Mein erstes Problem: Wie weit darf sich eigentlich die künstlerische Freiheit eines Autors von der Realität entfernen? Ab wann wird eine Geschichte, vielleicht nur wegen der Effekthascherei, unglaubwürdig?
Der Prota macht sein Geschäft in einer für ihn viel zu engen Toilettenzelle. Da die Gaststättenordnung in Deutschland genau vorschreibt, wie Toilettenanlagen von den Abmessungen her beschaffen sein müssen […]
Ist das nun künstlerische Freiheit? Oder doch nur Effekthascherei? Oder haben wir nur eine schlampige Recherche vor uns? Eine solche „Kneipe“ hätte in Deutschlands heutiger Realität nicht die geringste Chance auf Konzessionsvergabe!
Also nicht, dass in Wien der Balkan beginnt, wie gerne behauptet wird, oder dass es bei uns nicht so was wie verbindliche behördliche Auflagen für eigentlich eh alles gäbe, aber gerade in Wien hält sich tatsächlich eine nicht unbeträchtliche Anzahl von … äh,
Etablissements, die so augenscheinlich jedem halbwegs vertretbaren Standard Hohn sprechen, dass es echt rätselhaft ist, wie die sich am Leben erhalten können. Als würden sie in einem selbstgeschaffenen und einigermaßen rechtsfreien Paralleluniversum existieren, jenseits all dessen, was man gemeinhin allgemeingültige gesellschaftliche Normen nennt. Keine Ahnung, wie die das machen.
Aber natürlich haben selbst diese Lokale nicht dermaßen winzige Toiletten, wie ich sie beschreibe. Weil ich jedoch ein paar kenne, die echt grenzwertig klein sind, hab ich mir gedacht, was soll’s, ein bisschen darf man das ruhig noch auf die Spitze treiben.
Ja, lass es uns einfach
künstlerische Freiheit nennen, Petriso.
Oder haben wir nur eine schlampige Recherche vor uns?
Nö, das eher nicht.
Tatsächlich gibt’s ums Eck von meiner Werkstatt das
Café Ulli, benannt nach der siebzigjährigen Besitzerin, laut eigenen Angaben
a oide Hua (=ehemalige Prostituierte), die sich damit den Traum vom bürgerlichen Leben verwirklicht hat. Das Lokal ist nicht viel größer als ein 40-Fuß-Container. Und auf der Toilette dort könnte ich, würde ich mich draufsetzen und mich nach vorne beugen, problemlos die Stirn an der Tür abstützen. Also nicht, dass ich’s ausprobieren will.
Nächstes Problem was mir Bauchschmerzen macht:
Verpöntes Mahagonifurnier aus den 70igern? Türen jeglicher Bauweise mit Mahagonifurnier hat heute (2019) jedes seriöse Fachgeschäft und jeder Baumarkt, der was auf sich hält, im Angebot, in Echtholz oder Echtholzfurnier! Womöglich gibt es zwischen Mahagonifurniere aus 1970 und 2019 Unterschiede? Der individuelle Geschmack scheint sich seit den Siebzigern jedenfalls nicht sehr geändert zu haben.
Das Mahagonifurnier hat ja nur die Funktion eines auslösendes Moments. Ist nicht mehr als ein Katalysator gewissermaßen, der die Assoziationen des Mannes in Gang setzt. Das hätte im Grunde auch jeder andere Gegenstand in dieser seit Jahrzehnten nicht mehr renovierten Toilette sein können. Ein Klopapierhalter, ein Fliesenmuster, egal was, irgendein Ding halt, das den Mann an seine Jugend denken lässt. An seine Teenagerjahre in den 70ern, als sein ehrgeiziger Vater ein Haus baut, Traum vom Eigenheim usw., und er, der Sohn, eben jede freie Minute mithelfen muss, malochen für etwas, was ihn null interessiert, daraufhin natürlich die altersgemäße Rebellion usw.
Was ist eigentlich der tragende Inhalt in der Geschichte? Mahagonifurnier als Urwaldvernichter?
Nö, das eher nicht.
Zwar wurde zum Beispiel das Washingtoner Artenschutzabkommen, das unter anderem den Tropenholzimport reglementiert, von Österreich erst im Jahr 1982 ratifiziert - was nichts anderes heißt, als dass bis dahin diverse Tropenhölzer tatsächlich eine obszön billige Alternative zu heimischen Hölzern darstellten – aber nein, das sollte eigentlich
nicht das Thema sein. Vielmehr, dass Mahagoni Anfang der 70er, aufgrund welcher ästhetischen Verirrungen auch immer,
en vogue, schick, trendy, einfach schwer angesagt war. Und der Vater des Mannes deshalb ebensolche Türen offenbar angeschafft hat.
Aber, wie gesagt, im Grunde hätte es irgendwas sein können, was dem Mann den Flashback in die Jugend beschert, ihn an die Nachmittage an der Mischmaschine, ans Ziegelschleppen, ans Wände-Aufmauern usw. denken lässt. Genauso gut hätte er an der Theke der Kneipe stehen, ins Leere starren und dabei irgendein Ding im Flaschenregal wahrnehmen können, irgendein jenseitiges Gesöff oder das Werbeschildchen einer längst in Vergessenheit geratenen Getränkemarke. Oder er starrt ins Leere und hört ein auf der Straße draußen vorbeiknatterndes Moped oder aus dem Hinterzimmer der Kneipe das Klackern von Billardkugeln, und das lässt ihn an die Abende im Florida denken, usw. usw. …
Viele verschiedene, viele mögliche Geschichten … aber für eine musste ich mich halt entscheiden.
