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Marshmallows

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24.03.2019
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Marshmallows

"Sagen Sie nichts. Es geht um Jonas Finke, oder?"
Der Schulleiter nickt. Wortlos reicht er mir das Schreiben. Ich nehme es entgegen und lese mit flackernden Augen. Den Briefkopf kenne ich schon. Jonas' Vater ist Anwalt. Hellermann, Finke und Partner. Eine Anwaltskanzlei im Stadtzentrum. Einige Wörter in dem Brief brennen wie Feuer auf meiner Netzhaut: unprofessionell, parteiisch, diskriminierend, schlampig und unverschämt. Ich bin relativ gefasst, obwohl oder vielleicht auch gerade weil es mein erster Noten-Widerspruch ist. Erst der letzte Absatz zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ungläubig schaue ich hoch.
"Dienstaufsichtsbeschwerde?"
Der Schulleiter nickt. Sein Gesichtsausdruck ist geschäftsmäßig, neutral.
"Ja, aber das ist heute nicht unser Thema", fährt er ungerührt fort. "Dienstaufsichtsbeschwerden regelt die Bezirksregierung. Wir müssen uns um den Widerspruch kümmern. Wir brauchen eine schriftliche Stellungnahme von Ihnen."
Der Schulleiter schiebt mir ein Papier über den Tisch.
"Ich habe hier ein Musterschreiben von unserem letzten Widerspruch. Ich gebe Ihnen eine Kopie, dann können Sie sich an dem Schreiben orientieren."
Ich fühle mich plötzlich sehr müde.
"Danke!", flüstere ich.
Gedankenverloren verlasse ich sein Büro.

Zwanzig Minuten später sitze ich in der U-Bahn nach Hause. Die ganze Fahrt über versuche ich krampfhaft, mich zu entspannen. Doch das Rattern der U-Bahn dringt mühelos durch meine nun dünne Haut. Fast verpasse ich meine Haltestelle. Ich steige nach oben. Das Wetter passt zu meiner Stimmung. Ein grauer, kalter und matschiger Herbsttag. Es regnet und ich schaue in lauter missmutige Gesichter.

Als ich die Tür zur Wohnung öffne, höre ich Bruno, unseren Vierjährigen, laut schreien. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, rennt er an mir vorbei. Zwei Sekunden später pest Ariane hinter ihm her.
"Hallo Schatz", ruft sie mir en passant zu. "Bruno, komm - her - jetzt!"
Sohn und Frau verschwinden im Badezimmer. Ein paar Sekunden später trottet Jule, unsere Sechsjährige, in mein Blickfeld.
"Hallo Papa", sagt sie lässig.
"Hallo Jule", sage ich und schaue sie fragend an. Sie schaltet sofort.
"Bruno hat Mamas Vase zerdeppert."
"Aha!"
Na super. Jetzt ist es eine runde Sache. Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe Glasscherben, Wasser und Blumen verstreut auf dem Boden.
"Komm, wir räumen das auf", sage ich zu Jule.
"Spinnst du, Papa? Glasscherben sind voll gefährlich", erwidert sie und läuft davon.
Ich atme tief durch, balle die Hände zu Fäusten und recke sie gen Decke. Pow! Mit einer plötzlichen Geste öffne ich sie wieder und lasse die negative Energie verschwinden. Eine Technik, die eine Erzieherin mir beigebracht hat. Sie klappt mal mehr, mal weniger gut. Heute eher weniger.

Mit einem Kehrblech sammle ich die Scherben auf, mit einem Lappen wische ich das Wasser weg. Die nassen Blumen lege ich auf den Tisch. Als ich damit fertig bin, steht Ariane ausgehbereit im Türrahmen. Sie kramt in ihrer Jackentasche herum.
"Wo willst du denn hin?", frage ich. Was ich eigentlich sagen will: Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen!
Ariane verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.
"Zum Hautarzt!", sagt sie vorwurfsvoll.
Ach ja, der Hautarzttermin. Das hatte sie mir gesagt. Mein Herz rutscht trotzdem in die Hose. Jule und Bruno stehen auch in der Tür. Mit großen, unschuldig scheinenden Augen schauen sie mich an.

