Hallo @jimmysalaryman,
Peeperkorns Kommentar habe ich noch nicht gelesen, das mache ich hinterher. Es ist faszinierend, wie konkret die Geschichte für mich als Leserin wird, und wie klar die Bilder. Sowohl von den Handelnden, als auch von den Zimmern, in denen alles spielt.
Hier, sagte meine Mutter. Sieh dich an! Lippen so rot.
Ich öffne die Augen. Es ist nur die kleine Lampe auf dem Nachttisch eingeschaltet, doch ich sehe sie, ich sehe meine Lippen im Schlafzimmerspiegel.
Das "Hier" versperrt mir ein wenig den Eingang in den Sinn. In Kombination mit einem Spiegel las ich es so, als reiche die Mutter der Tochter einen Handspiegel, aber es geht ja um den Schlafzimmerspiegel.
"Sieh dich an", sagte meine Mutter. "Lippen so rot." könnte ich mir wenigstens als Einstieg vorstellen.
So süß, sagt sie, sagt meine Mutter. Zucker.
Das zweite "sagt" würde ich streichen. Ergäbe auch mit "Zucker" einen schönen Rhythmus, ist aber letztlich auch persönliche Vorliebe.
Ich öffne meinen Mund, hauche gegen den Spiegel. Meine Mutter malt ein Herz in die Mitte.
Warte, sagt sie.
Probier das mal, sagt sie.
Die Mutter ist sehr kumpaninnenhaft, finde ich. Heißt das so? Kumpelinenhaft? Der Text kann da vom Ungesagten sehr schön leben, es gibt mehrere Stillstellen, auch, dass die Tochter beobachtete haben muss, dass die Mutter (lange, allein) vor dem Spiegel alte Kleider anprobiert.
Die (Selbst)wahrnehmung der Tochter findet ja im Text hauptsächlich über die Mutter statt. Sie sieht sich, wie die Mutter sie sieht. Lässt sich etwas anprobieren, sich verkleiden, aber es liest sich, als werde sie davon zunächst nicht sehr berührt.
Ich drehe mich und tanze, ich tanze, weil ich weiß, dass sie es mag.
Ich kann sie im Spiegel sehen, ich kann sehen, wie sie mich ansieht.
die brennend roten Lippen, ich bin schön, so wunderschön.
Die Tochter wiederholt es mantraartig, aber es scheint ihr weiterhin eher fremd zu bleiben.
Und sie scheint auch überhaupt nicht gern zu tanzen:
Tu es für mich. Nur einmal. Du bist so schön, so wunderschön.
Ich kann sie im Spiegel sehen, ich kann sehen, wie sie mich ansieht.
Diese gespieglten Blicke, auch später mit dem Nachbarn, haben etwas distanziert-Feines, ohne, dass es tatsächlich Zuwendung in der auch sonstigen Kommunikation gibt. "Im Rücken" und "über ein paar Ecken." Die Mutter erweckt zumeist den Anschein einer junggebliebenen, aber älteren Freundin.
Moment, sagt sie dann. Und hör nicht auf!
Ganz explizit verstörend finde ich es nicht, auch, wenn darin ein Portal mit solchem Potential aufgehen kann. Der Nachbar kommt ja nicht spielerisch zufällig dazu, er klingelt auch nicht, also holt sie ihn scheint's absichtlich dazu, um ihm die Show ihrer Tochter zu präsentieren. Das kann durch Rührung und Stolz, durch das Teilen-Wollen geschehen, aber es ist auch mehr und mehr Unschönes möglich.
Ein dünner Mann mit rosa Wangen, ich glaube, es ist der Nachbar, unsere Blicke treffen sich im großen Spiegel.
Trotz der eher beengten Verhältnisse scheint die Tochter den Nachbarn nicht zu kennen. Der übrige Absatz stellt her, (auch, dass die Mutter und er miteinander flüstern) dass ich die Beschreibung des Mannes, so knapp sie auch sei, als etwas unangenehm empfinde. Das gilt allerdings an manchen Stellen im Text auch für die Mutter.
Ich spüre noch die kalte Luft, die vom Flur ins Schlafzimmer zieht, dann fällt die Tür ins Schloss.
Das lese ich als eine Art "Fallen des Vorhangs", die Scheinwerfer gehen aus, die Show der Tochter ist vorbei, es wird still und dunkel. Sie stellt nicht mehr dar, was erspielt und erwartet wurde.
Anders als in anderen Texten von dir finde ich das Portal zum Verstörenden hin eher klein, wobei man "Lippenstift" lange Zeit mit Prostitution verband oder auch Belladonna, das beides sexuelle Bereitschaft signalisiert.
Beeindruckend, wie viel konkrete Vorstellungen du mit so wenig geweckt hast.
Viele Grüße,
Helen