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- 24.01.2009
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Mam!
Heute gibt es Schnitzel. Mit Blumenkohl und Kartoffeln, so richtig selbstgekocht alles. Wer will, bekommt auch ein Spiegelei dazu.
Ich esse gern bei meiner besten Freundin Nina. Alle - Ninas Eltern, ihre drei Geschwister und wir beide - sitzen zusammen am Tisch und irgendwie ist es immer lustig.
Nina hasst es, mit ihrer Familie zu essen. Sie isst lieber bei mir und meiner Mam. Wir haben keinen Esstisch, weil meine Mutter unbedingt ein Sofa in der Küche haben wollte. Ein Kariertes. Wir sind damals ewig durch Möbelhäuser gelaufen, haben stundenlang im Internet gesucht, aber keines gefiel ihr. Entweder war das Sofa unbequem oder mit den Karos stimmte etwas nicht. Sie waren zu klein, zu groß, zu hell, zu dunkel. Als die Familie über uns auszog, kam Mam in mein Zimmer gestürzt: „Ich habe es gefunden!“
„Was?“, fragte ich.
„Unser Sofa!“
„Wo?“
„Die Müllers tragen es gerade aus dem Haus.“
„Unser Sofa?“
„Naja, noch ist es ihres.“
„Noch?“ Ich verstand kein Wort.
„Warte, bin gleich zurück.“
Damit verschwand meine Mutter wieder. Aus dem Fenster beobachtete ich, wie sie zu dem LKW lief, in den die Müllers ihre Möbel und Kisten stapelten. Sie redete auf die Müllers ein. Ich sah nur, wie die mit den Köpfen schüttelte oder hilflos mit den Schultern zuckten, aber meine Mutter tat, als würde sie das gar nicht mitbekommen und eine halbe Stunde später schleppten zwei Männer das Sofa wieder die Treppen hinauf und in unsere Küche. Mam schrieb einen Scheck aus und thronte den Rest des Tages auf ihrer Errungenschaft.
Das Sofa hatte Flecken, an den Lehnen war der Stoff dünn, überhaupt sah es aus, als hätten wir es im Sperrmüll gefunden, aber meine Mutter sagte immer nur: „Es ist perfekt.“
„Aber guck doch, all der Dreck und so.“
„Wir legen eine Decke drüber, dann sieht man es nicht mehr.“
„Eine Decke? Eine Decke hätten wir auch über jedes andere Sofa legen können. Wieso dann die perfekten Karos?“
„Es geht nicht darum, dass man sie sieht. Es geht darum, dass man weiß, sie sind da.“
„Verstehe“, stammelte ich, verstand aber gar nichts. Nur, dass jetzt endlich die Zeiten der Möbelhäuser-Endlosschleifen vorbei waren und darüber konnte auch ich mich freuen.
Nina fand sowohl das Sofa in der Küche toll, als auch die Geschichte, wie wir dazu kamen. Meine beste Freundin findet überhaupt alles an meiner Mutter toll. Nur einmal, nachdem meine Mutter mir gebeichtet hatte, ich könne im Sommer nicht mit Nina nach England fahren, weil sie das Geld für das Sofa gebraucht hatte, da war auch Nina auf sie sauer.
Bei uns Zuhause sehen die Mahlzeiten so aus: Wir bestellen per Telefon oder schieben was zum Aufwärmen in den Ofen, dann packen wir es auf Teller, die wir auf unseren Knien abstellen und gucken Fernsehen.
„Und was macht ihr beide heute noch?“, fragt Ninas Mutter, als sie den Nachtisch verteilt, Pudding mit frischen Heidelbeeren und Schokostreuseln.
„Wissen wir noch nicht. Treffen uns erst mal mit den anderen“, antwortet Nina.
