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Müll schlucken
Ich spritze über ihrem zarten Gesicht ab. Das Zeug landet in ihren blonden Locken und bleibt auch auf ihrer Wange kleben. Sie stöhnt einfach weiter. Aber wenig lustvoll. Eher gequält. Ich greife nach einem Taschentuch am Schreibtisch. Wische hastig das klebrige Zeug vom Bildschirm und schalte den Computer aus.
Kurz betrachte ich mein Spiegelbild, das auf dem Monitor reflektiert wird und zucke sogleich zusammen. Manchmal, meist nur für ein paar Momente, da vergesse ich völlig, wie ich aussehe. Spiegel existieren in meiner Wohnung keine. Die hab ich schon vor einiger Zeit zerschlagen, entsorgt und mir so womöglich garantiertes Unglück auf Lebenszeit gesichert.
Ich laufe durch meine Wohnung, vorbei an den Müllsäcken im Wohnzimmer und scheuche ein paar Fliegen auf, die nun nervös durch die Luft schwirren. Ich sollte mich beeilen. Die Feier im Lokal beginnt in zehn Minuten und im Moment halte ich noch meinen Schwanz in der Hand.
Das Leben besteht aus einer Reihe großer und kleiner Unfälle. Viel ist vom Schopenhauer bei mir nicht hängen geblieben. Maximal ein paar Zeilen. Aber die hallen dafür bis heute nach. „Aphorismen zur Lebensweisheit“, „Die Welt als Wille und Vorstellung“ und wie sie alle heißen. Der Alte hat sie mich alle lesen lassen. Nach dem Deutschunterricht hat er mich immer zu sich gebeten und mir meine neue Lektüre in die Hand gedrückt. Damals war mir ziemlich wichtig, was er über mich dachte. Deshalb habe ich auch den ganzen geistreichen Quatsch gelesen, den er mir vorgesetzt hat. In der Hoffnung, ihm zu gefallen. Küchenpsychologisch könnte man auch sagen: Er war so etwas wie eine Vaterfigur für mich.
Die Kellnerin bewegt sich rasch von Tisch zu Tisch, setzt dabei stets ein freundliches Lächeln auf. Sie ist stark geschminkt und hat langes, schwarzes Haar. Wie die meisten anderen Männer werfe auch ich ein paar verstohlene Blicke auf ihren Arsch.
„Du bist so still heute. Hast du überhaupt schon dein Essen angerührt?“
Ich hasse diesen Smalltalk-Mist. Diese aufgesetzte Fürsorge. Ganz im Ernst: Ob der Fraß nun in der Toilette landet oder ich ihn widerwillig runterschlucke – der Unterschied fällt nicht allzu groß aus. Letztendlich mündet doch alles im selben Kanal. Genauso wie jedes Wort, jeder Satz in derselben Bedeutungslosigkeit verpufft. Weil sich jeder von denen nur für sich selbst und sein vermeintlich geistreiches Geschwafel interessiert. Ja, ich höre, wie sie labern und diskutieren. Über Putin und Trump, über dies und das. Akademische Giftspucker. Bürgerliches Gesindel. Was hätte ich da schon Sinnvolles beizutragen? Die ertragen es doch nicht, eine Sekunde die Schnauze zu halten. Zu groß und zu beängstigend wäre wohl die Leere, der sie dann ausgesetzt wären. Müssen zu allem und jedem eine Meinung haben. Als würde es irgendjemanden interessieren.
Ich kippe meinen Spritzwein hastig herunter, stehe auf und gehe zu den Toiletten.
Als ich gerade auf die Innenseite der Kabinentüre abspritze, muss ich wieder an den Alten denken. An den Tag, als ich ihm eines meiner Gedichte zeigte, die ich stets hinter verschlossener Zimmertür verfasste und von denen nicht einmal meine Mutter etwas ahnte.
„Das hast wirklich du geschrieben?“
Er zog damals ungläubig die Augenbraue hoch. Ich kratzte bloß nervös an meiner Fingerkuppe herum, den Blick zu Boden gerichtet. Konnte dem Alten vor Verlegenheit kaum in die Augen sehen. Später sagte er, er würde in mir sein junges Ich wiedererkennen. Seine E-Mail-Adresse schrieb er auf ein kleines Stück Papier. Von da an ließ ich ihm meine Texte zukommen, wann immer ich den Mut dazu aufbringen konnte. Er las sie und antwortete stets mit einigen gewissenhaft formulierten Eindrücken und Anregungen. So lief das eine Weile. Und ich konnte ihn wirklich gut leiden. Bis er mich eines Tages zu sich nach Hause einlud. Er würde gerne ein paar meiner Aufsätze genauer besprechen, hatte er gemeint. Als ich bei ihm auftauchte, herrschte dann plötzlich eine ziemlich merkwürdige Stimmung. Er bot mir ein Glas Wein an und sagte, ich solle mich zu ihm setzen. Von Aufsätzen war auf einmal keine Rede mehr. Stattdessen führte er langwierige, philosophische Monologe darüber, wie wir als Menschen doch bloß so selten die Chance bekämen, unsere wahren Begierden nach außen zu tragen. Dass es so etwas wie eine Oase geben müsste, wo man sein verborgenes Inneres gänzlich entfalten könnte. All den Frust, die Scham, die Sehnsüchte und die abgründigsten Fantasien freilassen könnte.
Ich versuche an etwas anderes zu denken. An die hübsche Kellnerin mit dem geilen Arsch in der engen Hose. Doch vor meinem inneren Auge blitzt immer wieder der Alte auf und wie die dicke Beule in seiner Hose immer weiter anschwillt. Wie er meinen Oberschenkel begrapscht und mir dabei tief in die Augen blickt. Ich kriege ihn einfach nicht aus meinem Kopf.
Es ist schon spät und die meisten sind bereits ziemlich angetrunken. Einige klopfen mir auf die Schulter und quatschen mich an, als ob wir eine so tolle Zeit zusammen verbracht hätten. Ich kippe den vielleicht fünften Spritzer herunter und lasse mir das Essen für zu Hause einpacken.
Draußen ist es kalt, ein starker Windstoß schlägt gegen mein Gesicht, also setze ich die Kapuze auf. Ich schmeiße das Essen in eine Mülltonne und gehe Richtung Busstation. In einigen Pfützen am Boden erkenne ich mein Spiegelbild. Ich trete unachtsam hinein und beschleunige mein Gehtempo. Ich versuche, all die hämmernden und dröhnenden Gedanken abzuschütteln. Den Alten in seinem hässlichen Rollkragenpullover. Die wertenden und mitleidigen Blicke im Restaurant. Letztendlich ist es doch nur eine weitere Nacht, die an mir vorbeirauscht. Einer von vielen Tiefschlägen innerhalb einer Reihe von beschissenen und weniger beschissenen Phasen. Also warum sollte mich überhaupt irgendetwas davon kümmern?
Alles, was ich ab diesem Moment noch wahrnehme, ist der grässliche Wind, der gegen mein Gesicht bläst. Und die eisige Kälte, die ich auch noch morgen auf der Haut spüren werde.