- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 25
Magie der Skulptur
Das Museum lockte an diesem heissen Sommertag nur wenige Besucher an. Anaïs behagte die Klimatisierung und die Ruhe an diesem Ort. Ausgeprägt war ihr Interesse an bildender Kunst nicht, dennoch waren ihr die Maler der gegenwärtigen Ausstellung weitgehend ein Begriff. Sie war dem Schaffen der Schweizer Maler um die Jahrhundertwende gewidmet, darunter Werke von Augusto Giacometti, Segantini, Rouge, Morach, Klee und Valloton. Ohne rechte Neugierde verweilte sie minutenlang vor manchen der Objekte, die mit unterschiedlichen Stilrichtungen eine Epoche vertraten. Bei Bildern, die ihrer ästhetischen Erwartung entsprachen, erinnerte sie sich meist an weitere Werke der Maler.
Es sind vor allem Farben, die mich ansprechen, wenn sie im Einklang mit Formen eine mir harmonische Komposition bilden. Vielleicht habe ich doch ein wenig von Mamas musischem Geschmack geerbt? Die kleine Sammlung an Impressionisten im Elternhaus mochte sie. Dekorativ und harmonisch fügte sie sich zur Chippendale-Möblierung ein.
Sie wähnte den Rundgang bereits abgeschlossen, als ihr im hinteren Teil des Gebäudes, in einem Zwischengang, eine alte Wendeltreppe auffiel. Zögernd stand sie davor. Ist es der Aufgang zu einem Büro oder zu einer Abstellkammer? Da keine Absperrung angebracht war, stieg sie hoch, der Neugierde folgend. Im turmartigen Obergeschoss befand sich ein Raum, durch schwarze Vorhänge verdunkelt. Eine Skulpturengruppe durch Scheinwerfer beleuchtet in der Mitte. Ihr Atem stockte, Faszination ergriff sie. Unglaublich, wie raffiniert dies inszeniert ist. Wenn sie sich bewegte, erzeugten die Lichtbündel auf den Skulpturen ein Schattenspiel. Die Darstellung gemächlich umkreisend, liess sie das Kunstwerk auf sich einwirken.
In menschlicher Grösse präsentierte es ein Paar. Die Hüften einander zugeneigt ohne sich zu berühren, die Oberkörper nach hinten lehnend, wie in einer Tanzsequenz verharrt. Je länger sie das Paar betrachtete, desto mehr nahm sie Details wahr. Der athletische Körper des Mannes erinnerte sie an Darstellungen aus der griechischen Antike. Die Muskelstränge und Sehnen zeigen vollendet die Spannung, welche sich durch die Körperstellung bedingt. Als würde er sich im nächsten drehen. Die Frau, mit hochgesteckten Haaren, feinen Gliedern und kleinen, festen Brüsten, welche sich aufgrund der Haltung halb nach oben richteten, erschien ihr vertraut. Sie erinnert mich an ein Bildnis der Aphrodite.
Langsam bewegte sie sich vor den Skulpturen, sich auch niederkauernd um neue Perspektiven zu erschliessen, was das Licht- und Schattenspiel auf den Körpern variierend ausreizte. Versuchung kam ihr auf, die Figuren nicht nur zu betrachten, sondern auch zu berühren. Der Gedanke steigerte sich zu unbändigem Verlangen, die einsetzbaren Sinne auszukosten. Die Hand erhebend tippte sie vorsichtig mit den Fingerkuppen an den Körper der Aphrodite. Ein behagliches Gefühl beschlich sie. Kein Alarm, der losröhrte und die Museumsaufsicht in Panik versetzte. Sie liess nun ihre ganze Handfläche über den Stein gleiten, um dann langsam über wohlgeformte Stellen zu streichen. Direkt lustvoll diese Glätte des Marmors. Je länger sie den Stein berührte und den ganzen Körper wie eine Blinde ertastete, verlor er seine Kühle. Vollendet diese Form, fest und zugleich wie leicht nachgebend unter der Berührung. Diese Wahrnehmung überflutete ihre Sinne, sie fühlte sich eins, ja identisch mit Aphrodite.
Das Gesicht ihres Gegenübers wurde plastischer, in seine Augen trat ein dunkler Schimmer, seine Lippen deuteten ein Lächeln an. Sie spürte, wie sich ihre Brust hob und senkte, so tief und stark ging ihr Atem. Die Spannung steigerte sich enorm, nicht mehr nur durch das Gestalterische der Körperhaltungen, das erotisch Anziehende zwischen den beiden Figuren lebte wie eine Aura auf. Ungläubig schaute sie, da die männliche Skulptur aus der Erstarrung zu erwachen schien. An der Muskulatur zeigen sich kaum wahrnehmbare Veränderungen, verursacht durch eine behutsame Bewegung, die ihn erfasste. Der Glanz seiner Pupillen hat sich verstärkt, da er kurz die Augenlider schloss.