„Und dann? Was unternehmt ihr?“
Nina rollt mit den Augen. „Keine Ahnung. Vielleicht sitzen wir nur rum und reden.“
Ihre Mutter schüttelt den Kopf. „Immer nur so rumhängen. Das ist doch langweilig.“
„Ist es nicht“, sagt Nina. „Und wenn deine Freundin hier ist, sitzt ihr beide auch nur im Wohnzimmer rum und redet.“
„Das ist was anderes. Das kannst du nicht vergleichen.“
Ich löffle meinen Pudding und schweige. Überlege, ob man das wirklich nicht vergleichen kann. Und ich denke darüber nach, was Ninas Mutter von uns erwartet. Was sollen wir denn in diesem Kaff machen? Die Eisbären retten? Den Weltfrieden? Die Nachmittagskindervorstellung im Kino besuchen?
Eileen und Finn sind schon auf dem Sportplatz, als wir kommen. Finn wirft ein paar Körbe im Käfig und Eileen hat mit ihrem Handy zu tun. Jeder weiß, dass Eileen auf Finn steht, aber Finn ignoriert sie, wenn es irgendwie geht. Ich steh auch auf Finn, aber das sage ich niemandem, noch nicht mal Nina. Wenn das rauskommt, würde er mich auch ignorieren. Noch mehr ignorieren, als er es eh schon tut. Ich bin mehr so die Außenseiterin hier. Mich stört das nicht. Sie lassen mich in Ruhe. Ich rede nicht viel mit ihnen und sie nicht mit mir. Ich bin hier, weil Nina hier ist und Nina ist meine beste Freundin seit dem Kindergarten.
„Hey Eileen“, sagt Nina und setzt sich neben sie auf die Tribüne. „Hey Finn“, ruft sie zum Käfig rüber.
Ich sage nur „Hey“, und setze mich neben Nina.
„Hab gehört deine Mutter fährt mit uns auf Klassenfahrt“, sagt Eileen, während ihre Finger weiter SMS tippen.
„Wessen Mutter?“, fragt Nina und ich glaube, wir halten beide die Luft an und hoffen, dass es nicht die eigene ist.
„Sophies.“
Ich höre Ninas „puh“, und wünschte, es wäre meins.
„Woher weißt du das?“, stammle ich.
„Wurde auf dem Elternabend so besprochen.“
„Hat meine Mutter uns gar nicht erzählt“, plappert Nina fröhlich, während ich auf den Gedanken einprügle, dass ausgerechnet meine Mutter – wieso tut sie das?
„Sophies Mutter ist toll. Ich finde das gut“, sagt Nina.
„Ach, ist sie das?“, fragt Eileen und schaut zum ersten Mal von ihrem Handy auf, mich direkt an. Ich zucke mit den Schultern und mir wird heiß unter Eileens abschätzendem Blick.
„Ja, wirklich“, übernimmt Nina für mich. „Wirste sehen.“
„Na dann.“ Eileen lässt mich wieder frei und tippt weiter.
„Scheiße“, formen meine Lippen stumm. Ich kann es genau vor mir sehen, wie meine Mutter im Zimmer zwischen uns sitzt und alles über ihr erstes Mal erzählt, weil sie glaubt, es interessiert Mädchen in unserem Alter. Und wenn sie damit durch ist, wird sie in Einzelheiten über Frauenärzte und Kindergeburt berichten. Sie wird sich wie die beste Freundin von jedermann aufführen. Sie wird sich ständig in den Mittelpunkt rücken. Sie wird zu allen Treffpunkten zu spät kommen. Sie wird ... Sie soll bitte, bitte krank werden.
Die anderen trudeln nach und nach ein und auch Finn wirft keine Körbe mehr. Er steht jetzt so nah bei mir, dass ich nur meinen Arm ausstrecken müsste, um ihn zu berühren. Das Thema ist jetzt meine Mutter. Natürlich. Wir sind noch nicht einmal losgefahren und sie steht bereits im Mittelpunkt.
