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Lippenstift

Seniors
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28.12.2009
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Lippenstift

Hier, sagte meine Mutter. Sieh dich an! Lippen so rot.
Ich öffne die Augen. Es ist nur die kleine Lampe auf dem Nachttisch eingeschaltet, doch ich sehe sie, ich sehe meine Lippen im Schlafzimmerspiegel.
So süß, sagt sie, sagt meine Mutter. Zucker.
Ich öffne meinen Mund, hauche gegen den Spiegel. Meine Mutter malt ein Herz in die Mitte.
Warte, sagt sie.
Probier das mal, sagt sie.
Sie öffnet ihren Schrank. Sie hat viele Klamotten, viel Schmuck.
Manchmal steht sie alleine vor dem großen Spiegel und probiert alte Kleider an.
Sie sagt: Ich wiege immer noch genauso viel wie mit 19.
Sie greift in den Schrank.
Es ist leicht wie eine Feder.
Meine Mutter legt ihre Zigarette in den Aschenbecher.
Tu es für mich. Nur einmal. Du bist so schön, so wunderschön.
Ich drehe mich und tanze, ich tanze, weil ich weiß, dass sie es mag.
Ich kann sie im Spiegel sehen, ich kann sehen, wie sie mich ansieht.
Moment, sagt sie dann. Und hör nicht auf!
Sie geht aus dem Schlafzimmer, sie lässt die Tür offen stehen, ich tanze weiter, drehe Pirouetten, schaue mir selbst im Spiegel dabei zu, das Kleid, die brennend roten Lippen, ich bin schön, so wunderschön. Meine Mutter spricht draußen im Hausflur mit jemandem, ich höre ihre Stimmen, obwohl sie flüstern. Ein dünner Mann mit rosa Wangen, ich glaube, es ist der Nachbar, unsere Blicke treffen sich im großen Spiegel. Er lächelt, als meine Mutter sagt: Sie ist so wunderschön! Ist sie nicht wunderschön? Ich spüre noch die kalte Luft, die vom Flur ins Schlafzimmer zieht, dann fällt die Tür ins Schloss.

 

Hey @jimmysalaryman

Das assoziative Dreieck, das du zu Beginn aufspannst (Kind, Lippenstift, Mutter), lässt unmittelbar ein ungutes Gefühl entstehen, das durch die angedeutete räumliche Enge (die Tür des Schlafzimmers geht direkt zum Flur, da gibt es nur eine dünne Grenze zwischen dem Bett und dem Nachbar) zusätzlich verstärkt wird. Da wird ein Kind / eine Jugendliche missbraucht, denke ich mir, aber es bleibt offen, auf welche Weise. In der Mitte des Textes hat sich für mich die Interpretation eines emotionalen Missbrauchs etabliert. Die Mutter trauert ihrer verlorenen Schönheit nach, auch wenn - oder gerade weil - sie betont, sie sei noch immer so leicht wie mit 19. Stellvertretend schminkt sie der Tochter die Lippen und lässt sie für sich tanzen. Es ist schon äusserst gelungen, wie du diese in gewisser Hinsicht harmlose Szene sehr unangenehm für den Leser werden lässt. Danach taucht der (vermeintliche) Nachbar auf, das Kammerspiel wird durchbrochen, das Mädchen wird dem Blick des dünnen Mannes preisgegeben und das ungute Gefühl verstärkt sich noch einmal deutlich. Den Schluss gestaltest du sehr raffiniert: Dem Leser wird die Tür vor der Nase zugeknallt, seine Neugier bleibt unbefriedigt. Das hatte für mich zunächst auch etwas Erlösendes, der Nachbar wird ausgeschlossen. Aber dann war ich da mit diesem Mädchen im Raum und ich konnte ihm nicht erklären, was ihm eigentlich widerfahren ist und noch weniger, was jetzt geschehen wird. Raffiniert auch, dass man nicht erfährt, was genau die Ursache für das Zufallen der Tür gewesen ist. Die Luft? Oder doch die Mutter? Das wäre dann noch mal auf eine andere Weise unheimlich, die Tochter tanzt noch immer, doch die Mutter fühlt sich nun gesättigt und bestärkt genug, um ihre Zeit lieber mit dem Nachbar zu verbringen. Oder aber, sie schliesst die Tür, um mit dem dünnen Mann Dinge zu besprechen, die das Kind nicht hören soll.