Ehe ich mich versehe ist Ariane weg. Bruno und Jule aber sind noch da.
"Können wir Fernsehen?", fragt Jule sofort.
"Ja, Fernsehen!", ruft Bruno und nickt zustimmend.
"Nein! Nicht schon wieder Fernsehen", sage ich. Ich bin klar und deutlich. "Papa muss arbeiten. Ihr könnt im Kinderzimmer spielen. Oder malt irgendwas, okay? Ich will nicht gestört werden, klar?"
Die Kinder maulen kurz, dann trotten sie davon. Ich gehe ins Arbeitszimmer, schließe die Tür hinter mir und fahre den Computer hoch. Aus meiner Schultasche nehme ich die Stellungnahme, die mir der Chef in Kopie gegeben hat. Ich habe sie ungefähr zur Hälfte gelesen, als ein Riesenkrach aus dem Kinderzimmer tönt. Ich versuche es zu ignorieren. Sollen die das doch unter sich klären. Doch das Geschrei wird lauter. Völlig entnervt stehe ich auf. Mit drei, vier Sätzen bin ich beim Kinderzimmer. Ich reiße die Tür auf, als wollte ich Geiseln befreien und brülle direkt los.
"Was ist hier los, verdammt noch mal. Ich - muss - arbeiten. Kann man nicht einmal seine Ruhe haben?"
Bruno und Jule, überrascht von meinem Hereinplatzen, stehen belämmert da. Bruno hat einen Drachen ohne Flügel in der Hand. Jule hat Flügel ohne Drachen in der Hand.
"Jule hat die Flügel abgerissen", meckert Bruno.
"Ja, aber das war nur, weil Bruno gesagt hat, ich bin eine Kakawurst."
"Ja, aber Jule hat gesagt, ich bin eine Seiße!"
"Nein, hab ich gar nicht."
"Hast du wohl, Jule."
"Nein, hab ich gar nicht, Papa, ich schwöre."
"R - U - H - E !"
Die Lautstärke bringt Bruno und Jule zum Schweigen. Für einen Moment zumindest. Sie schauen mich erwartungsvoll an. Ein Urteil, ein Schiedsgericht, ein Vorschlag, irgendetwas muss jetzt kommen.
"Okay, ihr könnt fernsehen."
Jules Lächeln macht mich glauben, sie habe alles von langer Hand geplant und meine Reaktion fest einkalkuliert. Sie nimmt Bruno an die Hand und geht mit ihm ins Wohnzimmer. Sie schaut ihn dabei lieb an, als will sie ihm zu verstehen geben, dass er seine Rolle gut gespielt hat.
"Kannst du uns Apfel schneiden?", fragte Jule routiniert und macht es sich mit der Fernbedienung auf dem Sofa bequem. Bruno klettert hinterher.

Ich gehe wie ferngesteuert in die Küche, schneide zwei Äpfel in Scheiben und bringe Jule und Bruno jeweils eine Schüssel davon ins Wohnzimmer. Ihre Augen sind schon auf den Fernseher fixiert, sie schauen weder zu mir hoch, noch sagen sie Danke. Aber ihre Hände greifen in die Schüsseln, na immerhin.

Zurück im Arbeitszimmer, lese ich die Stellungnahme zu Ende. Ich nehme meinen Schulkalender vom letzten Jahr aus dem Regal und schaue mir die Noten von Jonas Finke an. Klassenarbeiten, Vokabelteste, mündliche Überprüfungen, all das. Ich schreibe mir die Tage heraus, an denen Jonas Finke seine Hausaufgaben oder sein Material vergessen hat und fertige eine Übersicht an. Ich bin so vertieft in meine Aufgabe, dass ich gar nicht bemerke, wie Bruno ins Arbeitszimmer kommt.
"Papa?"
Ich drehe mich um. Da steht mein vierjähriger Sohn und guckt mich aus trübseligen Augen an.
"Was ist, Bruno?"
"Können wir eine Kissenburg bauen?"
"Eine Kissenburg? Wie kommst du denn jetzt darauf?"
"Das ham wir in der KiTa gemacht."
"Ach so. Nee, Bruno, ich muss jetzt arbeiten. Außerdem guckt ihr doch grad Fernsehen."
"Aber das is so lammweilig."
"Dann spiel doch mit deinem Lego oder so."
"Nein, du sollst mit mir spielen."
"Bruno, ich kann jetzt nicht, okay. Jetzt geh mal wieder zu Jule, okay?"