„Echt? Deine Mutter erlaubt dir so ziemlich alles?“
„Wirklich? Ihr habt in einer WG gewohnt, bis du zehn warst?“
„Sie hat was? Herzchen und Blümchen mit Nagellack auf die Karre von 'nem Typen gepinselt, weil der mit ihrer Freundin gepimpert hat?“
Bla, bla. Ich werfe Nina einen genervt-gequälten Blick zu. Sie versteht und hört auf, weitere Anekdoten aus dem Leben meiner Mutter zu erzählen.
„Jemand Lust auf Eis?“, frage ich und stehe auf.
„Ich“, sagt Nina, Finn auch, weshalb Eileen mitkommt, und ihretwegen Celina, dann auch Marek und der Rest. Zwanzig Minuten später haben wir alle ein Eis gegessen und fragen uns, was wir jetzt machen.
„Können ja noch ein paar Körbe werfen“, schlägt Finn vor. „Richtiges Spiel wäre nicht schlecht“, sagt Celina.
„Okay, in einer halben Stunde. Muss mich umziehen. Die Schuhe sind Scheiße“, sagt Marek.
Ich habe keine Lust auf Basketball. Ich will nach Hause, in mein Zimmer, auf mein Bett. Ich will mir vorstellen, wie Finn und ich bei der Klassenfahrt zusammensitzen und uns die Ohrstöpsel seines MP3-Players teilen. Wie er seinen Arm dabei um mich legt. Wie wir Hand in Hand durch Berlin laufen. Wie es ist, ihn zu küssen.
*
Ich wusste es! Natürlich kommen meine Mutter und ich zu spät zum Bahnhof. Nicht für den Zug, aber wir sind die letzten, und meine Klasse steht nicht mehr vor dem Fahrkartenschalter, sondern bereits auf dem Bahnsteig.
„Jetzt reg dich nicht so auf. Ist doch alles gut gegangen“, versucht meine Mutter mich milde zu stimmen. „Ich geh uns noch schnell einen Kaffee holen.“
„Du kannst jetzt nicht weglaufen. Der Zug kommt gleich.“
„Wann?“
„In vier Minuten.“
„Oh.“ Tatsächlich scheint meine Mutter nachzudenken. Dann wuschelt sie mir durchs Haar und sagt: „ Ach Schnecke, manchmal frage ich mich, wer von uns beiden Mutter und wer Tochter ist.“
„Mam?“
„Ja?“
„Könntest du mich auf der Fahrt bitte nicht Schnecke nennen.“
Sie lacht. „Natürlich Schnecke.“
„Mam!“
„Schon gut.“
Im Zug ist meine Mutter ständig unterwegs. Zum Speisewagen, um Kaffee zu kaufen. Von Sechserabteil zu Sechserabteil, um jeden nach seinem Namen zu fragen, den sie doch gleich wieder vergisst, um allen ihren Vornamen zu nennen und das „du“ anzubieten, um alle davon zu überzeugen, dass es toll wird. Dann wieder zum Speisewagen, zur Toilette, durch die Abteile und als wir aussteigen, ist ihre Jacke nicht mehr da; liegen gelassen, geklaut, was auch immer, jedenfalls weg und somit auch ihr Handy. Sie borgt sich meins, um ihres sperren zu lassen und steckt es anschließend in ihre Handtasche.
„Es ist mein Handy!“
„Natürlich ist es dein Handy.“
„Dann gib es mir wieder.“
„Ich muss nachher nur noch kurz ein paar Anrufe machen.“
„Da kannst du es dir ja von mir borgen.“
„Jetzt mach hier keinen Aufstand. Du kriegst es ja wieder.“
„Mam!“
Abends, in der Jugendherberge, erwische ich Finn und Eileen knutschend auf dem Damenklo, während die anderen im Gemeinschaftsraum rumhängen. Ich wollte nur pinkeln gehen, mache die Tür auf, das Licht an und da stehen die beiden am Fenster und kleben mit ihren Zungen zusammen. Ich nuschel ein „Tschuldigung“, lösche das Licht wieder und gehe eine Etage höher aufs Klo. Zum Pinkeln und Heulen. Wieso tut Finn das? Warum ignoriert er Eileen nicht mehr, wie er es immer getan hat? Ich will mit Nina reden, aber das geht nicht. Sie weiß ja nichts von Finn. Deshalb bleib ich auf dem Klo sitzen, bis ich aufhöre zu heulen, bis meine Fingernägel abgekaut sind, bis Nina kommt, die mich gesucht hat, weil meine Mutter die spanische Gruppe im Partykeller überredet hat, dass wir zusammen Party machen.
