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Lucy
Mit geradem Rücken sitze ich auf dem Stuhl, ganz vorne an der Kante, und warte. Die Sonne scheint durch das geöffnete Fenster, wärmt mein Gesicht. Blätter rauschen, Vögel singen und das Glockenspiel der Marktkirche erklingt. Ich wünschte, ich könnte diesen Moment besser genießen.
Er poltert durch die Tür, weht an mir vorbei. „Ah, hallo. Da bist du ja.“
Und ich wische die Hände an den Jeans ab, nicke vage in seine Richtung, hoffe, dass das als Gruß durchgeht.
„Was trinken: Wasser, Kaffee?“
„Nein“, erwidere ich, „danke“, und meine Stimme vibriert, als wolle sie gegen etwas angehen, das unausgesprochen in der Luft schwebt und jeden Augenblick herabstoßen könnte.
Das Telefon klingelt.
„Fünf Minuten“, sagt er durch die Zähne gepresst und legt wieder auf.
Pause.
„Wie du weißt, läuft deine Förderung bald aus.“
Der Sitz ist hart und ich verändere die Position, rutsche hin und her.
„Wir haben es durchgerechnet, das geht nicht.“
Mein Herz schlägt schneller, während ich mich mit den Händen an der Stuhlkante abstütze. Ich begreife nicht, was er mir sagen will.
Oder.
Vielleicht doch.
Dass das nicht geht. Antworten muss ich nicht, er hat mir ja keine Frage gestellt. Da ist dieser hochfrequente Sinuston im Raum, der an- und abschwillt, der mich penetriert. Das ginge nicht, sagt er. Je mehr ich versuche, das Geräusch zu ignorieren, desto lauter wird es.
Das geht nicht.
„Tut mir leid“, sagt er und räuspert sich.
„Was bedeutet das?“
„Solange der Zuschuss läuft, darfst du bleiben.“
Er atmet hörbar aus.
Anscheinend erfüllt es ihn auf einmal mit Genugtuung, das sagen zu können. Als bestünde die Leistung schon darin, Menschen für sich arbeiten zu lassen.
Das Telefon klingelt erneut.
„Komme“, sagt er, legt auf und trommelt mit den Fingern.
„Du, jetzt muss ich aber!“
Er rauscht grußlos vorbei, die Tür schließt mit einem satten Plopp. Ich verharre eine Weile regungslos und draußen auf der Straße gurren Tauben. Mir fällt ein, dass ich noch Milch kaufen muss.
Als ich am Morgen in die Küche gehe, um Tee zu machen, bleibt Lucy liegen. Ich gebe mir keine Mühe, leise zu sein, lasse die Schlafzimmertür offen. Meine Schritte auf dem Holzboden tönen hohl und draußen knattert ein Motorrad vorbei. Kälte kriecht in mir hoch, während ich den Kandis aus dem Schrank hole. Das Wasser rauscht im Kocher und ich nehme mir die Zeitung vor. Nachdem ich den Teebeutel in die Kanne gehängt und übergossen habe, wird es still. Lucy kommt nicht - zum ersten Mal in all den Jahren kann ich ganz in Ruhe lesen. Als ich mir die Zunge verbrenne, merke ich, dass ich die Milch vergessen habe. Ich stehe auf und sehe mal nach.
Während ich auf Knien zu der Schlafstelle neben dem Heizkörper rutsche und mich nach vorne beuge, geht ihr Atem kehlig rasselnd. Das Fell fühlt sich seltsam struppig an heute. Sie windet sich und zappelt unter meinen Händen. Ich habe ihr noch niemals erlaubt, auf dem Bett zu liegen, und das wird auch so bleiben. Der Boden ist nass und es sickert kühl durch meine Jeans, ich vermute Erbrochenes und führe die Hand zur Nase, um sicherzugehen. Als ich ihren Brustkorb betaste, entspringt der Tiefe ein Stöhnen, wie aus dem Brunnen eines Kerkers und mir wird ein paar Grad kälter. Die Nummer vom Doktor weiß ich auswendig.