Nur zwei, drei Anregungen:

Hier, sagte meine Mutter. Sieh dich an! Lippen so rot.
Ich öffne die Augen. Es ist nur die kleine Lampe auf dem Nachttisch eingeschaltet, doch ich sehe sie, ich sehe meine Lippen im Schlafzimmerspiegel.
Dank des Titels brauche ich den dritten Satz nicht und fände es stärker, wenn die Mutter nicht sagt, was beide sehen. Wenn du das "rot" hier bereits betonen möchtest, dann vielleicht "... sehe meine roten Lippen ..."
So süß, sagt sie, sagt meine Mutter. Zucker.
Ein Versehen? Wenn nicht, dann ist mir das zu artifiziell.
Ein dünner Mann mit rosa Wangen
Ich bin ambivalent. Ich sehe sogleich den lüsternen Gustav Aschenbach vor mir, wie er in Venedig dem Tod entgegengondelt. Das ist einerseits gut, weil dünn und rosa = lüstern und zwiellichtig. Auf der anderen Seite halt auch recht klischiert. Ich weiss allerdings nicht, wie man es besser machen kann.

Starker Text!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo @jimmysalaryman,

bedrückende Szenerie, sehr kurz, sehr fesselnd. Peeperkorn hat auf zwei Dinge hingewiesen, die ich ähnlich sehe.

So süß, sagt sie, sagt meine Mutter. Zucker.
Das ist irgendwie ein Stolperstein. Aber noch mehr stört mich, dass du die gesamte Geschichte im Präsenz durchziehst, was super ist, mit einer Ausnahme. Dem ersten Satz. Warum dieser Bruch, ist das nötig, oder kann man das im Präsenz durcherzählen? Wäre für mich stärker.
Ein dünner Mann mit rosa Wangen, ich glaube, es ist der Nachbar, unsere Blicke treffen sich im großen Spiegel.
Gegen Ende wird die bedrückende Atmosphäre sehr deutlich. Das ist gut rübergebracht, aber deshalb finde ich die rosa Wangen (= Schwein) unnötig, da ist doch schon alles drin.

Ich spüre noch die kalte Luft, die vom Flur ins Schlafzimmer zieht, dann fällt die Tür ins Schloss.
Zum Schluß weiß man nicht, ist der Rosafarbene in der Wohnung, oder ausgeschlossen? Bleibt schön offen, die Bedrohung hängt schwer in der Luft. Ich frage mich, ob es die kalte Luft braucht, vor allem das Wort "noch"?

Das sind ein paar Eindrücke zu der sehr fesselnden Story, gern gelesen!

Schönen Gruß

Jaylow

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @jimmysalaryman,


Peeperkorns Kommentar habe ich noch nicht gelesen, das mache ich hinterher. Es ist faszinierend, wie konkret die Geschichte für mich als Leserin wird, und wie klar die Bilder. Sowohl von den Handelnden, als auch von den Zimmern, in denen alles spielt.

Hier, sagte meine Mutter. Sieh dich an! Lippen so rot.
Ich öffne die Augen. Es ist nur die kleine Lampe auf dem Nachttisch eingeschaltet, doch ich sehe sie, ich sehe meine Lippen im Schlafzimmerspiegel.
Das "Hier" versperrt mir ein wenig den Eingang in den Sinn. In Kombination mit einem Spiegel las ich es so, als reiche die Mutter der Tochter einen Handspiegel, aber es geht ja um den Schlafzimmerspiegel.
"Sieh dich an", sagte meine Mutter. "Lippen so rot." könnte ich mir wenigstens als Einstieg vorstellen.
So süß, sagt sie, sagt meine Mutter. Zucker.
Das zweite "sagt" würde ich streichen. Ergäbe auch mit "Zucker" einen schönen Rhythmus, ist aber letztlich auch persönliche Vorliebe.
Ich öffne meinen Mund, hauche gegen den Spiegel. Meine Mutter malt ein Herz in die Mitte.
Warte, sagt sie.
Probier das mal, sagt sie.
Die Mutter ist sehr kumpaninnenhaft, finde ich. Heißt das so? Kumpelinenhaft? Der Text kann da vom Ungesagten sehr schön leben, es gibt mehrere Stillstellen, auch, dass die Tochter beobachtete haben muss, dass die Mutter (lange, allein) vor dem Spiegel alte Kleider anprobiert.

Die (Selbst)wahrnehmung der Tochter findet ja im Text hauptsächlich über die Mutter statt. Sie sieht sich, wie die Mutter sie sieht. Lässt sich etwas anprobieren, sich verkleiden, aber es liest sich, als werde sie davon zunächst nicht sehr berührt.

