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Malintzin
vom östlichen Meer,
zusammen mit weißen, bärtigen Männern
Sie sitzt mit schmerzenden Schultern über Mahlstein und Schüsseln voll Mais gebeugt unter dem Sapotebaum und wischt sich Schweiß von der Stirn. Ihre rissigen Hände bluten. Fremde Männer, die in schwimmenden Häusern von Osten kamen, müssen versorgt werden, während immer mehr Frauen mit Fieber darniederliegen. Als der Aufseher ihr einen Tritt in den Rücken versetzt, knurrt er, sie solle endlich fertig werden.
Der Fremde steht mit finsterer Miene auf dem Hügel, fuchtelt mit den Armen und schreit Befehle. Er ist die Gefiederte Schlange, von der weiten Reise über das Wasser zurück, er ist es wirklich — die helle Haut und der Bart lassen keinen Zweifel! Sie läuft näher und setzt sich schräg hinter einen Säulenkaktus. Seine Stimme tönt rau, weit öffnet er den Mund und verzerrt das Gesicht, um reibende Laute zu produzieren, wie nie zuvor ein Mensch sie gehört hat. Die Muskeln lassen sie erschaudern, gleichzeitig scheint er ihr eigenartig vertraut, als seien sie einander schon begegnet, in einem früheren Leben oder einem Traum.
Dass die Gefiederte Schlange davon spricht, Menschenopfer zu verbieten! Den Gestirnen sei das Blutvergießen gleich, die Sonne ginge jeden Morgen auf, auch ohne dass Priester Tausenden auf der Tempelpyramide das Herz herausschnitten.
Von dreien, die eins seien, erzählt er, und vom Lamm, das sich geopfert habe. Er lässt überall Kreuze errichten und sie will eindringen in das Geheimnis, wie das Blut eines Gottes im Wein schwimmen kann und er nach drei Tagen wieder lebendig wurde.
Die Worte der Gefiederten Schlange werden von einem ehemaligen Schiffbrüchigen mit monotoner Stimme für das Volk übersetzt, aber er kommt von weit her, aus dem Süden und kann sich kaum verständlich machen. Ihre Stirn pocht, das Herz schlägt bis zum Hals, während sie eintaucht in die elegant rollenden Laute des Fremden und sich darauf konzentriert, beide Zungen in sich aufzunehmen und miteinander zu verknüpfen.
Seit ihrer dunkelsten Stunde, als die Mutter sie verkauft hat, wandert sie von Hand zu Hand und verrichtet Arbeiten, die keines wachen Geistes bedürfen, da sie sich ewig wiederholen. Doch in jeder neuen Umgebung hört sie fremde Sprachen und eignet sie sich an. Sie besitzt diese Gabe.
Unten am Fluss haben die Fremden ihr Haar mit Wasser benetzt und für sie eine Zauberformel gesprochen: Drei sind eins. Wann immer sie dort allein ist, beugt sie sich über die spiegelnde Oberfläche und betrachtet ihr Gesicht, während sie mit der Zungenspitze den Wulst hinter ihren oberen Schneidezähnen berührt und die Luft ausstößt zum rollenden R. Den Laut, den sie von der Gefiederten Schlange und seinem Gefolge gelernt hat, gibt es weder hier, noch in dem Land ihrer Kindheit. Als nächstes macht sie den Gaumen eng zum J, dann zum Nj. Wie in Trance übt sie die raffinierten Techniken, den Luftstrom zu unterbrechen.
Ra ra ra!
Je je je!
Njo njo njo!
Es gibt hier nur eine einzige Frau, mit der sie sich in der Sprache ihrer Kindheit verständigen kann. Später, als sie zusammen mit anderen Sklavinnen am Brunnen stehen, über die eimerweise Wasser saufenden Riesentiere der Fremden klagen und ihren eigenen Durst an der Quelle stillen, steht die Gefiederte Schlange plötzlich hinter ihr, so nah, dass sie die Wärme seines Körpers wie ein Erdbeben auf sich spürt und den Geruch nach Leder, dass ihr schwindelig wird. Die Schultern sind breit, die Hände, mit denen er ihr über die Wangen streicht, jedoch ungewöhnlich schmal und weich. In seinem braunen Bart schimmern Silberfäden. Er beugt sich über sie und sieht ihr aus tiefliegenden Augen ins Gesicht. Mit einer knappen Kopfbewegung bedeutet er ihr, sie müsse ihre Sachen holen und mitkommen.
