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Mächtige - Selfie
Der Maître Jules bemerkte ihn sofort, den eleganten Mann mit den kurzgeschnittenen weißen Haaren und dem dunkelblauen, auf Figur geschnittenen Maßanzug. Feinstes Tuch mit einer besonders intensiven Farbtönung umhüllte ihn, und ein kaum merkbarer Ansatz von Fülle wölbte das Sakko. Zusammen mit einigen Männern als Entourage betrat er das Sternerestaurant des Hotels, wartete mit kerzengerade Haltung, ruhelos umherirrenden Augen und Armen, für ausholende Gesten gemacht. Er stand bloß da. Seine Begleiter verschwanden hinter ihm. Sie glichen sich in ihren Frisuren und waren alle noch jung.
Jules prüfte den Sitz seiner Hose. Zupfte hier, zog da und strich sich über das Hemd, um auch kleinste Staubkörner zu entfernen. Dann näherte er sich der Gruppe um den Mann. Auf dem Gesicht ein verbindliches, weiches Lächeln. Perfekt. Ehrlich, aufrichtig, empathisch.
Martin Kohn war Stammgast. Ein aufstrebender Politiker, Hamburger, Unternehmer und mit einer der reichsten Frauen des Landes verheiratet.
„Herr Kohn, ich freue mich, sie heute Abend zu begrüßen. Darf ich einen Tisch für Sie auswählen?“
Kraftvoller Handschlag zwischen den beiden, zugewandt, als wären sie alte Freunde.
„Selbstverständlich, Jules. Ich gebe mich vollständig in Ihre Hände.“
Der Blick des Maître wanderte durch den Speisesaal. Sorgfältig gedeckte Tische mit mehreren Lagen blütenweißen Damasts. Draußen zeiget sich die Sonne eines lieblichen Frühlingstags, im Speisesaal spiegelte sich das Licht der Kronleuchter auf dem Besteck und Kristall, das auf den Tischen verteilt war.
Nur wenige Gäste bevölkerten am frühen Abend das Restaurant, ältere Damen und Herren, die distinguiert aneinander vorbei starrten. Weinflaschen und bunte Vorspeisen standen auf den Tischen. Jules dachte über den richtigen Platz für die Gruppe um Herrn Kohn nach. Der Tisch an der Fensterfront mit Blick auf die Kathedrale und die Blüten der Kirschbäume? Besser nicht. Asiatische Geschäftsleute saßen zwei Tische daneben, tranken Chateau Petrus und unterhielten sich laut und gestenreich. Der Maître entschied sich für den Platz in der Ecke, ein diskreter Ort, abgedunkelt, für Liebespaare oder Prominente geeignet. Die Männer folgten ihm durch den Saal.
„Gefällt Ihnen der Platz, Herr Kohn?“
„Perfekt, Jules. Perfekt.“
Martin Kohn setzte sich so, dass er den Saal überblicken konnte. Ihm entging das Pärchen ein paar Meter entfernt nicht. Der Junge war blond, sportlich, muskulös, die schwarzen Haare des Mädchens glänzten und schimmerten im Licht der Kerzen und Leuchter blau. Sie waren gekleidet, als wäre es ein Rendezvous, das ihnen wichtig war. Das Mädchen trug ein kurzes schwarzes, eng geschnittenes Abendkleid. Selbst im Sitzen war ihr runder Hintern deutlich erkennbar. Die größte Aufmerksamkeit aber erregte ihr Dekolleté, üppig, quellend, vermutlich sorgfältig in Form gebracht. Kohns Augen schwelgten in dem Anblick, weil er sich an seine eigenen hoffnungsvollen Rendezvous erinnerte. Die Erwartung war das Schönste. Er starrte auf sie, während die anderen auf ihn einredeten. Der junge Mann dachte darüber nach, woher er den Weißhaarigen kannte und beschloss, stolz darauf zu sein, Bewunderung hervorzurufen.
Jules kam an den Tisch zurück, Speisekarten in der Hand. Die Weinkarte gab er Herrn Kohn.
„Meine Empfehlung ist unser Gourmet-Menü. Hummer mit Fenchel und Blutorange oder Rehrücken mit Macadamia, Rotkohlpüree und Rosenkohl als Hauptgang.“
„Nehmen wir, Jules. Für alle.“
„Chateau Latour? Wir haben noch ein paar Flaschen 2000er.“
„Sehr gerne.“
Essen mit angeregtem Geplauder über die anstehende Wahlkampagne, die Chancen. Risiken. So was. Am liebsten hörte er den Klang der Wörter, die sein eigener Mund formte, die Stimme, die seinen Bauch vibrieren ließ. Die Männer am Tisch gaben ihm Stichworte.
