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Mattis kommt
Wir sitzen im Wohnzimmer, meine Mama und ich, der Tisch ist gedeckt. Wir sitzen schon eine Weile mit geraden Rücken da, Mama hat die Hände gefaltet und zwischen die Knie geklemmt. „Sie sind sicher noch auf der Autobahn“, sagt sie. „Vielleicht ja schon bei Nürnberg, was denkst du?“
Vier Teller stehen da, das Zwiebelmuster-Service, von dem man eigentlich nicht isst. Meine Mama hat einen Kuchen gebacken, der steht mitten auf dem Tisch. Mattis kommt: Er will mich sehen.
„Wir können eine CD anhören“, sagt Mama. „Willst du?“
Die Sonne kommt durch die großen Fenster hinter mir und wärmt meine Wange und den Nacken. Es gibt eine Stelle im Raum, da dreht sich der Staub und leuchtet im Licht, und wenn man die Flusen mit dem Auge verfolgt, sind sie plötzlich weg.
Hermann Bihler ist nochmal los, Schlagsahne kaufen, und wir warten so lange zu zweit.
„Vier Uhr wollen sie da sein“, sagt Mama. „Vielleicht wird es früher, falls es keinen Stau gibt. Freust du dich?“ Sie legt die Hände auf den Tisch, streicht das frisch gebügelte Tischtuch glatt, schiebt mit dem Zeigefinger die Gabel vor sich her und lässt sie auf der Tischplatte kreisen. Sie schaut mich an und legt die Gabel wieder gerade an den Teller.
„Weißt du“, sagt sie, „ich mach jetzt einfach ein Kreuzworträtsel.“ Sie schiebt ihren Teller zur Seite, nimmt aus dem Korb eine Zeitschrift, blättert und lässt sie dann aufgeschlagen liegen. Einen Stift holt sie sich nicht.
Von draußen hören wir Schritte, jemand kommt die Eingangstreppe hoch. Wenn es gleich klingelt, ist er es! Mama stützt sich mit den Händen auf den Tisch, fischt mit den Füßen nach ihren Hausschuhen, um aufzustehen, aber dann hört man, wie draußen jemand den Schlüssel ins Schloss steckt. Sie lässt sich wieder ins Polster fallen. Ich laufe Hermann Bihler entgegen, nehme ihm die Einkaufstasche ab, trage sie in die Küche und stecke auch gleich das Rührgerät zusammen.
Ich will meinem Bruder zeigen, wie ich hier lebe. Durch die Fensterwand kann ich über die Terrasse in den Garten sehen. Das hohe Gras leuchtet in der Sonne, später werden die Grillen zirpen. Hinten haben wir einen echten kleinen Wald.
„Stell sie am besten so lange noch mal kalt“, sagt Hermann Bihler.
Als es schließlich doch klingelt, greift Mama erst nach der Tischkante und dann nach meiner Hand. Ich schaue sie an und sie mich. Dann springe ich zur Tür. „Mensch, Kleiner“, sagt Mattis, und hält mir die offene Hand hin. Er zieht mich zu sich und haut mir auf den Rücken. „Ey Kleiner,“, sagt er, „alles klar?“
„Du kannst deine Mutter ruhig umarmen,“ sagt sie von hinten her, sie steht auf der Schwelle zum Wohnzimmer in der offenen Tür, die Schulter berührt den Rahmen, und dann drückt Mattis sich an mir vorbei und legt wirklich die Arme um sie. Er gibt sogar Hermann Bihler die Hand. „Setz dich“, sagt der, und streckt den Arm zum Kaffeetisch hin aus. Er hat die goldene Uhr an.
Aber Mattis will keinen Kuchen. „Nein“, sagt er, „das mag ich gar nicht.“ Er hat sowieso keinen Hunger. Er will lieber mit mir hochgehen, unterm Dach sind meine Räume. Ich führe ihn gleich auf den Balkon. Mattis schiebt sich tief in den Stuhl und legt die Hände in den Nacken. Seine Knie schieben sich aus der halblangen Hose. An den Beinen wachsen richtige Haare.
„Cool hier,“ sagt er.
Dann erzählt er von Lucia. Das ist eine, die zum Schüleraustausch da ist. Er sagt immer nur Lucia, als würde ich sie kennen, und es stimmt ja, ich weiß wer das ist. In seinen Mails hat er auch schon ständig von ihr geschrieben. Von der Theatergruppe erzählt er, und das weiß ich ja, dass sie da mitmacht. Wie sie den Text lernt und wie sie ihn spricht, macht er mir vor. „Man muss immer so lachen, wenn sie spricht“, sagt er. Nur ob das jetzt seine Freundin ist, das hat er nie erzählt, er sagt immer nur Lucia, als wüsste ich alles.
Beim Aufwärmen, beim Improvisieren, sagte er, ist sie rumgehoppelt wie ein Hase. „Mann, hat das peinlich ausgesehen.“ Er presst sich die Handballen auf die Augen und schüttelt den Kopf und macht ein Geräusch. „Aber süß“, sagt er.
Mein Bruder hat sich verändert. Die Stimme ist stärker.