Ihm in die Augen schauend, streckte sie ihre Hand der seinen entgegen. Wie Energieübertragung wirkte die Berührung seiner Finger ihr, es zog sie näher zu ihm. Ihr Herzklopfen verstärkte sich, während sie mit der Hand an seinem linken Arm hochfuhr, den kräftigen Körper spürend. Als sie ihre Hand auf seinen Brustkorb legte, fühlte sie einen tiefen Atemzug von ihm, der sich wie ein sanftes Beben auswirkte. Da, wie aus höheren Sphären eindringend, erfüllt sanft ansteigend eine fremde, lyrische Musik den Raum. Mir ist, als ob die Begrenzung von Raum und Zeit sich dehnt, ja aufhebt. Nur er und ich sind noch. Sie begannen sich, in einem Tanz zu wiegen.
Wie lange sie schon traumhaft tanzten, wusste sie nicht, es schien eine Ewigkeit zu sein. Ihre Körper streiften sich, wurden bei einigen Schritten aneinander geschmiegt, strebten auseinander und zogen sich wie magisch wieder an. Seine Bewegungen, seine Hände, jeder seiner Muskeln, die ich spüre, ja sein ganzer Körper, scheinen mir seit jeher vertraut, als ob es nie eine Distanz zwischen uns gegeben hätte. Sie empfand sich unvergleichlich, entrückt dem gewöhnlichen Dasein.
Ein besonders feinfühliges Musikstück hatte eingesetzt, die das sehnsüchtige Spiel ihrer Körper noch mehr herausforderte, sie neue Bewegungen erproben liess, und die Flut an Eindrücken intensivierte. Die gesteigerten Reize liessen ihr Wohlgefühl jubilieren. Berührungen zwischen ihnen traten nicht mehr zufällig auf. Ihre Schenkel strichen aneinander, wenn er sie nach hinten sinken liess, sich über sie beugend. Die Fingerspitzen spielten gezielt auf den Körpern, wie die Körperbewegungen unterstützend. Eine unbezähmbare Erregung stieg in ihr auf, auch bei ihm, mit dem aufstrebenden Phallus an ihrem Körper lockend. Die Musik wurde synchron zu den Bewegungen langsamer, der Sinnesrausch betäubend. In stillem Einklang glitten ihre Körper behutsam zu Boden, die zarten Berührungen und Bewegungen fortsetzend. Die Musik klang nun abgerückt, die Töne dennoch fühlbarer animierend, zu einem Höhepunkt lockend. Über ihnen eröffnete sich ein nächtlicher Himmel, an dem Sternschnuppen ihrer Empfindungen sich kreuzten, um alsdann in ein Feuerwerk überzugehen, das das ganze Firmament zu erleuchten schien. Erschöpft hielten sie sich in den Armen, die Augen geschlossen, um den Genuss und den Nachhall in einem Traum für die Erinnerung einzufangen.
Ein leichter Luftzug, der sie streifte, liess ihr die Wirklichkeit wieder bewusst werden. Oder war es der Ton des Gongs, der in den Räumen des Museums sanft widerhallte?
Eigenartig, die Skulpturengruppe präsentiert sich unverändert. War es einzig meine Sinnesempfindung, die sich in magischer Weise bereicherte, unwirklich und zugleich erfüllend? Sie fasste sich mit der Hand an ihren Halsausschnitt, ihre Haut fühlten sich feucht an, als ob die Sommerhitze hier eingedrungen wäre. Doch das Raumklima war konstant.
Eine Frau der Museumsaufsicht kam die Treppe hoch. «Wir schliessen in drei Minuten. Bitte begeben Sie sich zum Ausgang.»
Noch einmal blickte sie fasziniert auf die Skulpturengruppe, deren Betrachtung ihr eine ungeahnte Dimension des Wahrnehmens eröffnet hatte. Die Scheinwerfer erloschen und eine gewöhnliche Raumbeleuchtung warf nüchtern blasses Licht. Ich muss fantasiert haben, doch die Eindrücke waren mir berauschend schön.
Auf den Ausgang zustrebend, streifte ihr Blick die Wände. Die Dame in Rot auf Vallotons Gemälde schien sie mit einem spöttischen Blick zu verabschieden. An ihr vorbeizukommen, ohne es zu bemerken, war unmöglich. Ist dies eine kleine Bosheit der Kuratorin, die um die Wirkung der Skulpturen auf Betrachter weiss?