Nina frisiert mir die Haare und fragt ständig, was mit mir los ist. Ich erzähle von meinem Handy, das bei meiner Mutter ist. Von dem Stress heute Morgen und meiner Angst, wir würden den Zug verpassen. Von Eileen und Finn sage ich nichts. Sie nimmt mich in den Arm, drückt mich, sagt, ich nehme alles immer viel zu ernst und ich könne ihr blaues Oberteil für die Party haben, wenn ich möchte.
Meine Mutter tanzt wirklich zu jedem Scheißsong. Die, die nicht mit ihr tanzen, sitzen am Rand und gucken zu. Ab und an verdrücken sich die Raucher kurz hinter die Büsche im Hinterhof. Erst wird getuschelt, wo wohl Finn und Eileen sind. Einige laufen durch die Zimmer und suchen sie, rufen an, aber keiner von den beiden geht an sein Handy, bis Herr Krüger die Frage laut stellt und alle mit den Schultern zucken. Fünf von uns gehen mit ihm die beiden suchen, ich und Nina sind dabei. Meine Mutter bleibt mit dem Rest auf der Party.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden noch auf dem Damenklo sind. Auf dem Weg dorthin erzähle ich Nina, wie ich sie knutschend überrascht habe.
„Finn und Eileen haben geknutscht?“, fragt Nina.
„Ja.“
„Der will doch gar nichts von ihr.“
Ich zucke mit den Schultern.
„Der nutzt die doch nur aus.“
Finn und Eileen sind nicht mehr auf dem Klo.
Der nutzt die doch nur aus – Nina ist wirklich ein Schatz. Während ich auf der einen Seite erleichtert bin, steigen auf der anderen meine Bedenken. Immerhin sind wir in Berlin. Hier kann so ziemlich alles passieren.
„Was glaubst du, wo die sind?“, frage ich.
„Vielleicht versuchen sie ja nur irgendwo Kippen zu kaufen.“
Unsere Gruppe zieht los und wir suchen sie in Kneipen, auf Spielplätzen, auf der Straße. Herr Krüger überredet einen Türsteher, ihn kostenlos in den Klub zu lassen, um nach den beiden zu suchen, kopfschüttelnd kommt er nach einer ganzen Weile wieder raus.
Wir machen uns Sorgen und erstellen die furchtbarsten Szenarien, was den beiden zugestoßen sein könnte, bis uns Herr Krüger verbietet, einen solchen Unsinn zu reden, und dass sie schon wieder heil auftauchen werden. Ich glaube, er verbietet es uns, weil er sich selbst beruhigen will. Man kann sehen wie erleichtert er ist, als der Anruf kommt, Finn und Eileen seien wieder da. Als wir zurückkommen, sind die beiden zwar nicht auf Droge oder überfallen und zerstückelt worden, dafür sind Marek und Celina sturzblau. Meine Mutter hilft Celina beim Kotzen, hält mit einer Hand die Haare zurück und mit der anderen ihre Stirn. Sie sagt immer, wie gut Celina das alles macht. Herr Krüger schickt erst Marek und dann alle anderen auf die Zimmer.
Ich kann nicht einschlafen, weil Celina jammert und Eileen rosa Wolken in den Himmel quatscht. Sie war mit Finn auf dem Dach und hat in das Lichtermeer geschaut. Irre romantisch sei es gewesen. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und singe alle möglichen Lieder, die mir einfallen, um es nicht hören zu müssen, und irgendwann schlafe ich ein.
