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Lose-Lose-Situation

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10.10.2006
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Lose-Lose-Situation

Mit dem Verrücktwerden ist es wie mit dem Altern: Es ist zu abstrakt. Man braucht Bezugspunkte. In meiner Jugend war The Summer of ’69 auch schon alt, erschien als eine dezent angestaubte Vergangenheit, die man sich noch irgendwie vorstellen konnte. ’69, das war zehn Jahre vor meiner Geburt. Jetzt ist es fast vierzig Jahre her und alt, furchtbar alt. Kein Mensch kennt mehr Bryan Adams, und Robin Hood mit Kevin Costner wird auch nicht mehr an Weihnachten wiederholt.
Als sie Kim in die Burg eingeliefert haben, kam die Vergangenheit und trat mir mit Anlauf in den Arsch. Wenn ich an Kim denke, höre ich keine Vögel singen, da sind keine Bergbäche, keine Feuerwerke, keine Mondscheinspaziergänge. Kim war Arbeit. Echt harte Arbeit. Ich hab mich die ganze Schulzeit an ihr abgearbeitet.
Es ist ja jetzt schick, so etwas ganz Persönliches, was nur einem selbst gehören sollte, mit irgendeinem modischen Wort zu etikettieren, das man in Zeitschriften liest, in kleinen Nebensätzen dahingeschmiert finden kann. Kim und ich hatten eine On-Off-Beziehung, würde man sagen.

Die Burg ist ein Irrenhaus, wie das bei Batman. Für gewöhnlich behandelt man seine Existenz wie das Ozonloch: Man nimmt es dumpf zur Kenntnis, zieht es aber vor, nicht daran zu denken. Und dann plötzlich, in einem heißen Sommer, ist es da: Taucht in einer Straße auf, die man nicht kannte. Eine Buslinie hält an einer Station, bei der man früher nie wen hat aussteigen sehen, und es ist Realität.
Eine alte Burg, schon lang und oft renoviert, wahrscheinlich von Briten zerbombt und wieder aufgebaut und Trutzfeste gewesen und Blut vergossen und Realität. Wie ein Kainsmal in unserer Stadt. Da. Irrenhaus. Nicht zu leugnen. Das passiert. Kim ist drin.

Es ist ein später Triumph. Manchmal hab ich mir vorgestellt, zu gewinnen, aber nicht so. Und es war Krieg, da gibt es nichts zu beschönigen. Als die Wunden auf beiden Seiten dann zu tief wurden, jedenfalls rede ich mir das ein, ein permanenter Nichtangriffspakt.
Sie hat mir mal einen leeren Kuchenteller gegen das Gesicht geworfen. Voll auf die linke Wange. Mit der Kante gegen das Auge, und es waren noch Schlagsahnereste drauf.
Sie hat mit meinem Vater geflirtet. Kam zum Frühstückstisch in Söckchen und Hemd.
Sie hat eine Kurzzeit-Freundin angerufen und sie gefragt, wie sie das nur mit mir aushalte. Wo ich sie doch mit ihr betrüge, mit ihr, mit ihr allein. Ich wurde halbnackt aus einer Wohnung geworfen. Ohne Schuhe. Musste dann meinen Vater anrufen, er möge mich doch – Es war Krieg. Da gibt es nichts zu beschönigen.

Ich dachte, wenn ich gewinne, dann triumphal. Mit purer Männlichkeit. Hatte mir vorgestellt, nachts durch einen Park zu laufen mit geballter Faust und dann sie zu sehen, wie zwei Männer sie umkreisen. Abwarten wollte ich. Bis sie schon auf ihr liegen und dann die Faust ins Genick des einen, den anderen von ihr herunterzerren. Mit Fußtritten würde ich sie vertreiben. Und ich würde ihr die Hand reichen, ganz freundlich, sie an meine Schulter drücken und dann: Ach, du bist das. Grüß dich, Kim. Lange nicht mehr gesehen. Hast ja noch mal Glück gehabt. Ich muss dann weiter. Halt die Ohren steif.
Ich wollte mit einer Frau bei ihr auftauchen, nicht auftauchen direkt, sondern auf sie treffen. Vielleicht in ihrer Bank. So eine Frau an meiner Seite, die man nur in Katalogen sieht, die nur Schokoladenseiten hat, die Sex atmet. Wollte mich kaum an sie erinnern.
Das ist auch so was. Ich hatte ja schon gewonnen. Sie arbeitet in einer Bank. Wie kann man in einer Bank arbeiten? Jeder hätte mich zum Sieger erklärt.
Und jetzt gewinne ich nicht, sondern sie verliert. Ich hab damit nichts zu tun, das muss man mir glauben.

Was ist das denn für ein Sieg, wenn die Beute im Meer versinkt? Wenn man Salz unter die Erde pflügt, damit nie wieder etwas wächst? Wenn man brandrodet, um einen Bären auszutreiben? Ein Scheiß Sieg ist das.