Ich drehe mich und tanze, ich tanze, weil ich weiß, dass sie es mag.
Ich kann sie im Spiegel sehen, ich kann sehen, wie sie mich ansieht.
die brennend roten Lippen, ich bin schön, so wunderschön.
Die Tochter wiederholt es mantraartig, aber es scheint ihr weiterhin eher fremd zu bleiben.
Und sie scheint auch überhaupt nicht gern zu tanzen:
Tu es für mich. Nur einmal. Du bist so schön, so wunderschön.
Ich kann sie im Spiegel sehen, ich kann sehen, wie sie mich ansieht.
Diese gespieglten Blicke, auch später mit dem Nachbarn, haben etwas distanziert-Feines, ohne, dass es tatsächlich Zuwendung in der auch sonstigen Kommunikation gibt. "Im Rücken" und "über ein paar Ecken." Die Mutter erweckt zumeist den Anschein einer junggebliebenen, aber älteren Freundin.
Moment, sagt sie dann. Und hör nicht auf!
Ganz explizit verstörend finde ich es nicht, auch, wenn darin ein Portal mit solchem Potential aufgehen kann. Der Nachbar kommt ja nicht spielerisch zufällig dazu, er klingelt auch nicht, also holt sie ihn scheint's absichtlich dazu, um ihm die Show ihrer Tochter zu präsentieren. Das kann durch Rührung und Stolz, durch das Teilen-Wollen geschehen, aber es ist auch mehr und mehr Unschönes möglich.
Ein dünner Mann mit rosa Wangen, ich glaube, es ist der Nachbar, unsere Blicke treffen sich im großen Spiegel.
Trotz der eher beengten Verhältnisse scheint die Tochter den Nachbarn nicht zu kennen. Der übrige Absatz stellt her, (auch, dass die Mutter und er miteinander flüstern) dass ich die Beschreibung des Mannes, so knapp sie auch sei, als etwas unangenehm empfinde. Das gilt allerdings an manchen Stellen im Text auch für die Mutter.
Ich spüre noch die kalte Luft, die vom Flur ins Schlafzimmer zieht, dann fällt die Tür ins Schloss.
Das lese ich als eine Art "Fallen des Vorhangs", die Scheinwerfer gehen aus, die Show der Tochter ist vorbei, es wird still und dunkel. Sie stellt nicht mehr dar, was erspielt und erwartet wurde.

Anders als in anderen Texten von dir finde ich das Portal zum Verstörenden hin eher klein, wobei man "Lippenstift" lange Zeit mit Prostitution verband oder auch Belladonna, das beides sexuelle Bereitschaft signalisiert.

Beeindruckend, wie viel konkrete Vorstellungen du mit so wenig geweckt hast.

Viele Grüße,
Helen

 

Das assoziative Dreieck, das du zu Beginn aufspannst (Kind, Lippenstift, Mutter), lässt unmittelbar ein ungutes Gefühl entstehen, das durch die angedeutete räumliche Enge (die Tür des Schlafzimmers geht direkt zum Flur, da gibt es nur eine dünne Grenze zwischen dem Bett und dem Nachbar) zusätzlich verstärkt wird

Moin Peter,

ja, du hast immer so gute, passende Begriffe, assoziatives Dreieck, mehr davon!, ich schreibe mit, das ist einfach sehr, sehr gut. Passt auch wie Faust aufs Auge, würde ich sagen. Ich weiß nicht, ich habe so eine Datei bei mir auf dem Rechner, die ist immer offen, da versuche ich, Texte unter 500 Wörter zu schreiben, mal an dem Text, mal an dem, ich kriege da immer auch eine gute Distanz hin, weil ich nicht ständig dran arbeite, meistens um den Kopf frei zu kriegen, und so ist dieser Text in einer Reihe mit anderen entstanden. Man sieht, wo etwas zu viel ist, wo der wahre Glutkern der Geschichte liegt, in welche Richtungen der weist. Ich mag solche Texte, ich habe letztens eine Story-Sammlung von Christine Schutt gelesen, die erst sehr spät, mit 47 Jahren, debütiert hat, in den 90ern, und das sind Texte, die mir wirklich an Mark und Bein gegangen sind, furchtlos und verstörend, aber eben auch wahrhaftig. Die funktionieren, wie ich finde, recht ähnlich, Enge, Verantwortung, Schuld, auch immer ein sexuelles Element dabei, so diese Richtung. Ich mag an solchen Texten, dass die an den Rändern etwas ausfransen, dass die nicht richtig erklärbar sein müssen, nicht immer rational sein müssen, dass da etwas Untergründiges mitschwingen darf.