Beim Frühstück herrscht trübe Stimmung. Meine Mutter ist noch nicht da und wir sind alle fast fertig. Herr Krüger ist sauer wegen gestern Abend und er macht daraus auch kein Geheimnis. „Falls noch irgendwer der Meinung ist, sich nicht an die Regeln halten zu müssen, ist Ende mit Klassenfahrt. Dann ist Sachen packen.“ Ich kann ihn verstehen irgendwie. Zum Abschluss der Rede listet Herr Krüger das Tagesprogramm auf. Checkpoint Charlie, Führung durchs Holocaust-Mahnmal, Führung durch den Bundestag. Als er sich wieder hinsetzt, herrscht Nordpolklima am Tisch. Meine Mutter kommt. Strahlend, fröhlich. Sie besorgt sich einen Kaffee, schaut sich die Gesichter an, zieht die Stirn kraus und sagt: „Ich schlage vor, wir gehen heute ins Dungeon.“
Ich warte darauf, dass Herr Krüger explodiert. Meine Mutter genauso zusammenscheißt, wie er es eben mit uns getan hat. Aber er sagt nur: „Wir haben bereits einen Plan.“
„Oh“, bemerkt meine Mutter. „Und da steht kein schauriger Dungeon-Spaß drauf?“
„Steht da nicht drauf.“
„Wer von euch will?“, fragt meine Mutter in die Runde. Die ersten Hände gehen zögernd hoch, aber schon bald melden sich fast alle. „Setzen wir es doch mit drauf.“
Herr Krüger rollt mit den Augen. Vielleicht explodiert er ja jetzt. Meine Mutter himmelt ihn mit ihrem bitte-bitte-bitte-Blick an. Herr Krüger platzt gleich und meine Mutter strahlt wie ein Atomkraftwerk. Herr Krüger verliert. „Aber verdient habt ihr das nicht!“ Damit dürfen wir den Tisch verlassen. Meine Mutter nicht.
„Deine Mutter ist so toll!“ - „Wenigstens etwas, auf das man sich heute freuen kann.“ - „Prima Sache das eben von deiner Mutter.“ Ständig haut mir irgendwer auf die Schulter und lobhudelt meine Mam. Wie aufopfernd sie sich um Celina gekümmert hat, wie sie den Krüger um den Finger wickelt, wie sie das mit der Party gestern organisiert hat, meine Mam, die Superfrau.
Die haben doch keine Ahnung. Die wissen ja nicht, wie es ist, nicht schlafen zu können, weil im Wohnzimmer 'ne Party gefeiert wird, bei der man sich nicht über den Flur aufs Klo traut, weil da seltsame Typen rumhängen.
Oder wenn Besuch da ist, zu dem man als Kind Onkel gesagt hat und den man heute nicht mal mehr nach dem Namen fragt. Und wie sehr man einen dieser Onkel vermissen kann. Hendrik hieß er und ich hatte ihn wirklich gern. Ein Jahr lang kam er uns besuchen, bis er eines Tages einfach wegblieb. „Das verstehst du noch nicht“, war die Standartantwort meiner Mutter auf meine Fragen: „Wo ist er? Warum kommt er nicht mehr?“
Unterwegs sind alle irgendwie ganz scharf darauf, an der Seite meiner Mutter zu laufen. Vor allem die Mädchen, weil „das erste Mal“ meiner Mutter spannender ist als Holocaust und Bundestag.
„Mit deiner Mutter kann man sich so gut unterhalten“, schwärmt Celina. „Man kann sie auch echt alles fragen.“
Ich frage mich, wie Celina sich fühlen würde, wenn es ihre Mutter wäre, die ihr diese Geschichte erzählen würde. Ich meine, wer will schon wissen, was die eigenen Eltern so im Bett treiben? In allen Einzelheiten? Da laufen doch Bilder im Kopf mit, die man nicht will, die sich da einbrennen und man nicht mehr wegbekommt. Ich sehe noch immer den Finger meiner Mutter in einer Spermapfütze und wie sie ihn sich in den Mund schiebt, um es mal zu kosten. Ich sehe, wie sie versucht, irgendeinen riesigen Penis in sich reinzustecken und es nicht gelingt, weil sie viel zu verkrampft ist. Mir hätte ihr Fazit wirklich gereicht. Dass es ihr wehtat. Dass das erste Mal für Frauen eigentlich nie besonders toll ist. Dass man Sex üben muss, wie alles im Leben, bis er irgendwann einfach umwerfend ist.