Wenn man von meinem Balkon guckt, ist nur Weide, ganz bis runter, erst zum Bach dann weiter bis zur Straße, dahinter erst kommen wieder Häuser. „Da drüben wohnen Jakob und Sophia,“ sage ich und male mir aus, wie wir morgen da hingehen und klingeln, dann vielleicht alle zusammen im Bach baden gehen, da wo er langsam und tief ist, und Jakob und Sophia sehen meinen Bruder. „Aha“, sagt Mattis, und reckt kurz den Hals, als wollte er wirklich besser sehen können. „Jedenfalls, Lucia“, sagt er. Wie sie Pillen aus der Tasche zieht, erzählt er. „Und ich denk noch, was ist denn das für ein Zeugs. Du weißt schon, oder? Und die macht sich eine raus und schluckt die, und dann sagt die, dass sie die immer zur gleichen Zeit nehmen soll, zeigt so auf ihre Uhr, und dass ich drauf achten soll, hält mir so ihre Uhr unter die Nase. Gute Idee, oder?, sagt die. Gute Idee, sagt die, einfach so.“ Er schaut mich schräg an. „Du weißt schon, oder?“ „Kann sein“, sag ich, und ich denke mir auch was, aber weiß nicht, ob es stimmt, ob es sein kann, dass diese Lucia so eine ist.
Er rutscht tiefer in seinen Stuhl und legt die Füße auf das Geländer. „Jedenfalls: Letzte Woche hab ich sie zweimal gepäckt.“ Ich versuche zu grinsen, lasse es dann, weil Mattis auch nicht grinst, sondern Luft kaut und durchs Geländerglas in den Garten runter schaut. Die Waden ragen bis zu den Knien aus der halblangen Hose und ich kann gar nicht richtig wegschauen.
Drüben im Beet steht meine Mama mit dem Gartenschlauch. Sie sieht uns nicht.
Das hat der also gemacht, der Mattis. Das gehört jetzt zu ihm, das geht nicht mehr weg, das klebt da jetzt, und ihm macht das gar nichts. Hoffentlich schwindelt der, denke ich. Gepäckt, sage ich mir im Kopf immer vor. Schaue ihm von der Seite auf die Lippen wenn er redet und komme nicht davon los. Nachts im Bett sage ich mir das Wort vor, um es zu bannen, unter der Decke, in die Decke hinein, immer wieder das Wort: gepäckt. Der Mattis. Mein Bruder. Mit seinen haarigen Beinen wie ein Mann.
Anderntags nehmen wir die Räder und fahren nach Roregg zur Burgruine hoch. Da ist es schon wieder besser. Der schwindelt sicher, denke ich mir, und dann redet er ja heute auch nicht so viel von ihr.
„Was macht Vater eigentlich den ganzen Tag“, frage ich, als wir später wieder im Garten im Gras sitzen, bei den Johannisbeeren. Wenn sie am Nachmittag ganz warm sind von der Sonne, schmecken sie am besten. Die Zunge schmerzt von der Säure, aber wir hören nicht auf. Mattis zuckt mit den Schultern. „Der cruist irgendwie durch die Stadt, turnt durch paar Museen, glaub ich, da steht der ja drauf.“ Er zieht eine Rispe durch die Zähne.
Mama schaut von der Terrasse aus zu und winkt. Mattis winkt auch.
„Wie kann man so was auf einen Kuchen tun“, sagt Mattis. „Voll die Verschwendung.“
„Wie sich dein Bruder entwickelt hat,“ sagt Mama später. „Ich hab euch gesehen, wie ihr mit den Rädern rausgefahren seid. Ihr seid zum See runter, nicht? Ach ja“, sagt sie, „dein Bruder ist ein junger Mann geworden.“ Sie klatscht die Hände vor der Brust zusammen und hält sie fest. „Und morgen koche ich uns ein Menü.“
Er ist dann gleich wieder mit mir hoch. Wir stehen auf dem Balkon, haben die Hände auf das Geländer gestützt und schauen über die Wiese, den Bach, die Siedlung dahinter. Ob wir da unten schwimmen gehen wollen nach dem Essen, denke ich und bin mir nicht sicher, ob ich das vorschlagen soll, aber dann dreht sich Mattis um und schlägt mir eine Hand auf die Schulter. „Brüderchen“, sagt er, „ich zieh Leine. Papa will rechtzeitig los, der will nicht alles am Stück fahren. Wir kucken uns noch Rothenburg an, unterwegs. Da steht son Altar rum, den der geil findet. Also tschüss, grüß unsre Mutter.“ Wir schlagen die Hände ineinander, dann geht er. Ich schaue ihm die Treppe hinunter nach, wie er sich die Jacke anzieht. Als er die Schuhe anhat, rennt er noch mal hoch, drückt mich richtig fest, und dann geht er wirklich. Eigentlich würde ich ja bis zur Tür mitgehen, aber da könnte Vater mich sehen. Das will ich nicht.
In der Küche lärmt die Dunstabzugshaube. „Ihr habt aber eine gute Nase“, sagt meine Mama. Sie schneidet Kräuter. „Es ist gleich fertig. Kuck mal da rein.“ Sie zeigt auf den Ofen mit dem Messer. An der Schneide kleben die Schnittlauchröllchen.
„Ihr könnt schon mal ins Esszimmer gehen, ist schon gedeckt.“
„Mama“, sage ich.
„Du kannst den Rechaud auf den Teewagen stellen. Ich mach das Ragout fin erst am Tisch rein, wenn er das nicht mag, kann er die Pastete so knuspern.“
„Mama“, sage ich, „der ist schon abgecruist.“ Aber das klingt nicht gut, so kann man das nicht sagen, das merke ich gleich. Und zwar von selbst, nicht weil Mama plötzlich so dasitzt. Sie stützt den Kopf in die Hand, wischt sich mit dem Handballen über den Mund und schließt die Augen, trinkt einen Schluck und lächelt, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. „So, Rothenburg. Ja, das ist ja schön.“
Auf dem Schneidebrett hält sie mit der linken Hand immer noch das Schnittlauchbündel fest, nur nimmt sie das Messer nicht mehr in die Hand.
Ich stehe da und bin mir nicht sicher, ob ich den Rechaud immer noch auf den Teewagen stellen soll. Aber dann finde ich besser, ich mach’s einfach.