannte nichts anderes als das leise Surren dieser Geräte, das kalte weiß des Zimmers in dem er in seinem Bett lag. Er schlief die meiste Zeit und wenn er wach war, weinte er nicht mal.
Ich glaube, er erkannte Sarahs Mutter, als sie auf ihn zuging. Er reckte einen Arm nach ihr und blickte sie vertraut an. Er hatte etwas in seinem Blick zu ihr, was er mir nicht gegenüber brachte. Obwohl er noch kein Jahr alt war, hielt er mein Leben in seinen kleinen Händen. Meine Abneigung war nicht verflogen, aber ich entdeckte das ich ihn lieben würden kann. Ich schloß die Augen und atmete tief durch. Max ist also da, er war und ist da. Sarahs Mutter sagte mir das, wenn alles so gut weiter liefe und Max sich weiter so gut entwickelte, begründete Hoffnungen bestehen könnten, das wir ihn bald mit nach Hause nehmen könnten.
Mir ging soviel durch den Kopf. Ich hatte bisher versucht, Max so gut es ging aus meinem Leben fern zu halten. Ich war Sarahs Mutter dankbar das sie sich so um ihn kümmerte und sie verstand es, als dies von mir weg zu halten. Ich überlegte mir was ich alles ändern müßte, wenn ich Max zu mir nehmen würde. Sarahs Mutter bot an, für eine Weile bei mir einzuziehen, das ich meine Arbeit erst mal weiter machen könne. Ich würde alles umstellen müssen, um mit Max zu leben und mit der Gewissheit, das er eines nahen Tages nicht mehr da sein werde. Ich wollte mich nicht an ihn gewöhnen, wollte nicht für ihn da sein, wollte nicht zu lassen das er weiter in mein Leben trat als er es sowieso schon getan hatte. Ich wollte, aus einer Art Selbstschutz meinen kranken Sohn nicht zu nah an mich heran lassen. Aber nach der langen Zeit, die ich versuchte ihn fern zu halten, dachte ich daran, wie einsam und alleine er sein mußte. Ein kleines Baby, immer in den weißen Krankenhauswänden eingesperrt, von Maschinen künstlich am Leben erhalten. Ich wußte, das ich es nicht ertragen könnte wenn er komplett in mein Leben trat, aber weniger noch konnte ich ertragen, das Max eines Tages alleine in der sechsten Etage in einem kalten Zimmer sterben sollte, ohne das ich ihm je sagen konnte, wie sehr ich mich auf ihn gefreut hatte, und wie sehr ich mich immer noch auf ihn freute. Ich wollte ihn plötzlich um alles in der Welt bei mir haben. Ich war nicht sicher wie es alles klappen sollte aber ich mußte es versuchen, denn eigentlich konnte ich nicht anders.
Ich konnte Max zu mir nehmen, als er etwas 10 Monate alt war. Gleichzeitig zog Sarahs Mutter wie angekündigt mit ein. Ich räumte mein Arbeitszimmer aus und wir richteten ein Kinderzimmer für ihn ein. Er schlief in der ersten Zeit in meinem Schlafzimmer und gelegentlich bei Sarahs Mutter im Wohnzimmer. Ich hatte damals mit Sarah geplant in eine größere Wohnung zu ziehen wenn Max alt genug war. Wir hatten uns bereits Gedanken gemacht, auf welche Schule er gehen könnte, und Sarah began etwa zwei Monate vor der Geburt damit, ein Kinderzimmer zu planen. Sie wollte es klassisch in hellblau streichen lassen. Ich erinnere mich genau an den Moment als Sarah von einer ihrer Untersuchungen kam und mir aufgeregt mitteilte, das man heute hatte sehen können, was das Baby sein würde. Ich wollte es unbedingt wissen, obwohl ich damals noch in der Phase war, das ich mich noch nicht ganz mit dem Gedanken, Vater zu werden angefreundet hatte. Anstatt mir eine Antwort auf meine Frage zu geben, überreichte sie mir ein Päckchen, und sagte mir, das ich und unser Kind dies später sicher gebrauchen könnten. Sie hatte mir einen kleinen Fussball geschenkt, auf dem „von Mami und Daddy“ gedruckt stand. Ich hatte sie glaube ich in diesem Moment niemals zuvor so sehr geliebt. Ich war in diesem Moment zum ersten Mal wirklich glücklich. Es war ein Gefühl was aus tiefstem Herzen kam.
Nachdem Sarah beerdigt worden war, warf ich alle glücklichen Gefühle weg und ebenso alle Dinge, die mich irgendwie an sie erinnerten. Fotos, Briefe, alle ihre Sachen, die in meiner Wohnung waren und die ihre Mutter nicht haben wollte. Ich versuchte sie aus meinem Leben zu streichen und einfach weiter zu machen. Ich wünschte mir trotzdem immer noch manchmal, das es Max bei der Geburt einfach auch nicht geschafft hätte. Ich weiß das dies grausame Gedanken waren, aber ich konnte manchmal nichts dagegen tun.