„Deine Mutter sagt“, redet Celina weiter, „wir können mal eine Ladiesnacht bei euch machen.“
„Was für eine Nacht?“
„Na, die ganzen Mädels aus unserer Klasse schlafen bei euch im Wohnzimmer. Mit Schlafsäcken und Isomatten und so.“
„Ach so“, sage ich und bin irritiert. Noch gestern wäre außer Nina nie jemand auf die Idee gekommen, bei mir übernachten zu wollen. Ich mag die Nächte zu dritt, ich brauch die anderen nicht. Ich glaube nicht, dass es lustiger wird, wenn die dabei sind. Meine Mutter hätte mich ja wenigstens fragen können, bevor sie alle einlädt.
„Wir sollen dich fragen“, sagt jetzt Eileen, „ob es für dich auch okay wäre, wenn wir alle kommen.“
Oh. Okay. Danke Mam. Wenn ich jetzt „nein“, sage, bin ich doch total unten durch. Bisher haben sie mich nur nicht beachtet, mit einem „nein“ würden sie mich hassen.
„Und? Ist es okay?“
„Klar. Wird sicher lustig“, sage ich, während ich Zeige- und Mittelfinger kreuze.
„Du bist echt ganz anders, als ich immer dachte“, sagt Celina und legt ihren Arm um meine Taille. Vielleicht ist es auch gar kein Arm, sondern eine Würgeschlange oder so. Etwas, was man nicht um seine Taille gewickelt wissen will.
In der Warteschlange vor dem Dungeon wird mir mulmig. Ich war noch nie der Held, wenn es um Geisterbahnen oder Spukschlösser auf Rummelplätzen ging. Weiter vorn stehen Finn und Eileen mit Celina und Marek und noch anderen. Sie lachen über irgendwas. Ich mag es gern, wenn Finn lacht. Mir wird gerade bewusst, dass Finn sehr selten lacht, oft sieht man das nicht. Ob das was mit Eileen zu tun hat, frage ich mich und hasse mich sogleich für den Gedanken. Verdränge ihn, indem ich mir einrede, dass Marek Witze erzählt. Ich erschrecke mich irre, als meine Mam mich von hinten anspricht. "Mam!"
"Was?"
"Ich wäre fast gestorben."
"Kommt davon, wenn man so nach vorn starrt. Wer ist es? Marek? Finn? Oder der mit dem Zopf? Ich komme gerade nicht auf seinen Namen."
"Es ist niemand davon."
"Glaube ich nicht."
"Es ist niemand, okay!"
"Wie du meinst." Dabei schmunzelt sie und ich weiß, sie glaubt mir nicht. Sie wird mich beschatten und mit ihren Fragen quälen.
"Gehen wir da zusammen rein?"
"Zusammen mit Nina", sage ich.
Drinnen halte ich mich dicht bei Nina und meiner Mam. Wir kreischen bei jedem Scheiß und lästern über Eileen, die sich bei jedem Pups theatralisch an Finns Brust wirft.
"Pass auf, gleich stirbt die", sagt Mam und beginnt von zehn an runter zu zählen. Aber Eileen stirbt nicht. Sie ist laut und ätzend.
Nach dem Abendbrot macht Finn mit Eileen Schluss. Einfach so, ohne Begründung. Sie liegt in ihrem Bett und weint und wir versuchen sie zu trösten. Das heißt, Celina und Nina versuchen sie zu trösten, mich freut es ja eigentlich. Jetzt kann ich wieder von Finn träumen, ohne dass Eileen uns stört.