Wir könnten sofort kommen, sagt er. Ich bestelle ein Taxi und hole die Wolldecke aus dem Schrank, während Lucy abwechselnd knöttert und schnauft.
„Ach du Scheiße“, murmelt der Fahrer.
„Auf die Rückbank“, sage ich und presse Lucy an mich. „Könnten Sie die Tür für mich öffnen?“
Beim Einsteigen stoße ich mir den Kopf, und kaum dass ich sitze, hängt er mit seinen Ausdünstungen über uns, bis die Gurtmechanik endlich klickt. Ich wünschte, Abdul wäre gekommen, der macht kein Gedöns mit Anschnallen. Lucy liegt auf meinen feuchten Jeans und zuckt mit der Pfote. Gerade als mir schwummerig wird von der Kurverei, setzen arabische Klänge ein, ganz leise.
„Ist okay, Musik?“, fragt der Fahrer.
„Ja.“
„Wie alt?“
„Drei", antworte ich. „Drei Jahre und zehn Monate.“
Wir biegen scharf ab, fahren ein Stück bergauf und der Wagen kommt zum Stillstand.
„Machte funfzehn Euro.“
Als ich mich zum Bezahlen nach vorne beuge, bewegt sie sich auf meinen Knien. Wir gehen über die Eingangstreppe und durch das stickige Wartezimmer bis zur Anmeldung. Irgendwo miaut eine Katze.
„Gott, so jung“, flüstert jemand und ich habe keine Ahnung, ob sich das auf Lucy oder auf mich bezieht. Sogleich werden wir zum Doktor vorgelassen.
„Wir gehen mal röntgen“, brummt er, nimmt mir das Bündel aus dem Arm und verschwindet. Mit den Fingern zuppele ich ein Taschentuch aus der Hosentasche und wische mir die Stirn. Ich checke meine Mails und vergewissere mich, dass der Geldbeutel noch in der Jackentasche ist, bis der Doktor nach einer Ewigkeit zurückkommt und sich räuspert.
„Die bleibt erstmal hier“, sagt er. „Wir telefonieren.“
Als es so weit ist, gebe ich meine Sachen ab, das Notebook, den Schlüssel. Ich gehe um die Mittagszeit, es sei schon in Ordnung, sagen sie, danke und machs gut. Es ist ganz natürlich, ab und zu gibt es das, dass einer geht: Die Sieger, die andernorts die nächste Stufe auf der Karriereleiter erklimmen, und diejenigen, die ausscheiden, weil sie das Rentenalter erreicht haben, dann die Schwangeren, die in Mutterschutz gehen.
Und Leute wie mich, bei denen die Förderung ausläuft.
Dass ich den Hund in den letzten Tagen nicht mehr mitgebracht hätte, erwähnen ein paar von ihnen. Später, wenn sie mich schon lange vergessen haben, werden sie sich wahrscheinlich noch an den erinnern. Das Glockenspiel der Marktkirche, das mittags durch die geöffneten Fenster tönte, werde ich vermissen, und das Flattern der Fahnen im Wind. Als sie beim Essen sind, schleiche ich mich davon, gehe im Nieselregen zur Haltestelle. Neben mir kläfft ein Hund, aufsässig und viel kleiner als Lucy, ich mag dieses Format nicht, aber er kann ja nichts dafür. Ich atme tief ein und wieder aus, mehrmals. Ob ich sie heimholen wolle, hat der Doktor gefragt.
Jetzt stehe ich wieder in der Praxis, er legt meine Hand auf Lucy und ich streiche ihr über Rücken und Bauch, wobei ich die Verhärtungen spüre und sie zusammenzuckt, einen Laut von sich gibt, den ich von ihr noch nie gehört habe.
„Wie lange dauert es, bis das abgeheilt ist?“, frage ich.
