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Männer der Ordnung
Der Wachtmeister löste Feddersens Handschellen und verriegelte die Tür des Abteils hinter sich.
Hauptkommissar Möller war mit dem Gefangenen allein.
Der alte Mann im grauen Anzug kam ihm vage bekannt vor.
Kein Wunder, die Nazi-Bürokraten ähnelten sich in Möllers Augen wie Brüder: graugesichtige, vertrocknete Greise.
„Drei Minuten.“ Feddersen deutete auf die Uhr draußen am Bahnhofsgebäude, wo eine Gruppe langhaariger Männer und Frauen in bunter Kleidung Transparente hoch hielten.
Schräge Gitarrenmusik drang in das Abteil.
„Wie bitte?“ Möller nestelte an seiner Krawatte, trotz der winterlichen Temperatur brach ihm der Schweiß aus.
„Der Zug hat bereits drei Minuten Verspätung.“ Auf Feddersens schmaler Stirn zuckte ein Muskel. „Unerhört.“
„Glauben Sie nicht, dass Sie jetzt andere Probleme haben? Spätestens, wenn ich Sie in drei Stunden den Israelis übergebe.“
Feddersen faltete die Hände im Schoß. „Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen. Gar nichts.“
Möller zog den Krawattenknoten straff. „Diesen Satz kann ich nicht mehr hören. Jeder von euch kommt damit um die Ecke.
Unschuldig? Ein Menschenleben zählt nicht, oder was?“
„Die Dinge müssen in Bewegung gehalten werden, Herr Kommissar. Das hat nichts mit Sentimentalitäten zu tun.“
Der Zug fuhr ruckelnd an. Die Langhaarigen und ihre ausländische Musik verschwanden aus dem Blickfeld.
„Hauptkommissar. Abgesehen davon, wir werden weiter marschieren. So hieß es doch. Und die Scherben können andere …“ Möller wurde laut.
„Wo waren Sie denn? Damals.“ Feddersen zog die Brauen hoch.
„Die Dinge!“ Möller schlug mit der Faust auf die Sitzpolster. „Euch interessieren nur die Dinge. Menschen sind unwichtig. Leid und Sterben, auch unwichtig.“
„Waren Sie im Widerstand? Oder im Ausland?“
Möller lockerte die Krawatte und holte tief Luft.
„Ach so ist das, Herr Obersturmbannführer. Jetzt wird versucht, den Spieß umzudrehen.“
„Konversation. Eine einfache Frage.“
„Euch geht es an den Kragen, nicht mir. Ist das klar?“
Feddersen lächelte und schlug lässig die Beine übereinander.
„Schätze, Sie sind kurz vor der Pensionierung. Sie müssten damals schon gut Vierzig gewesen sein.“
Möller verschränkte die Arme vor der Brust und blickte zum Fenster hinaus. Schneematsch und die trostlose Weite der norddeutschen Tiefebene.
„Da waren Sie schon Kommissar“, fuhr Feddersen fort. „Sie sehen aus wie ein tüchtiger Beamter. Liege ich richtig?“
Möller blickte ihn nicht an. „Die Unterhaltung ist beendet.“
Feddersen ließ die Fingergelenke krachen, langsam, einen Finger nach dem anderen. Die Nackenhaare des Beamten richteten sich auf. Er hasste dieses Geräusch.
Feddersen brach das Schweigen. „Der Akzent deutet auf Thüringen hin. Die Zahlen von dort waren immer in Ordnung.“
Möller schüttelte sich. „Zahlen?“
„Es gab fest gesetzte Pflichtverhaftungen, Zielvorgaben im Rahmen der Arisierung. Erinnern Sie sich?“
Möller kniff die Lippen zusammen. Er schwieg.
Feddersen lächelte. „Die Kriminalpolizei war uns immer behilflich. Der Landkreis Treufels war beispielsweise dank engagierter Polizeiarbeit bereits im März 1939 judenfrei.“
Möller zuckte bei der Erwähnung seines Heimatortes zusammen.
„Worauf wollen Sie hinaus, Feddersen?“
„Wir sitzen in einem Boot, Herr Hauptkommissar. Das sollten Sie verstehen. Heute liefern Sie mich diesen Juden aus, morgen stehen Sie vielleicht selbst vor Gericht. Halten Sie das für Gerechtigkeit? Wir haben beide nur unsere Pflicht getan.“ Feddersen lehnte sich zurück.
Möller strich Staub von seinem Jackett. Er holte tief Luft.
„Hören Sie, was immer ich getan habe, geschah unter Zwang. Leute wie Sie haben meine Familie bedroht. Wenn ich mich geweigert hätte, wären meine Töchter ins Lager gewandert.“
„Ach so, Sie sind ein Opfer des Regimes.“ Feddersen lachte humorlos. „Sie haben sich für Ihre Kinder geopfert?“
Der Zug bremste ab und passierte einen kleinen Bahnhof.
Langhaarige mit Plakaten säumten den Bahnsteig, einige der Jugendlichen zogen die Hosen bis zu den Knien herunter und präsentierten den Vorbeifahrenden ihre nackten Hinterbacken.
„Sind Ihre Töchter heute auch so unterwegs? Beachtlich, was sich in diesem Lande verbessert haben soll, nicht wahr?“
Möllers Gesicht lief tiefrot an. Der Beamte griff nach dem Hemdkragen des Gefangenen und zog ihn vom Sitz.
„Sie dreckiges Nazischwein. Meine Kinder gehen Sie einen …“
„Die Mädchen sind mit von der Partie, richtig?“ Feddersens Gesicht, dicht vor dem des Kommissars, zeigte keine Regung. „Langhaarige, sexuell befreit und entfremdet. So sieht die neue Republik aus. Habe ich recht, Herr Hauptkommissar?“
Möller ließ von dem Mann ab. „Haben Sie Kinder?“
„Leider nein. Das heißt, wenn ich sehe, wie unsere Jugend moralisch verkommt, ist es vielleicht ein Glück.“
„Also, was wissen Sie schon. Halten Sie einfach den Mund.“
„Nein. Begreifen Sie, Männer wie wir haben damals für Ordnung gesorgt. Und wenn wir es heute nicht tun, wird dieses ganze Land den Bach runtergehen. Das meine ich mit die Dinge am Laufen halten.“
Möller zog den Knoten seiner Krawatte enger. „Und?“
„Sie können verhindern, dass aufrechte Männer den Juden ausgeliefert werden. Wir Männer der Ordnung müssen zusammenstehen, Möller. Denken Sie an Ihre Kinder.“
Der Kommissar kniff die Augen zu. Er seufzte schwer.
„Wissen Sie, das hat man mir damals auch gesagt.“
„Und es war richtig. Ohne Gesetz und Ordnung gehen wir unter.“ Feddersen saß nun so aufrecht, dass Möller im Geiste die dunkle SS-Uniform am Körper des alten Mannes sehen konnte.
Möller löste mit einem Ruck die Krawatte und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts.
„Sie haben recht, Herr Feddersen, die Ordnung muss bewahrt werden.“
Der Gefangene nickte. „Sie haben also verstanden?“
„Das habe ich. Gesetz und Ordnung. Darum geht es Ihnen.“
Möller lehnte sich zurück und faltete die Hände im Nacken.
Er legte seine Füße neben Feddersen auf die gepolsterte Sitzbank. Der Gefangene starrte die staubigen Schuhe des Kommissars an. „Was machen Sie denn jetzt?“
„Ich folge Ihrem Rat, Herr Obersturmbannführer. Sie bekommen Gesetz und Ordnung. Tja, ich erfülle nur meine Pflicht.“