Die beiden können Eileen die Frage nach dem „Warum?“ auch nicht beantworten, nur gute Ratschläge geben. Dass er es nicht wert ist. Dass er nicht ihr wahres Wesen erkannt hat. Dass er ein Holzklotz ist.
Aber Finn ist es wert. Finn ist alles wert. Er ist der Einzige, der nicht an meiner Mutter klebt, dem sie egal ist. Er ignoriert sie, wie er es mit den meisten Leuten tut. Jedenfalls die aus unserer Klasse und die Lehrer. Ich verdrücke mich aus dem Zimmer, treffe meine Mutter im Flur, weil sie mir mein Handy zurückgeben wollte.
„Komm Schnecke“, flüstert sie, „wir steigen aufs Dach. Nur wir beide.“
„Okay. Aber wir sagen jemandem Bescheid, bevor wieder ein Suchtrupp losgeschickt wird.“
„Natürlich“, sagt sie und lacht und wuschelt mir durch die Haare. Ich ziehe meinen Kopf weg, bin doch keine fünf mehr. Sie klopft an Herrn Krügers Zimmertür, steckt kurz den Kopf rein, sagt: „Bin mal mit Sophie weg“, nimmt meine Hand und wir steigen die Treppen in die fünfte Etage hinauf. An der Leiter, die an der Wand befestigt ist, hängt ein großes Verbotsschild. Meine Mutter nimmt es ab, legt es auf die Treppenstufen und schaut sich nach mir um: „Hilf mal!“
Als wir auf dem Dach stehen, ist der Ausblick atemberaubend schön. Wir stehen da und drehen uns, gucken in alle Richtungen auf hunderte von Lichtern. Man kann die S-Bahn sehen, sogar den Fernsehturm, die Leute unten auf den Straßen, die Bewohner hinter ihren Fenstern im Haus gegenüber, die Leuchtreklame des Clubs, in dem Herr Krüger gestern nach Finn und Eileen gesucht hat. Die Scheinwerfer der Autos und den Schriftzug des Kinos, so viel und so weit.
Hier oben scheinen oft Leute zu sein. Es stehen fünf Plastikstühle auf dem Dach, eine leere Kiste Bier, Kippen und abgebrannte Wunderkerzen liegen herum. Wir nehmen uns zwei der Stühle und stellen sie nah an die Kante.
„Wie geht es Eileen?“, fragt meine Mutter.
„Beschissen, denk ich.“
„Weiß Finn, dass du ihn magst?“
Ich schaue meine Mutter an, als wäre sie eine Erscheinung. Ein Ufo oder so.
„Wie kommst du darauf?“
„Er ist es, den du ein bisschen zu oft anschaust.“
„Tue ich das?“
„Ich würde denken - ja.“
„Tue ich nicht", sage ich wie ein Ertrinkender, der sich an einen Strohhalm klammert. Meine Mutter geht gar nicht darauf ein: „Und, weiß er es?“
„Was?“
„Dass du ihn magst?“
Wie stellt sie sich das vor? Dass ich zu Finn hingehe und sage: Hey. Und übrigens, ich bin total verknallt in dich. Dass ich ihm Briefchen geschrieben habe, wie in der vierten Klasse, Ja-Nein-Vielleicht?
Ich schüttle den Kopf.
„Du ignorierst ihn auch besonders, wenn er in deiner Nähe ist.“
„Tue ich das?“
„Tust du.“
„Nicht absichtlich.“
„Natürlich nicht.“
Wir schweigen.
„Meinst du, er könnte mich mögen?“, frage ich.
„Keine Ahnung. Mir kommt er ein bisschen so vor, als würde er niemanden besonders mögen. Du übrigens auch, mit Ausnahme von Nina.“
„Bin halt anders wie du.“
„Ich weiß.“
„Mam?“
„Ja?“
„Warum ist Hendrik damals einfach verschwunden?“
Sie schaut mich an, als hätte ich zu ihr gesagt, ich bin schwanger oder sowas.