Fragmente aus Kindheitserinnerungen? Oder einfach nur wirre Gedankenfetzen eines Alkies? Also, ich weiß es nicht.
Eine Mischung aus beidem vermutlich. Genau weiß ich es natürlich auch nicht, ich weiß ja nicht einmal, ob der Protagonist ein Alki ist. Aber ganz nüchtern ist er an diesem Abend wahrscheinlich nicht, könnte ich mir vorstellen. Immerhin will er nicht mehr selber fahren. Sehr vernünftig, rechtbesehen.
Mein nächstes Problem: So weit ich weiß, zeichnet sich eine »Flash Fiction Story« dadurch aus, dass der Autor mit präzisen Formulierungen sein handwerkliches Können insgesamt dem Leser präsentiert - sozusagen als ganz persönliche schnörkellose Handschrift.
Ich muss ehrlich eingestehen, dass ich mich mit dem Begriff
Flash Fiction (als Genrezuordnung) kein bisschen beschäftigt habe. Der einzige Grund, warum ich den Text in dieser Rubrik gepostet habe, ist seine extreme Kürze. Sorry.
Auch das mehrmalige „Scheißhaus“- Gehabe stört mM mehr den Fluss der Geschichte, weil der Erzähler einfach nicht dicht dran bleibt an der Gülle-Sprache und so dieser hin und wieder verwendete Kraftausdruck für mich Leser nur als lästiger Fremdkörper wahrgenommen wird.
Da muss ich dir vollkommen recht geben. Mit dem Begriff
Scheißhaus bin ich selber nicht restlos glücklich. Und tatsächlich hab ich vor ein paar Tagen in meiner Datei ein paar Alternativen ausprobiert (Klo, Toilette, WC usw.), aber die machten mich auch nicht restlos glücklich.
Erinnert mich ein bisschen an das leidige Thema der Begriffswahl in erotischen Texten. Seien wir uns ehrlich, nach wie vor umgibt für viele Menschen der Stoffwechsel (in all seinen Ausprägungen) genauso wie die Sexualität ein Nimbus von Unanständigkeit, von
Da-spricht-man-nicht-drüber, bzw., wenn man schon nicht umhin kommt, darüber sprechen zu müssen, tut man’s verklausuliert gewissermaßen, und der Sprachduktus, dessen man sich dabei bedient, ist natürlich eine Sache der jeweiligen individuellen Disposition, der Sozialisation, des gesellschaftlichen Umfelds, in dem man sich bewegt usw. Wo sich der eine lieber blumig oder gar infantil ausdrückt, tut’s der andere eher
rustikal.
Der Punkt „Wortwahl“ steht jedenfalls auf meiner Agenda.
Welche Bedeutung hat dieser fiktive chirurgische Schädel-Eingriff hinsichtlich Spannungsgehalt und Fluss der Story?
Na ja, ich würde ihn schlicht als Einleitungsatz, als
ersten Satz eben bezeichnen.
Wer spricht eigentlich? Der allwissende Erzähler?
Also ich selber empfinde das schon eher als ganz gewöhnliche
personale Perspektive.
Oder sogar der Autor selber, der bezüglich „Kill your darlings!“ die Löschtaste übersehen hatte?
Au weh, da tut sich jetzt echt ein weites Feld auf. Haben wir hier im Forum ja auch schon des Öfteren diskutiert, wie sehr man sich als Autor aus seinen Geschichte raushalten sollte.
@jimmysalaryman zum Beipiel ist ein Meister dieses gleichsam
erzählerlosen Erzählens. Ich selber kann das eher nicht so gut. Na ja, eigentlich gar nicht.
Vielleicht bin ich noch nicht lange genug im Forum, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass du mit der Geschichte a la Harpe Kergelings "Der Hurz" einige Kommentatoren ein wenig auf die Schippe nehmen möchtest.
Nö, das eher nicht.

Nein, in Wahrheit überhaupt nicht. Nichts liegt mir ferner, als irgendwen hier verarschen zu wollen. Dafür nehme ich das Forum nun doch zu ernst.
Ich könnte mir allerhöchstens vorwerfen, dass dieses Ding hier wieder einmal ein verdammter Schnellschuss war. Oder nenn’s eine Augenblickslaune. Von den ersten mit Bleistift auf Papier hingefetzen Zeilen bis zur Veröffentlichung vergingen gerade mal vier Stunden. Das mag jetzt furchtbar unseriös wirken, und ja, Asche auf mein Haupt, oder meinetwegen wie eine Missachtung der Forumsintentionen, und im Grunde widerspricht es auch völlig meiner früheren Art zu schreiben - an der Mehrzahl meiner (zugegeben längeren) Geschichten arbeitete ich in der Regel wochen-, wenn nicht gar monatelang. Aber seit drei Jahren befinde ich mich in so einer Art Schreibabstinenz. Einzige Ausnahme waren zwei (sehr kurze) Geschichten Anfang 2016, und die entstanden auf dieselbe Weise wie diese hier: innerhalb von 24 Stunden geschrieben und gepostet. Und dass eine davon, also ich will jetzt nicht den eingebildeten Hund raushängen lassen, aber so war’s nun mal, dann die Wahl Top 2016 gewonnen hat, bestärkt mich in meinem Verdacht, dass meine aktuelle Schreibstrategie vielleicht nicht die allerschlechteste ist.
Lieben Dank, Petriso für deine interessanten Gedanken.
offshore
Sorry, @RinaWu, @bernadette, @Anne49, für mehr langt's heut nimmer.