„Wir konzentrieren uns auf die Zunahme der Sympathiewerte. Wenn es sich lohnt, mache ich eine Home-Story. Ich, meine Frau, die Kinder. In der Villa in Saint-Tropez am Pool. Oder in der Stadtwohnung an der Alster, das ist urbaner. Finden Sie bitte raus, was besser ist.“
„Ich stehe für klare Kante. Wer sich als Deutscher erweist und sich an die Regeln hält, kann hierbleiben. Egal welche Religion. Juden, Moslems und das andere Zeug. Ja, klar, das sagen wir nicht so.“
„Ich habe immer schon eine tolerante, liberale Haltung eingenommen. Gesetzesbruch muss hart gemaßregelt werden, um Zeichen zu setzen. Besser, oder?“
„Für die Frauenquote bin ich auf jeden Fall. Das müssen wir deutlich sagen. Da können sich die Weiber austoben. Und wir müssen auf das Journalistenpack und die Intellektuellen aufpassen. Na ja, sie wissen schon.“
„Lächeln klappt bei mir gut, die Frauen stehen auf mich. Die jungen und besonders die alten.“
„Übrigens, haben sie den Abgang von diesem Wein bemerkt. Phänomenal. Wie der im Mund bleibt. Das überwältigt einen richtig. Der schmeckt wie ein Mann, der sich nimmt, was er will. Chateau Latour war und ist mein Lieblingswein. Nicht so verweichlichtes Zeug, das süßlich und mit einer Menge Duftnoten daherkommt. Ich hasse zum Beispiel Mouton-Rothschild. Da kleben Künstleretiketten auf der Flasche. Das sagt alles.“
„Der Maître hier, der versteht was vom Geschäft. Diskret. Wie zart das Fleisch ist. Wie ein unschuldiges Mädchen. Exquisit, wie es sein sollte. Ich bestelle eine zweite Flasche. Hinreißend, wie der den Mund füllt.“
„Wahnsinnig schokoladig die Mousse. Ich liebe es, wenn’s nicht so zuckrig ist. Noch einen Mokka und anschließend werde ich herrlich schlafen. Die haben geschmackvolle Zimmer hier, antike Möbel und Kronleuchter. Fühle mich hier wie daheim. Wo übernachten sie eigentlich?“
„Meine Herren. Ich muss ins Bett. Wann kann ich mit ihrem Konzept rechnen?“
„Ende der Woche? Einverstanden.“
Das junge Pärchen war gegangen. Herr Kohn hatte noch einen langen, verträumten Blick auf die Kleine geworfen. Der Saal war mittlerweile voll geworden. Der Lärm der Stimmen flog über Gläser und Teller hinweg. Die leise Musik verhauchte darin. Die Stimmung war anregend und frisch wie ein Samstagabend in einem noblen Hotelrestaurant sein sollte.
Jules schwitzte nie, nur die roten Backen verrieten, dass er ohne Unterlass von Tisch zu Tisch eilte, lächelnd und beflissen. Sein Lieblingsgast verlangte die Rechnung. Er federte zum Tisch. Alles wurde leichter. Nicht weil er nach einem hohen Trinkgeld gierte. Nein, er mochte diesen Mann aufrichtig und glaubte an dessen Parolen. Nur mit seinen Vorstellungen zum Umgang mit den Fremden war er nicht einverstanden, zumindest nicht mit dem, was er in der Öffentlichkeit verkündete.
Jeder macht seinen Job und muss die richtigen Worte und Verhaltensweisen kennen. Zum Beispiel gegenüber Gästen, die sich nicht benehmen konnten, die ihn und seine Kollegen abkanzelten, sich über Kleinigkeiten beschwerten und nicht einmal ein anständiges Trinkgeld gaben. Herr Kohn war da anders. Alter Schlag, korrekt, freundlich, großzügig, bei ihm war der Diener ein Mensch. Nicht, dass er sich gleichwertig fühlte. Jules wusste, dass es einen Unterschied gab, ja geben musste. Die Entourage glotzte in die Luft, als er zum Tisch kam, als wäre er nicht existent. Das Gespräch erlosch augenblicklich. Sie hatten glasige Augen, während der Weißhaarige ihn anlächelte.
„Jules, das war wieder ein ausgezeichnetes Essen. Und der Wein erst. Die Rechnung bitte auf das Zimmer. Hier, das ist für sie.“
Ein gefalteter grüner Schein. Der Diener verbeugte sich.