„Wie kommst du jetzt auf Hendrik?“
„Ich dachte, ich wäre jetzt vielleicht alt genug.“
Sie schaut über die Stadt, bleibt an einem der vielen Lichtpunkte hängen und nickt kaum merklich mit dem Kopf. Dann holt sie tief Luft und erzählt, ohne mich dabei anzusehen, ohne ihren Lichtpunkt aus den Augen zu lassen.
„Sicher bist du alt genug. Aber ich kann dir die Frage noch immer nicht beantworten.“
„Warum nicht?“
„Weil ich es nicht weiß.“
„Du weißt es nicht?“
„Nein.“
„So wie Eileen es von Finn nicht weiß?“
„Ja.“ Sie schaut mich an, legt einen Arm um mich. „Ich habe oft nachgedacht über dieses 'warum', aber nie die Antwort gefunden. An dem letzten Abend, wo er bei uns war, da hat er Schluss gemacht. Gesagt, es ist aus, und dann ist er gegangen. Auf meine Anrufe und Briefe hat er nie reagiert. Wenn wir uns zufällig irgendwo getroffen haben, ist er mir aus dem Weg gegangen. Einmal habe ich ihn gefragt. Habe mich vor ihm hingestellt, meinen Mut zusammengenommen und gefragt: Warum? Er hat nur mit den Schultern gezuckt, hat sich an mir vorbeigeschoben und ist weggegangen. Das war alles, was ich je aus ihm herausbekommen habe. Ein lausiges Schulternzucken.“
„Dann warst gar nicht du diejenige ...“
„Nein. Und es tat weh. Ich habe ihn wirklich geliebt, weißt du. Und weil ich nicht wusste warum, war es schwer damit abzuschließen. Da war immer noch ein Funken Hoffnung. Dass es nur eine Laune oder ein blöder Irrtum war. Eine andere Frau, mit der irgendwann Schluss sein würde und er zurückkommt, weil er doch mich liebt. Aber er kam nie. Es war kein Irrtum. Und ich weiß nicht einmal, wie lange er schon vorher daran gedacht hatte, sich zu trennen. Da blieben so viele Fragen offen. Und wenn da die Antworten fehlen, kann man damit nicht abschließen. Dann ist es nie wirklich vorbei. Das ist das wirklich gemeine daran.“
Ich habe damit zu tun in meinem Kopf aufzuräumen. Meine Mutter unschuldig und Hendrik schuldig zu sprechen. Ich höre nur die Worte, die sie sagt, verstehe es aber nicht wirklich. Ich frage mich, ob sie je wieder einen Mann so gerne hatte wie Hendrik. Ich frag sie.
„Ja, sicher war ich wieder verliebt. Aber anders. Man liebt jeden Mann anders, weißt du. Wegen anderer Dinge, die er tut oder eben nicht tut. Herzklopfen gab es schon noch, nur gemeinsam alt werden, als Rentner zusammen die Enten im Park füttern, das konnte ich mir bis heute nur mit Hendrik vorstellen.“
Ich umarme meine Mam, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Und weil die Mam hier oben so anders ist, als die unten. Und ich frage mich, ob sie deswegen die ganzen Partys gibt, weil sie hofft, Hendrik würde kommen.
Die Luke geht auf und Finn steigt aufs Dach. "Oh. Schon besetzt", sagt er und will wieder zurück.
"Bleib hier", ruft meine Mutter. "Ich wollte sowieso gerade gehen."
Er sieht unentschieden aus. Bleibt auf der Leiter stehen und rührt sich nicht. Meine Mam löst sich von mir und geht auf ihn zu. "Jetzt komm hoch und mach Platz, damit ich runter kann."
Er kommt hoch und sie verschwindet.
"Hey", sage ich.
"Hey", sagt er.
Und dann schweigen wir, wie wir uns immer anschweigen.