Max machte sich von Woche zu Woche besser. Er war nun fast ein Jahr alt und man sah ihm nicht an wie krank er war. Er war ein ganz normales Baby, hielt mich nachts wach und Sarahs Mutter tagsüber auf Trapp. Ich hatte ein halbes Jahr eine berufliche Auszeit genommen und Sarahs Mutter hatte an zwei Tagen in der Woche eine Nebentätigkeit in einer Bank angenommen. So lebten wir uns ein. Alles schien ganz normal zu sein. Mehrmals in der Woche mussten wir mit Max zu seinem Untersuchungen, zuerst täglich, dann nur noch dreimal und schließlich nur noch einmal pro Woche. Max ging es besser als erwartet. Zwar machten mir die Ärzte nie wirklich große Hoffnungen: Er würde seinen Herzfehler immer als großes Handicap mit sich tragen, er würde kein Spitzensportler werden, er würde niemals beim Sportunterricht in der Schule mitmachen können, falls er es überhaupt in die Schule schaffen würde... Mir wurde nur zu oft klar, das ich mich nicht mit dem Gedanken abfinden würde, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Er war noch so klein und dennoch zeigte er einen großartigen Lebenswillen. Er vertrug sich gut mit den Medikamenten die er nehmen musste, er weinte nie bei den Untersuchungen, und wenn ich mit ihm zu den Arztterminen ging schaute er mich immer an wenn er seine monatliche Spritze bekam, als wolle er sagen das alles doch gar nicht so schlimm ist.
Irgendwann begann er zu sprechen, erst das normale Gebrabbel eines Babys, und nach und nach konnte man ihn fast verstehen. Es war großartig zu sehen wie er seine Fortschritte machte.
Er bekam viel vorgelesen, und er begann einzelne Wörter nach zu sprechen. Das erste zusammenhängende Wort was er sagen konnte war: „schneeweiße Katze“. Die schneeweiße Katze war die Hauptfigur aus dem Buch was ich ihm immer wieder und wieder vorgelesen hatte. Ich erzählte ihm was die Katze erlebte, welche anderen Tiere sie auf ihren großen Reisen traf, und wie sie eines Tages ihren besten Freund, einen pechschwarzen Kater fand.
Ich kaufte ihm irgendwann eine weiße Stoffkatze, die er ab da überall hin mitnahm und nie aus den Augen ließ.
Eines Abends, als ich Max ins Bett brachte, fragte er mich was Schnee ist. Ich erklärte ihm, das wenn es ganz kalt ist, im Winter und der Regen, der manchmal vom Himmel fällt, einen so weiten Weg fallen muss, das es ihm auch ganz kalt ist, verwandelt der Regen sich in Schnee, der in vielen weißen Flocken sanft auf die Bäume fällt. Er fragte mich wann es so kalt ist das sich der Regen verwandelt. Ich sagte das das noch ein bisschen dauert, weil es noch kein Winter ist, und es nur im Winter so kalt ist. Er sagte das er dann jetzt auf den Winter warten will.
Es war September und noch recht warm, deshalb sagte ich ihm das der Winter erst im Dezember kommen wird und das es leider mit dem Schnee noch bis dahin dauern würde.
Er fragte mich fast jeden Abend, wann es Dezember sein würde, und irgendwann gab er es auf, weil ich ihm immer die selbe Antwort gab und kein Schnee zu sehen war.
In diesem Winter gab es keinen Schnee, und im nächsten auch nicht.
Max war nun fast drei Jahre alt und wir gingen nur noch einmal in der Woche zu seinen Untersuchungen. Die Ärzte sagten, das es fast schon ein Wunder ist, das er noch lebte, und das auch noch fast gesund. Sein Herz hatte sich viel besser entwickelt als es voraus gesagt wurde. Sarahs Mutter und ich wagten kaum uns Hoffnungen zu machen, aber wir sprachen bereits über einen eventuellen Kindergartenplatz für Max. Alles lief gut. Sarahs Mutter hatte die Arbeit wieder aufgegeben und ich hatte meinen alten Job wieder. Ich konnte einiges von zu Hause aus erledigen und somit vermißte Max mich auch nicht, da ich fast immer anwesend war. Wir überlegten in eine größere Wohnung zu ziehen, etwas weiter ausserhalb der Innenstadt, sodaß wir Max auch einmal unbesorgt draussen spielen lassen konnten, in dem Rahmen wie es ihm möglich war. Er lachte viel und ich vergaß leider viel zu oft das er dennoch immer noch sehr krank war.