„Vielen Dank, Monsieur. Das wäre nicht nötig gewesen.“
„Doch. Jeder soll bekommen, was ihm zusteht. Das ist das Wichtigste.“
„Eine angenehme Nacht für Sie, Herr Kohn. Ich werde ihnen noch ein kleine Aufmerksamkeit zukommen lassen, damit sie besser einschlafen.“
„Ah, nicht nötig, Jules.“
Der Maître schwebte vom Tisch weg, während Herr Kohn mit der Entourage aufbrach, ihre Hände schüttelte und sie in die Nacht entließ. Auch die anderen Gäste erkannten, wer da mit ihnen im selben Saal war. Verstohlen warfen sie ihm Blicke hinterher, dennoch sprach ihn keiner an, vielleicht, weil der bullige Leibwächter zu ihm getreten war, der am anderen Ende des Raums still sein Ragout verschlungen hatte. Auf dem Weg zu den Zimmern blieb er nahe bei seinem Schützling. Als wolle der glatzköpfige Mann mit den abstehenden Ohren Herrn Kohn verhaften. Ihre Schritte wurden vom Teppich verschluckt. Der bullige Mann und Kohn sprachen nicht miteinander, weder im Aufzug noch während der Durchsuchung der Suite, bevor der Weißhaarige sie betrat. Das Himmelbett mit dem seidenbespannten Baldachin, war richtig einladend. Voller Wärme und Behaglichkeit, wahrscheinlich wegen diesem gedämpften Licht und der klinischen Sauberkeit. Herr Kohn roch an den Blumen, die auf dem Tisch standen. Weiße Rosen, die an einen Sommerabend in der Provence, an Blumen und Kräuter erinnerten. Bestimmt gab es irgendwo versteckt Düsen zur zusätzlichen Beduftung. Er schickte den Wächter weg, der in einem kleinen Zimmerchen neben der Suite untergebracht war. Die Tür fiel mit einem satten Klacken zu.
Endlich war er allein und konnte die Jacke ablegen und die die Krawatte lösen. Trotz des Weines war die Anspannung geblieben. Eine laue Luft strömte ihm entgegen, als er das Fenster öffnete und den Kopf eine Weile zum Himmel streckte. Der Mond war sichtbar. Nur wenig Dunst davor. Die restliche Müdigkeit verschwand und er holte Tablet und Smartphone aus der Tasche, um Nachrichten zu prüfen und die eine oder andere Mail zu schreiben.
„Wunderbares Essen am Abend und dazu Chateau Latour. So lässt es sich leben. Etwas müde und bald im Bett. Ich denke an dich und liebe dich. Mxxx,“ schrieb er an seine Frau. Zwei blaue Häkchen. Sie hat die Nachricht erhalten und gelesen. Keine Antwort.
Pflichterfüllung, ebenso wie die Mails an die Parteifreunde, die er noch abschickte. Er schrieb, dachte nach und vergaß die Zeit.
Unterdessen war Luisa zu ihm unterwegs. Das Mädchen war zwanzig Jahre alt und stolz darauf, gleich bei ihrem ersten Job in solch einem erstklassigen Hotel zu arbeiten. Ihr Onkel Jules protegierte sie.
„Du klopfst einfach an. Bevor Kohn aufmacht, fängst du an zu lächeln. Das bekommst du hin. Denk an was Schönes. Sobald die Tür aufgeht, eine kleine Verbeugung, mehr ein Nicken. Dann sagst du: ‚Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses.‘ Mehr nicht. Er wird sich auf jeden Fall freuen. Vielleicht bekommst du ein Trinkgeld. Schaffst du das, Luisa?“, sagte ihr Onkel zu ihr.
„Kein Ding, krieg ich hin.“
In der Hand hielt Luisa eine Flasche Chateau Margaux. Kohn war der zweite Prominente, den sie aus der Nähe sehen würde, aber der erste, dem sie gegenüber stünde. Der erste war Justin Bieber, dessen Hinterkopf sie in der Menge gesehen hatte, als sie nach einem Konzert mit ihrer Freundin zwischen all den anderen stundenlang am Künstlerausgang gewartet hatte Sie war etwas aufgeregt, als sie den Fahrstuhl bestieg, holte ihr Smartphone aus der Tasche und machte ein Foto von der Weinflasche.
„Die bringe ich gleich zu dem Kohn. Du weißt schon, der Politiker. Der ist bei uns im Hotel.“
Auf die Antwort musste sie nicht lange warten.
„Haha, Das ist ein Pic von ner Flasche. Kann jeder machen.“
„Ne, echt.“
„Mach ein Selfie mit ihm.“
„Mm. Klar. Warum nicht.“
„Du meinst den Weißhaarigen, der immer im Fernsehen ist?“
„Ja, den.“
„Mach das mit dem Selfie, okay?“
„Äh, muss jetzt los.“
Luisa war längst im richtigen Stockwerk und durchquerte den Flur. Die Suite war am Ende des Gangs. Vor einigen Stunden war sie hier, um die Blumen im Zimmer zu arrangieren. Ein ganzer Strauß in hellstem, klarstem Weiß. Sie versenkte ihre Nase tief darin, weil sie sich an den Duft erinnern wollte, wie an einen Traum aus einer Zeit, in der sich alles veränderte.
