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Mach's Gut, großer Vogel
Er wird den Tag nicht überleben, kommen sie, sich zu verabschieden. Ein Blick wechselt den anderen, kurze Zeit später saßen sie im Auto. Sie und ihre Mutter, gelähmt vom Anruf der Ärztin, der Intensivstation.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Eine nicht enden wollende Fahrt lag vor Ihnen. Bäume und Felder zogen vorüber, kein Auto auf der Straße, es war 6 Uhr morgens. In hohem Tempo fuhr ihre Mutter Richtung Krankenhaus. Die Angst zu spät zu kommen kroch unaufhaltsam durch ihre Gedanken.
Gestern war alles noch wie es sein sollte, dachte sie. Fröhlich ging sie ihrer Arbeit im Büro nach, bis sie diese sms von ihrer Mutter erhielt. Mit Helikopter ins Krankenhaus, geht ihm sehr schlecht.
Sie kannte diese Art von Nachrichten schon, aber diesmal war es anders, sie spürte die Panik in den Worten. Ein kurzes Telefonat mit ihrer weinenden Mutter machte die Panik deutlich. Mit zitternden Händen legte sie auf und stürzte aus dem Büro. Ihre Arbeit lag nicht weit von zuhause und den Fahrplan des Zuges, den sie erreichen wollte, kannte sie über die Zeit und den überstürzten Aufbrüchen auswendig. In knapp 2 Stunden fuhr ein Zug.
Zuhause angekommen raffte sie schnell die nötigsten Sachen zusammen, nicht ahnend, dass sie 3 Wochen bei ihrer Mutter verbringen würde. Aufgelöst rief sie ihren Mann an. Wie sie die sms ihrer Mutter kannte, kannte er ihre Anrufe in solchen Momenten, seit Jahren begleitete er sie auf diesem Weg. Auch wenn er wusste, sie würde wie immer allein durch diese Situation gehen, drückte er Kraft und Stärke mit seinen Worten aus.
Sie schaffte den Zug. Unendliche 2 Stunden Fahrt lagen vor ihr. Eine Fahrt ins Ungewisse.
Zeit, in der sie ihren Gedanken freien Lauf lassen musste, und ihren Tränen. Schluchzend saß sie zusammen gekauert auf ihrem Sitz, dass erste Mal an diesem Tag weinte sie. Die Tränen liefen ihr nur so übers Gesicht. Sie konnte nicht aufhören, zu groß war die Angst, eine überwältigende Angst, ihren Vater gehen lassen zu müssen. Sie betete, dass er sie bitte nicht allein lassen soll, sie würde es nicht verkraften.
All die Jahre dachte sie, er solle doch erlöst werden, ja, das dachte sie. Wie oft hatte sie schon diese Fahrt, diese Fahrt ins Ungewisse, sie wollte nicht mehr.
Seit sie klar denken konnte kämpfte sie, 20 Jahre Berg und Talfahrt. Doch jetzt, wo es so nah schien, der Tod so nah ist, sie wollte nicht das er geht. Sie liebte ihren Vater mehr als alles auf der Welt und er musste leiden, immer und immer wieder musste er leiden. Dennoch verlor er nie sein Lachen und seine Freude am Leben, sie bewunderte ihn dafür. Noch vor 6 Wochen tanzte sie zum ersten Mal mit ihm, auf der Silberhochzeit ihrer Eltern. Da wusste sie noch nicht, dass es der erste und der letzte Tanz gewesen sein sollte.
Kurz bevor der Zug sein Ziel erreicht hat, beruhigte sie sich allmählich und warf einen Blick in ihren kleinen Handspiegel. Ein elendiges Gesicht blickte sie an, dennoch dachte sie, jetzt reiß dich zusammen, meine Mutter soll nicht merken wie mies es mir geht, alle Kraft soll allein ihr den Rücken stärken.
Und so stieg sie aus dem Zug. Ihre Mutter wartete bereits auf sie. Sie sah ebenso elendig aus, tiefe Ringe unter den Augen verrieten ihren Zustand. Fest umarmten sie sich, scheinbar eine Ewigkeit.
Und da saß sie nun, nicht mal einen Tag später, diesmal nicht im Zug.
Das Krankenhaus schon in Sicht, sie fühlte sich allein, verdammt allein, wollte dort nicht hinein, wollte sich nicht verabschieden, wollte diesen Weg nicht gehen. Sie hatte sich immer gewünscht, er würde zuhause Tschüss sagen dürfen. Durfte er nicht. Warum sollte man auch auf seinem letzten Weg mit ihm gnädig sein.
Sie wurden schon erwartet, als Sie die Intensivstation betraten. Zogen grüne Krankenhauskittel an, alte Bekannte.
Die Ärztin führte Sie in sein Zimmer. Der Anblick eines Menschen, umhüllt von Schläuchen und geräuschvollen Maschinen schockte sie nicht mehr, auch nicht bei ihrem eigenen Vater, zu oft saß sie so da.
Kein Wort verlierend und sich dieser Situation bewusst, stellt die Ärztin zwei Stühle links und rechts vom Bett auf und lies sie mit ihm allein.
Vollkommen reglos und am Boden zerstört saßen sie dort, an diesem Totenbett, hielten sich an ihm fest. Tränen liefen hinunter. Ihr Magen rebellierte, ihr wurde übel. Ich muss hier raus, dachte sie, nur kurz. Sie schaute ihre Mutter kurz an und verließ den Raum.
An der frischen Luft angekommen, atmete sie tief ein, Kraft sammeln, sonst würde sie es nicht schaffen.
Kurze Zeit später ging sie zurück. Sie vermochte eine kleine Erleichterung auf dem Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, als sie das Zimmer betrat. Leise sagte ihre Mutter: „als du den Raum verlassen hast, hat sein Herz in zerreißenden Sprüngen angefangen zu schlagen.“
Nun nicht mehr. Wieder saß sie auf ihrem Stuhl, hielt sich fest an ihrem Vater, so fest wie nie, Tränen rannten über ihr Gesicht. Er hatte auf sie gewartet. Er wollte nie allein sein, wenn es ihm schlecht ging.
Die Ärztin kam herein, legte ihr behutsam die Hand auf die Schulter, er ist dabei zu gehen.
Tränen überströmt schaute sie nach oben an die Decke, Mach's Gut, großer Vogel, jetzt bist du frei. Nulllinie auf dem Monitor. Sie legte ihren Kopf auf die Schulter ihres Vaters, ihre Mutter auf der anderen Seite. 10:32 Uhr.
Eine Stunde später verließen sie das Krankenhaus. Jetzt war sie für immer allein. Er starb und mit ihm die Liebe in ihr.