Bruno dackelt davon. Ich wende mich wieder meiner Stellungnahme zu. Ich schreibe, formuliere um, korrigiere, paraphrasiere, fabuliere und verzweifle mehr und mehr an meiner Verteidigungsschrift. Irgendwann gebe ich entnervt auf und gehe in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Als ich zurück in mein Arbeitszimmer gehe, sehe ich durch den Spalt der Wohnzimmertür Bruno und Jule vor dem Fernseher sitzen. Mit offenen Mündern und glasigen Augen sitzen sie da, den Blick auf die Mattscheibe fixiert. Ich gehe ins Arbeitszimmer, setze mich wieder hin und stütze meine Hände vor der Tastatur ab. Ich lese das bisher Geschriebene und denke über die Fortsetzung nach. Ich schaue aus dem Fenster. Ich schaue auf den Bildschirm, dann wieder aus dem Fenster.

Ich stehe auf, gehe ins Wohnzimmer, schnappe mir die Fernbedienung und schalte die Glotze aus.
"Ey, Mann, Papa!", schreit Jule sofort vorwurfsvoll. Bruno sagt gar nichts.
"So, wir bauen jetzt eine Kissenburg", sage ich bestimmt.
"Nein, keine Kissenburg", meckert Jule. "Kissenburge sind blöd."
Bruno schweigt. Aber er steht vom Sofa auf.
"Keine Widerrede", sage ich. "Wir machen das jetzt."
"Und wie?", fragt Jule mit einem letzten Rest Aufsässigkeit.

Tja, wie? Schmerzhaft wird mir bewusst, dass ich noch nie eine Kissenburg mit meinen Kindern gebaut habe. Aber Gottseidank gibt es ja das Internet. Ich hole mein Handy und gebe Wie baut man eine Kissenburg? ein und bekomme prompt eine Seite vorgeschlagen.
"Okay", sage ich. "Zuerst brauchen wir einen gemütlichen Platz. Heute ist es kalt und regnerisch. Wo ist es warm und gemütlich?"
Jule, die schon zur Schule geht, zeigt auf und wartet darauf, dass ich sie drannehme.
"Ich weiß. Bei der Heizung!", sagt Bruno.
"Man, Bruno muss aufzeigen", meckert Jule.
Bruno hebt die Hand.
"Gut. Bei der Heizung", fahre ich ungerührt fort. "Jetzt brauchen wir Decken. Aber nicht so dicke Decken, sondern dünne, sonst stürzt uns das Dach ein." Ich scrolle weiter runter. "Ach nee, wartet, wenn wir Stühle als Stütze nehmen, dann gehen auch dicke Decken. Holt einfach alles, was ihr an Decken findet, okay? Und die Kissen auch. Los geht's!"

