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Mahlzeit
Es ist Mittag. Mahlzeit wie man sagt, nicht wahr?
Ich blicke auf die Gabel und auf das was auf ihr liegt.
Und eben dieses lärmt mich an. Heult wie kahl geschorene Kinder es tun würden, wenn man sie nackt in ein kaltes Faß stecken würde, draußen, im Winter.
Dann ist es wieder still. Um ein weiteres Aufheulen zu vermeiden befreie ich die Gabel und halte mir den schweigend Hörer ans Ohr.
Aus der Muschel kommt nicht ein verfluchter Ton und ich denke darüber nach, ob man aus einem gewissen Winkel heraus, die Adern in meinem Auge deutlich sehen könnte, gelblich verziert oder eben nicht.
"Hallo?"
Enttäuschend. So lange hat es jetzt gedauert und alles was aus dieser Wörtermutter tropft ist ein verkümmerter, weinerlicher Wortembryo namens Hallo.
Ich reagiere angemessen.
"Hallo."
"Hallo, ja?"welch süße Nachgeburt. Ich bin begeistert.
Das Gespräch kommt also langsam in Fahrt und ich hoffe es ist ebenso schnell beendet, denn meine Lieblingsserie beginnt in wenigen Minuten.
"Verdammt, wer ist da?" ich weiß nicht ob ich ein geduldiger Mensch bin, wissen sie es von sich?
"Hallo?"
Mal ehrlich, ich nehme jetzt einfach mal an, sie sind ein geduldiger Mensch,
aber würden sie dabei ruhig bleiben können?
Wissen sie, dieses "Hallo" wird nicht einfach ausgesprochen, nicht so, wie sie und ich es wohl aussprechen würden.
Nun gut, könnten sie sagen, ich weiß doch gar nicht wie sie, werter Leser, sprechen, vielleicht haben sie eine Hasenscharte, eine aufgespaltene Zunge, einen S - Fehler, vielleicht würde das bei ihnen ganz ähnlich klingen.
Sie haben ja recht. Und es tut mir leid, daß sie so gehandikapt sind.
Wie ist das passiert und wie gehen sie damit um?
Ich schweife ab, Verzeihung.
Aber selbst wenn sie einen der oben genannten Sprechfehler hätten, wäre es nicht das, wovon ich rede.
Ich wollte ihnen sagen daß ich diese spezielle Sprechweise, dieses krankhaft leise, mit permanent integrierten Jammerton Gesäusel einfach nicht leiden kann.
Kennen sie auch solche Menschen? Menschen die so sprechen?
Egal was diese Menschen auch sagen, es macht mich wahnsinnig.
Ob sie mit ihnen über den Tod ihrer jüngst verstorbenen Mutter sprechen oder ob sie ihnen die Uhrzeit mitteilen. Es klingt beides sehr ergreifend und man bekommt Mitleid mit ihnen.
Mitleid daß sie einem doch tatsächlich die Uhrzeit gesagt haben, nein, haben MUSSTEN!
Oh wie ich es hasse. Und dann diese Schuldgefühle.
Ja, eine solche Sprechart macht Schuldgefühle. Wirklich.
"Reichst du mir mal den Zucker.", ja wenn ich solch einen Satz mit dieser devoten Betonung höre, dann bin ich fertig und versuche dann, natürlich,
Haltung zu bewahren. Dann heißt es stark bleiben. Wer weiß was er damit wirklich meint? Nicht "Reichst du mir mal den Zucker" nein. "ICH HABE KREBS VERDAMMT NOCHMAL!! ERWARTE ZWILLINGE UND DIE SIND NOCH NICHTMAL VON MIR!!! UND DAS ALS MANN!!!! WUSSTEST DU EIGENTLICH DASS ICH AIDS HABE?"
Zumindest klingt es so. Und so ist es auch jetzt.
Habe ich zu grob reagiert? Da haben wir es. Schuldgefühle. Schon sind sie wieder da. Ich weiß nicht wie ich antworten soll. Was könnte ich jetzt, da mir klar ist, daß da nicht einfach jemand "Hallo" sagt, sondern ein trauriges Schicksal sich hinter diesen kleinen, unschuldigen fünf Buchstaben versteckt.
Ein Schicksal, welches ich mit Füßen getreten habe.
Getreten mit meiner unsensiblen Art.
Mit meiner Zunge, welche mich in diesem Moment eher an einen ausgelatschten, stinkenden Gebirgswanderschuh erinnert.
Wie kam ich nur dazu "Verdammt, wer ist da?" zu rufen.
Was bin ich für ein Unmensch. Dieser Mensch, traurig und völlig hilflos und ich, die letzte Chance für dieses Schicksal, reagiere so abweisend. So kalt.
Ich bin ein Monster und beschließe spontan ein besser Mensch zu werden.
"Bist du da, ich bin froh dass du abgenommen hast.
Es ist etwas schreckliches passiert ... das Baby ..."
- es entsteht eine lange, mit kaum hörbaren Schniefgeräuschen untermalte Pause -
"und ich weiß wirklich keinen Rat mehr.
Christopher kam wieder betrunken nach Hause, trat mir in den Magen un-"
Ich lege auf, die Sendung beginnt und ich habe nun echt keine Zeit jemanden den Zucker zu reichen.
Wirklich nicht. Bei aller Liebe.