Als die Tür quietschend geht, murmelt der Doktor „Jetzt nicht!“ Morgens und abends solle ich ihr von der Medizin geben. Er zeigt mir, wie das geht, sie solle keine unnötigen Schmerzen leiden. Obwohl ich sage, wir nähmen für den Heimweg ein Taxi, besteht er darauf, uns zu fahren.
Wieder zu Hause lasse ich sie auf der Wolldecke in der Diele schlafen, während ich den Fußboden vor der Heizung aufwische. Ich schiebe eine Tiefkühlpizza in den Ofen und gehe die Post durch. Die Stille wird durchbrochen vom regelmäßigen Tschick-tschack des Scanners, das Lucy mit immer lauter werdendem Stöhnen quittiert. Da sie jetzt ohnehin wach ist, lege ich Bach auf, lasse Ich habe genug durch den Raum schweben und zur Zimmerdecke steigen. Wie nimmt ein Hund diese Musik wahr? Während ich den Tisch decke und das Bier aus dem Kühlschrank hole, macht Lucy keinen Mucks. Ich werte das als Zustimmung.
Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen,
Auf meine begierigen Arme genommen
Die Pizza schmeckt mir nicht und draußen schüttet der Regen wie aus Kübeln. Nachdem ich die Küche aufgeräumt habe, hole ich die Medizinflasche aus dem Rucksack. Ich hocke mich im Flur neben Lucy, sie liegt immer noch an derselben Stelle, genauso wie ich sie vorhin mit der Decke abgesetzt habe. Der Wassernapf ist randvoll, sie hat nichts getrunken.
Ach! möchte mich von meines Leibes Ketten
Der Herr erretten
Als sie wieder Laut gibt, befühle ich den Kopf, fahre mit beiden Händen die Konturen ab, wobei ich die harten Stellen am Bauch diesmal ausspare. Ihre Schnauze ist trocken und sie wehrt sich, zeigt eine ungeheure Energie, als ich versuche, die Kiefer auseinanderzukriegen, um ihr die Medizin einzuflößen.
Lucy, du hast Mundgeruch.
Sie stößt wieder diese Töne aus, ein eigenartiges Knurren aus der Tiefe, das langsam anschwillt - wenn sie ein Mensch wäre, würde ich behaupten, sie sei betrunken.
Mensch, Lucy, dummer Hund, öffne dein Maul und lass dir helfen!
Das Telefon habe ich leise gestellt, und als es klingelt, bin ich nicht zu sprechen, lasse es auf die Mailbox gehen. Lucy hat etwas von der Medizin geschluckt, zumindest hoffe ich das. Den Johann Sebastian drehe ich runter, trage sie an ihren Platz im Schlafzimmer vor der Heizung und wünsche fest und innig, dass sie zurück in den Schlaf findet. Wochenlang ruft kaum jemand an und jetzt klingelt es schon wieder.
Als ich in der Nacht wachwerde, höre ich sie ächzen. Dreizehn nach eins sagt die Uhr, für die nächste Ladung Medizin ist es noch etwas früh. Ich schleiche in die Diele und höre die Mailbox ab. Bestimmt eine Nachricht vom guten Doktor.
„Wir haben nachgerechnet. Vielleicht geht es doch. Ruf mich an.“
Ich höre es noch einmal ab, aber das ist alles, was er sagt.
„Fürs Löschen drücken Sie die …“
Ich presse den Finger auf die Sieben, halte ihn unnötig lange gedrückt.
Lucys winselt wieder. Ich nehme die Medizinflasche vom Küchentisch und gehe zurück ins Schlafzimmer. Wenn es dort nur nicht so kalt wäre. Ich streichele ihr über den Kopf, kraule sie am Nacken und sie beruhigt sich. Aber als ich in mein Bett will, wird sie wieder laut. So geht das ein paar Mal hin und her. Ich habe keine Lust, den Rest der Nacht neben ihr auf dem Fußboden zu verbringen. Schließlich packe ich sie, lege sie neben mich, rechts auf das große Federkissen mit dem Cordbezug.
Und warte, bis das alles hier vorbei ist.