Eines Morgens, ich glaube es war ein Sonntag, Ende Oktober sagte Max: „Mama war gestern Nacht bei mir“. Ich blickte Sarahs Mutter fragend an und sie fragte Max wie er das meinte. Wir hatten ihm, als wir dachten er sei alt genug, von Sarah erzählt. Wir wollten nicht das er eines Tages selber nach ihr fragte und wir nicht darauf vorbereitet wären. Wir sagten ihm, das Sarah im Himmel sei, und auf die vielen Kinder acht gibt, weil sonst alle dort so viel zu tun hatten, das sie es nicht selber konnten. Er hatte natürlich einige Fragen, aber ich glaubte, das er die Tatsache, das seine Mutter nicht da ist, verstanden hatte. Er kannte Sarah von Fotos und erzählte ab und zu über sie und was er glaubte, was sie im Himmel alles tat.
An diesem Morgen sagte er uns, das Sarah zu ihm ins Zimmer gekommen war in der Nacht und ihn gefragt hatte, wie es ihm geht und ob er mit all den kleinen Kindern im Himmel spielen wollte, von denen sie alle die Namen kannte und wusste was sie gerne mögen. Er sagte, das sie ihm gesagt hatte, er könne seine Katze mitnehmen.
Ich dachte nach, ob dies nur ein Traum gewesen war, oder ob das alles eine größere Bedeutung hatte.
Für ihn jedoch schien es nicht so, den er erwähnte Sarah danach nicht mehr. Er fragte aber weiter nach Schnee, aber auch in diesem Dezember gab es keinen.
Ich beschloß, eine Auszeit zu nehmen. Ich wollte aus der Stadt raus. Ich konnte meine Arbeit nicht mehr ordentlich tun, es wurde alles zuviel. Ich hatte Probleme mit Max, ich konnte keinen Platz in einem Kindergarten finden, und die Ärzte rieten davon auch ab. Sein Zustand sei stabil, aber dennoch keineswegs gesund. Wir sollten mit ihm vorsichtig umgehen und ihn nicht zu sehr wie ein normales Kind behandeln, den das war er nicht, sagten sie. Ich sagte das er das doch war. Wie ein normales Kinde schrie er wie am Spieß wenn er diese oder jenes nicht bekam, wie jedes normale Kind schlief er am liebsten in meinem Bett, wie ein normales Kinde wollte er mit anderen Kindern spielen, am liebsten draussen, aber ich musste es ihm immer wieder und wieder neu erklären und erlaubte ihm immer wieder nur ein bisschen auf den Spielplatz zu gehen, aber auch nur mit Sarahs Mutter oder mit mir, und auch nur eine halbe Stunde.
Ich wollte einfach etwas neues sehen, wollte die gewohnte Umgebung verlassen.
Es war sowieso wieder Herbst, die Stadt war grau, und trotz das wir ausserhalb wohnten, war die Welt trist und farblos.
Ich fragte Max ob er immer noch gerne Schnee sehen wollte. Er sagte das er keine Lust mehr hatte auf den Winter zu warten, weil es ihm zu lange dauerte.
Ich versprach ihm, das der Schnee in der nächsten Zeit kommen würde. Es passte alles sehr gut. Ich wollte weg, Sarahs Mutter hätte sicher auch nichts dagegen, wenn wir mal ein bisschen Abstand gewinnen würden von allem, und Max wollte immer noch Schnee sehen. Er saß neben mir, wir schauten ein bisschen Kinderprogramm im Fernsehen, die weiße Katze zwischen uns. Max lachte über die Sendung, die wir sahen, ich sah ihn an und musste mit ihm lächeln.
„Ich lieb dich ganz ganz viel, Max“ sagte ich und küsste in auf den Kopf. „Ich lieb Dich viel vieler, Papa“ sagte Max und ich seufzte und lächelte weiter.
Am nächsten Tag, einem Freitag im Herbst buchte ich für Max, Sarahs Mutter und mich zwei Wochen Winterferien in der Schweiz. Wir wollten Anfang Dezember losfahren, und wenn es uns gefallen würde, hatte ich die Option, zu verlängern und Max weiße Weihnachten zu schenken.
Ich war sicher das richtige zu tun. Ich hatte mit Sarahs Mutter gesprochen, und sie hielt es für eine gute Idee. Ich ging leichter als sonst nach Hause, ich hatte eine Vorfreude, und ich wusste Max würde es Spaß machen, mal etwas völlig anderes zu sehen und zu tun.
Ich kam nach Hause, Sarahs Mutter stand in der Küche und es roch nach Mittagessen. Max spielte in seinem Zimmer und wir beschlossen, nach dem Essen mit den Neuigkeiten raus zu rücken.