Es fehlen einfach die Bezugspunkte. Ich weiß nicht, wie verrückt sie ist. Zieht sie sich das Anstaltshemd über den Kopf und pinkelt, wo sie gerade ist, einfach so drauf los? Schmiert sie mit Kot irgendwas an die Wände? Hat sie am Unterarm diese parallel verlaufenden Schnitte in der Farbe von Hundezahnfleisch? Ist sie so eine Zombie-Verrückte, die man im Rollstuhl durch die Gegend karrt und die sich auf die linke Schulter sabbert?
Kim kann mir gestohlen bleiben. Vielleicht in einem anderen Leben. Wenn man es realistisch betrachtet, ohne den ganzen Mumpitz, ist sie eine Verrückte, die mit mir nichts zu tun hat. Sie hat mich um den Sieg in einem Spiel betrogen, das wir nicht mehr spielen. Das tiefer in die Vergangenheit rutscht, Tag um Tag. Kim entfernt sich von mir, ich habe gewonnen.

 

Hallo Quinn,

Ein Scheiß Sieg ist das.
scheiß

Die Geschichte hier erzählt sich zwischen den ganzen Allgemeinheiten, die verflucht werden, zwischen Frauen und Selbsthass. Es ist, bis auf das Irrenhaus die übliche Vorgehensweise, wenn man so will. So oder ähnlich wird eine frische Ex Geliebte gehasst. Das Irrenhaus ist nichts anderes als die Abteilung im Kopf deines Prots, in die er sie abgeschoben hat. Er erklärt sie für verrückt, deswegen liebt er sie nicht mehr, denn er braucht Gründe, sie nicht mehr zu lieben, er muss gewinnen, sonst tut es weh. Es ist ein sich selbst von sich selbst überzeugen, eine Drang nach guten Argumenten gegen den erklärten Feind, für sich selbst.

Mir leider nicht intensiv, hart und ausbruchartig genug. Aber gern gelesen.

viele Grüße

 

Hallo Jo,

okay, jetzt hab ich's verstanden. Die Gefühle, die da geschildert werden, sind natürlich auch schon alt. Da ist ja viel schon vernarbt. Das ist nicht die Wut eines gerade Verletzten, sondern eine kultivierte.
Aber deine Kritik hat natürlich Substanz. Das stimmt schon.

Gruß
Quinn

Hallo Aris,

ich sehe das wie du. Für mich ist die Konstruktion einer Realität durch den Erzähler etwas sehr Spannendes. Er muss sich seine Biographie so zurechtlegen, damit er mit ihr klar kommen. Das ist, für mich, eines der wichtigsten literarischen Themen überhaupt.

Ich verstehe, dass es dir nicht direkt genug ist, freue mich aber, dass du es dennoch gern gelesen hast
Quinn

 

Für gewöhnlich behandelt man seine Existenz wie das Ozonloch: Man nimmt es dumpf zur Kenntnis, zieht es aber vor, nicht daran zu denken.

Ich habe diesen Text gelesen, weil er bei Fliege auf der Liste steht, als eine ihrer Lieblingsgeschichten.

Jeder Satz passt. Den oben zitierten, der ist für mich ein Beispiel wie ein Vergleich, ein Bild sein sollte; das passt. Ich würde so Sachen nur verwenden, wenn ich mir ganz sicher bin - bin ich nie, deswegen lasse ich das. Ist ja auch schon alles gesagt worden zu dem Text. Mich erinnert der an deinen Brass, nicht von der Perspektive, aber vom Tonfall. Du schaffst es immer, den Leser sofort persönlich anzusprechen, ihn richtig anzufassen, das habe ich auch bei vielen deiner anderen Texte bemerkt. Da ist so eine Ebene, die Vertrauen schafft, und auf dieser Basis, wenn die einmal etabliert ist, kann man einem alles rüberbringen, und es wirkt und wird glaubwürdig. Im Grunde ist das eine krasse, traurige Geschichte, ein Scheitern von beiden Seiten, aber da steht auch noch so viel zwischen den Zeilen, da wird so viel über die Protagonisten gesagt, das ist alles so sehr komprimiert und kompakt, mit nur wenigen Details, die aber so passen, echt Wahnsinn.

Ja, also bringt dir wahrscheinlich nicht mehr so viel, dieser Kommentar, aber ich wollte den doch schreiben. Ist ein sehr guter Text, den ich gerne gelesen habe.

Gruss, Jimmy

 

Hallo jimmy, ich hab die nach deinem Kommentar eben auch gelesen. Und fand die auch richtig gut. Dann hab ich die Kommentare gelesen, die Schwächen der Geschichte, dass man sich andere Sachen erwartet, dass es nicht "abgründig" genug, nicht "szenisch" genug ist - ja, das ist schon alles richtig, aber mich stört das gar nicht.

Das ist irgendwie seltsam. Ich hatte die Geschichte so als "na ja" in Erinnerung abgespeichert, weil ich noch die Reaktionen kannte, und jetzt, wo ich's nochmal gelesen hab, mochte ich die auch wieder mehr als in meiner Erinnerung. Ist halt auch schon x Jahre her.

 

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