Jule und Bruno düsen los. Jule rennt in unser Schlafzimmer und holt die Bettdecken. Bruno läuft ins Kinderzimmer und holt die Spannbetttücher, die dort zum Trocknen auf dem Wäscheständer hängen. Hurtig kommen sie zurück und legen mir alles vor die Füße. Dann rennen sie wieder los und holen auch noch Handtücher, Kissen, Putzlappen und Zeitungen. In der Zwischenzeit nehme ich die vier Stühle vom Esstisch und bringe sie in Stellung.
"Super", sage ich, als genügend Material da ist. "Jetzt kleiden wir erst mal den Boden aus und machen es uns so richtig gemütlich."
Die Kinder nehmen zwei Decken und ein Spannbetttuch und legen es in das Rechteck zwischen den Stühlen. Ich nehme die Polster vom Sofa und decke damit die Lücken zwischen den Stuhlbeinen zu. Bruno rennt unterdessen nochmal ins Kinderzimmer und holt seine Plüschtiere. Als Jule das sieht, macht sie es ihm nach. Mit Mimi, dem Tiger, und Horst, dem Einhorn, mit Wuschi, dem Bären und Carlo, dem Schmusemonster kommen sie zurück. Sie legen die Stofftiere auf dem Boden ab.
"Dann kommt jetzt das Dach."
Gemeinsam ziehen wir die großen Decken über die Stuhllehnen und dichten alles so ab, dass kein Licht mehr ins Innere fällt. Nur einen Spalt lasse ich frei. Der Eingang.
"Bruno, krabbel mal hinein und sag uns, ob alles dunkel ist."
Bruno geht in den Vierfüßler. Wie ein Löwe vor einer Höhle begibt er sich zögerlich ins Innere.
"Alles dunkel", kommt es aus dem Inneren.
Ich schalte das Licht von meinem Handy ein und leuchte in unsere Burg hinein. Bruno sitzt am hinteren Ende zwischen Mimi und Horst und lächelt mich an.
"Komm, Papa", sagt er.
"Gleich. Ich habe noch eine Idee", sage ich. "Jule, geh auch schon mal rein. Hier nimm das Handy. Ich komme sofort."
Jule nimmt das Handy und krabbelt in die Höhle. Ich gehe in die Küche und hole dort drei kleine Holzspieße aus der Kammer. Aus dem Süßigkeitenfach nehme ich die Tüte mit Marshmallows, öffne sie und spieße jeweils vier Marshmallows auf die Holzspieße. Aus dem Arbeitszimmer hole ich noch die Tageslichtlampe und aus dem Wäscheschrank ein dünnes, rotes Handtuch aus Leinen. So bepackt kehre ich zur Kissenburg zurück.
"So, Kinder, macht Platz, hier kommt der dicke Papa."
Ächzend krieche ich durch den Spalt in die Höhle. Ich mache mich so klein, wie es geht, drehe mich in der Höhle noch mal um und hole die Marshmallowspieße und die Tageslichtlampe plus Leinentuch.
"Jetzt machen wir es uns gemütlich."
Ich setze mich in den Schneidersitz, positioniere die Tageslichtlampe in der Mitte unserer Burg, lege das rote Tuch drüber und schalte die Lampe an. Sofort wird der Königssaal unserer Kissenburg in ein warmes Rot getaucht. Kaminfeeling kommt auf. Im Schein der Lampe sehe ich die weichen Gesichtszüge meiner Kinder.
"Wisst ihr, was wir jetzt machen?", frage ich die beiden.
Jule und Bruno gucken mich fragend an.
"Wir braten Marshmallows über dem Feuer."
Ich lasse mir von Jule das Handy geben. Auf einem Soundportal suche und finde ich das Geräusch eines knisternden Kaminfeuers und mache es an. Ich lege das Handy falsch herum, so dass man nur den Ton hört.
"Hier, eure Spieße."
Mit großen Augen nehmen Jule und Bruno die Spieße in die Hand.
"Hier, ihr müsst sie über das Feuer halten."
Ich halte meinen Spieß über die rot leuchtende Lampe und drehe den Spieß hin und her. Jule und Bruno machen es mir nach. Es knackt und knistert im Innern unserer Höhle und nach kurzer Zeit könnte man wirklich meinen, wir brieten Marshmallows über dem offenen Feuer.
"Was meint ihr, Kinder. Sind die gut?", frage ich nach ein paar Minuten.
"Jaaa!", rufen Jule und Bruno unisono.

Wir sitzen da und beißen schweigend in unsere Marshmallowspieße. Weil es etwas eng ist, muss ich ab und zu mein Gewicht verlagern. Richtig bequem wird es nicht. Aber das ist mir egal. Denn plötzlich realisiere ich, dass ich gemeinsam mit meinen Kindern einen besonderen Moment erlebe. Ich schaue mir meine Tochter und meinen Sohn an, wie sie beseelt an ihren Marshmallows knabbern, ich sehe die neidischen und hungrigen Blicke von Horst, Mimi, Wuschi und Carlo und auf einmal werde ich ganz ruhig. In der Wärme des Königssaals fühle ich mich gut aufgehoben und ich vergesse den Ärger außerhalb der Kissenburg. Später, das weiß ich, werde ich wieder von etwas genervt sein. Von der Arbeit, von den Kindern, vom Leben, aber die Erinnerung an diesen Moment, ob bewusst hervorgerufen oder unbewusst präsent, wird mir den Glauben an das zurück geben, was Familie im Idealfall ausmacht: Schutz, Geborgenheit, und, nicht zu vergessen: Marshmallows.

 

Hallo @Katta @Fliege und @dotslash

vielen, lieben Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich möchte und werde noch
genauer auf eure Kommentare eingehen, komme aber momentan aus zeitlichen Gründen
nicht dazu.

LG,

HL

 

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