Nach dem Essen gähnte Max laut und sagte das er ein bisschen müde sei, und ob ich ihn und seine Katze ins Bett bringen könnte. Er wollte nicht in sein Bett, und so brachte ich ihn in meines und legte mich dazu. Ich erzählte ihm wie immer von den Erlebnissen der schneeweißen Katze, und er schloß die Augen. Ich horchte auf sein Atmen und als ich sicher war das er eingeschlafen war stand ich leise auf. Ich ging zur Tür, drehte mich noch mal um und sagte: „Ich lieb Dich ganz viel, Max“
Ich sah ihn an, sah ganz genau hin, und in diesem Moment wusste ich es.
Max war tot.
Ich weiß nicht wie lange ich noch an diesem Tag da stand und ihn ansah. Diesmal war es anders, es war nicht wie bei Sarah. Ich hatte kein Gefühl wie bei Sarah. Es war kein vernebeltes Gefühl, keine tauben Ohren. Diesmal war es klarer, reiner. Es war als ob alles langsamer wurde, als ob ich selbst aus meinem Körper heraus trat und meine Hülle einfach nur fiel. Ich hatte das Gefühl den Halt zu verlieren, alles an was ich glaubte, stelle ich in Frage, alles was echt schien, wurde nicht mehr wichtig, alles was je gewesen war hatte ich vergessen und ich dachte nun nicht mehr an das was noch kommen würde, den ich wusste in diesem Moment was Verlust bedeutet. Alles was ich je gehofft, geträumt und geliebt hatte war in diesem Kind, meinem kleinen Sohn lebendig geworden und es starb mit ihm neben mir. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern was ich mir für ihn ausgemalt hatte, ich weiß nicht mehr was ich geplant hatte, wenn ich mir vorstellen wollte, wie er sein würde wenn er zehn wäre, zwanzig, oder dreissig. Heute weiß ich nur noch, wie er sich angefühlt hatte, seine Haare, seine kleinen Finger. Ich spüre manchmal seinen Atem nachts an mir, wenn ich grade einschlafe, dann fühle ich ihn nah bei mir, als wäre er noch da. Der Übergang zwischen wach und schlafen ist das schwerste, wenn ich nicht unterscheiden kann was wahr ist und was nicht.
Ich habe alles noch, alle Fotos, alle gemalten Bilder, alle Erinnerungen, alle Bücher, seine kleinen Schuhe, seine blaue Zahnbürste, alles bis auf die schneeweiße Katze. Die habe ich bei ihm gelassen.
Er wurde an einem Dienstag beerdigt, neben Sarah, fast vier Jahre nach dem sie gestorben war. Er hatte überlebt, er war da geblieben, egal was alle Ärzte voraus gesagt hatten, er war da geblieben.
Sarahs Mutter und ich gingen hinter dem kleinen Sarg her, in dem Max liegen sollte. Ich begriff es nicht, und wollte nicht daran denken, weil es einfach mein Herz zerreißen würde. Der Kies knirschte unter unseren Füßen, und ich versuchte alles aufzuhalten was hier grade passieren sollte. Aber es ging nicht.
Ich weinte nicht, ich konnte nicht. Es war nichts da zum weinen. Es war zu sehr schmerzhaft, als das ich es durch weinen für alle sichtbar hätte machen können. Ich habe nur einmal wirklich geliebt in meinem Leben, und das war Max. Nie vor ihm und nie wieder nach ihm.
Wir gingen weiter, weil wir wussten das wir weiter gehen mussten. Es war kalt, es war windig, die großen Tannen auf dem Friedhof hielten den Wind fest, als er sich seinen Weg bahnte. Sarahs Mutter ging neben mir und griff meinen Arm. Ihre Nähe tat gut. Ich konnte nur ahnen das sie ähnlich fühlte wie ich.
Der Wind strich durch meine Haare, ich hörte ihn in meinen Ohren und spürte ihn an meinem Körper. Und plötzlich fing der Regen an. Ich blickte nach oben und da waren graue, dunkel blaue Wolken, finsterer Himmel und der Regen, der mein Gesicht traf.
Dann sah ich es: Es war kein Regen. Es war Schnee. Schnee, der auf den Kies fiel, auf meine Schultern, mein Gesicht. Und als der Schnee den kleinen Sarg traf, indem mein Sohn lag, seine Katze in den Armen, lächelte ich. Ich sah irgendwo am Himmel einen hellen Streifen Sonne, und die Welt herum wurde ganz langsam weiß von dem ersten Schnee seit vielen Jahren. Ich atmete tief ein, und sagte zu Sarahs Mutter, bevor ich begann mich zu verabschieden: „Da oben, sieh mal, da oben ist Max. Und weißt Du was?! Er war das, weißt Du, ganz sicher. Max hat den Schnee gemacht“.