Die Gefiederte Schlange will alles wissen, fragt unermüdlich nach: Wo sind die Goldbergwerke und wer ist der Herrscher in der fernen Stadt im See, dem alle Stämme Tribut zahlen müssen? Wenn sie nicht versteht, hebt er die Brauen, schürzt die Lippen zu einem schmalen Lächeln und formuliert neu, was er verlangt. Während andere sich schwertun, seiner seltsamen Sprache zu folgen, entschlüsselt sie ihn Tag für Tag besser, bewegt Zunge und Lippen immer sicherer und holt Erkundigungen ein für ihn.
Er kleidet sie in kostbare Tücher und schenkt ihr Ketten aus farbig glänzenden Perlen. Nie mehr muss sie gewöhnliche Dienste verrichten, sie darf den Mahlstein zur Seite legen und vergräbt ihn bald tief unter ihren Habseligkeiten. Er gibt ihr auch einen Handspiegel, in dem sie sich betrachten kann, wann immer sie will, und so geht sie nur noch selten runter zum Fluss.
Sie betet, wobei sie die Worte langsam formt und jedes einzeln betont:
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
Du bist gesegnet unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.
Amen.
Je öfter sie dieses Gebet spricht, desto mehr erinnert es sie an die geliebte Maismutter. Auf einmal erscheint ihr der neue Gebieter weniger seltsam. Auch er betet zu Maria.
Mehr an sich selbst gerichtet fügt sie leise hinzu:
Befreie dich und sei das Werkzeug, um die Prophezeiung zu erfüllen!
Sie flüstert ihm zu, was alte Frauen in den Hütten über Rebellion munkeln, und begleitet ihn zu Gesprächen mit Stammesfürsten. Männer, die sie früher keines Blickes würdigten, hängen nun an ihren Lippen wie kleine Kinder. Sie vermittelt ihnen und dem ganzen Volk die Weisungen der Gefiederten Schlange: Er komme im Auftrag des mächtigsten Königs der Erde und ist selbst ein gewaltiger Gott mit seinen Waffen, die Feuer speien und unbesiegbar machen!
Nachts liegt sie allein auf der Matte und lauscht den Zikaden. Jedes Mal wenn sie sich umdreht, klebt das Hemd am Rücken und Schweißperlen kitzeln am Hals. Als sie Sinn und Bedeutung der heute gelernten Lautfolgen in ihrem Kopf sortiert hat, öffnet sie den Mund und beginnt, zu intonieren — geliebte allabendliche Beschäftigung, die ihr Stärke verleiht, und so übertönt sie die Schreie von Verrätern, die draußen ihre gerechte Strafe erfahren. Die Gefiederte Schlange ist ein zorniger Gott.
Sie verteilt den Rest des Duftöls auf ihren verheilten Händen, atmet tief in sich hinein und spürt sich lächeln. Er ist nicht so groß, wie sie ihn all die Jahre erträumte, sondern überragt sie nur um wenige Handbreit. Die Augen, der Bart, seine Art, sich mit Autorität zu bewegen und zu sprechen — Zeichen seiner Göttlichkeit!
Gleichzeitig verhält er sich rätselhaft. Warum nimmt er nur das Gold aus den Tempeln und lässt die Prachtfedern des blauen Quetzal-Vogels zurück? Aber wer ist sie, das zu fragen? Sie steht unter seinem besonderen Schutz, ist ihm Ohr und Zunge. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie das liebe Gesicht vor sich und hört seine melodische Stimme. Oh, wenn er doch jetzt hier bei ihr wäre, wie gerne würde sie ihr Lager teilen!
In der Ferne heult ein Kojote, draußen knirschen Schritte. Sie setzt sich auf und ihr Herz pocht. Käme die Freundin aus dem Land ihrer Kindheit noch so spät? Die Tür öffnet sich langsam und im Halbdunkel erscheint eine breitschultrige Gestalt. Die Gefiederte Schlange kommt näher, kniet neben ihr und presst die Lippen auf sie. Sanft umfasst er ihre Brust.
„Alles gut“, flüstert er. „Alles gut.“
Seine Hände sind überall auf ihr, der Stoff ihres Nachthemdes reißt und sie schmeckt brennendes Agavenwasser, Bohnen und Blut.