In einem der Spiegel, die an den Wänden hingen, prüfte sie, wie ihre Uniform saß. Ein langer Blick. Sie war zu dünn, zu wenig Busen, zu feines, blondes Haar, das sie zusammen band und zu einem Zopf flocht. Seit sie im Hotel arbeitete musste sie sich daran gewöhnen Rock und Bluse zu tragen. Luisa war schmal und dünn, Kleidergröße 36, und selbst das war etwas zu weit. Sie schwitzte in den Strumpfhosen, die als Dresscode vorgeschrieben waren, auch wenn es warm war. Darunter trug sie zarte Unterwäsche, durchsichtig und winzig. Einen Freund, für den sie sexy sein könnte, hatte sie nicht.
Auf dem Weg über den Flur begann sie zu lächeln. Sie schnaufte durch und klopfte an die Tür. Gedämpfte Schritte, ein Ratschen des Schlosses. Dann stand er vor ihr, der Weißhaarige. In Socken, mit einem glänzend weißen Hemd, das ihm mit geöffneten Knöpfen aus der Hose hing. Sie musste an ihm hochschauen. Er war größer als im Fernsehen. Graue Augen musterten sie scharf. Sein Mund öffnete sich und er formte ein Lächeln. Die Lippen waren schmal, die obere ragte über und war voller. Etwas Dynamisches, Optimistisches ging von ihm aus, warum wusste sie nicht. Vielleicht wegen des Blicks oder der Körperspannung, die kerzengerade wie ein Baum vor ihr stehen ließ. Sie hielt Augenkontakt, als sie den eingeübten Spruch aufsagte und ihm dabei das Fläschchen Wein entgegenstreckte. Es entstand ein Moment der Stille. Luisa wollte gerade kehrt machen, aber der Weißhaarige stand weiter da und sie erinnerte sich an das Selfie.
„Herr Kohn. Darf ich sie noch was fragen?“
„Sicher. Na klar. Raus damit.“
„Entschuldigung, wenn es Ihnen nichts ausmacht, darf ich ein Selfie zusammen mit ihnen machen?“
„Ah, ich weiß. Ist gerade in Mode. Willst du dann deinen Freunden zeigen und irgendwo posten, was? Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin die Luisa.“
„Komm rein zu mir.“
Die Rosen waren in ein dämmriges Licht getaucht, der Foulard, mit rötlichen Pflanzenornamenten versehen, lag neben dem Bett, auf das sich Herr Kohn setzte und den Rücken durchdrückte. Die Weinflasche nahm er ihr ab und stellte sie auf ein Tischchen daneben.
„Setz dich zu mir. Luisa.“
Sie zögerte keinen Augenblick, während die schummrige Beleuchtung sein Gesicht im Halbdunkel versteckte. Oder von den grauen Augen, die sie unaufhörlich anstarrten. Oder der Stimme, die warm und wie ein selbstverständlicher Befehl klang. Luisa war klein neben ihm.
Schließlich zog sie das Smartphone aus der Jackentasche. Ganz nahe bei ihm. Die Schenkel berührten sich. Sie spürte seine angespannten Muskeln, während ihre Fingerkuppen über das Glas strichen, die Kamera einstellten und sie den Arm mit dem Gerät in der Hand ausstreckte. Auf dem Display waren sie und Herr Kohn zu sehen, er mit diesem ungeheuerlich selbstsicheren Grinsen. Die zarte Haut ihrer Wangen nur eine Winzigkeit von seiner entfernt. Er legte den Arm um sie und zog sie näher an sich. Sie sah es auf dem Bildschirm. Die Bartstoppeln rieben sich an ihrer Haut. Luisa drückte auf den Auslöser.
„So, Kleine. Und jetzt trinken wir zusammen den Wein.“
Kohn umfasste ihren Kopf mit beiden Händen, seine Lippen berührten ihre Stirn, die Haare kitzelten an ihren Ohren, er streifte das Hemd ab und kramte zitternd ein Schweizer Messer aus der Laptoptasche, um die Flasche zu öffnen. Im Kristall spiegelten sich ihre Gesichter. Luisa blieb einfach regungslos sitzen.
„Das mit dem Selfie hat nicht geklappt. Bin echt kaputt. Schreib dir nach dem Duschen oder morgen“, schrieb sie später der Freundin.