Ich bin ambivalent. Ich sehe sogleich den lüsternen Gustav Aschenbach vor mir, wie er in Venedig dem Tod entgegengondelt. Das ist einerseits gut, weil dünn und rosa = lüstern und zwiellichtig. Auf der anderen Seite halt auch recht klischiert. Ich weiss allerdings nicht, wie man es besser machen kann.
Kannte ich gar nicht, Gustav Aschenbach, recherchiere ich. Klar, kann man noch runterdimmen, ich sehe das auch. Überlege ich mir, bei deinem anderen Vorschlag auch, da bin ich bei dir!

Danke für den sehr guten Kommentar und deine Zeit, Peter!

Gruss, Jimmy

wird fortgesetzt

 

Hallo Jimmy,

ich habe gar nicht viel beizutragen außer: Ein sehr guter Text, der mich an eine Frau in meinem Bekanntenkreis erinnert. Die hat eine sehr eigenwillige, ihre Tochter durch alles Mögliche unter Druck setzende Art. So auch bei einem unschönen gegenseitigen Vergleich zwischen ihr und dem Nachwuchs.
Insofern kann man den Text "düster" lesen, aber er ist damit nur eine Zuspitzung zu einem Verhalten, das auch in weniger krassen Form schlimm genug sein kann. Gerade das macht ihn so gut.

War der Text auch eine Übung des Möglichst-Kurz-Fassens?

 

Was mir – kann es anders sein? – zunächst auffällt ist, dass das Wort „Mutter“ aus Sicht des (besser vllt. „ihres“) Kindes i. d. R. mit dem Possessivpronomen verquickt ist und somit auch ein Text über „Angst“ wird ...,
und würde ich unter andern Bedingungen zur Passage

Ich öffne meinen Mund, …
gewohnt schnoddrig fragen, „wessen Mund sonst?“, so fürchte ich hier bei Deinem kleinen, aber radikalen Rollenwechsel vorherrschende Verlustängste der Icherzähler/in – wobei der Plural der Angst klanglich mit dem Superlativ der Enge „korrespondiert“, eng, enger, [am a]engsten – umgekehrt stelle man sich die Welt vor, wenn das Gefühl der Angst (oder in konkreten Fällen „Furcht“) abhanden käme, besonders im Straßenverkehr und der Politik ...

Aber warum wird hier

Sieh dich an!
der Imperativ – wie ich finde, korrekt – gewählt – aber hier
Warte, sagt sie.
Probier das mal, sagt sie.
verworfen?

Sie öffnet ihren Schrank.
...
Meine Mutter legt ihre Zigarette in den Aschenbecher.

Wie dem auch wird, gern gelesen vom

Friedel

 

Anders als in anderen Texten von dir finde ich das Portal zum Verstörenden hin eher klein, wobei man "Lippenstift" lange Zeit mit Prostitution verband oder auch Belladonna, das beides sexuelle Bereitschaft signalisiert.

Moin @Helenesthe und danke dir für Zeit und Kommentar!

Ja, ich beabsichtige nicht, extra verstörend zu schreiben, aber das lauert in den Untiefen meiner Persönlichkeit, nehme ich mal an. Es ist auch immer die Frage, wo man persönliche Grenzen hat, ich kann mir zum Beispiel realistische Gewalt in Filmen immer schlechter ansehen, weil ich denke, man muss das nicht zeigen, ich weiß, was passiert, ich habe aber auch selbst diverse Gewalterfahrungen durchmachen müssen, da reagiert jeder anders. Ich versuche, da früher rauszugehen, weil ich denke, nur dieses unangenehme Gefühl, dass ewtas passieren könnte, reicht schon aus.

Du hast viele gute Vorschläge dabei, ich brauch noch etwas Distanz zum Text, dann mache ich mich an die Überarbeitung!

Beeindruckend, wie viel konkrete Vorstellungen du mit so wenig geweckt hast.

Danke dir. Ich versuche zur Zeit, in diesen kurzen Texten im Grunde alles zu komprimieren, zu verdichten, aber das ist nicht immer so einfach, weil man nie weiß, ob man das, was man erzählen möchte, nicht einfach in diesem relativ offenen Format einfach verschwindet, trivial wird, untergeht. Deswegen freut es mich, wenn es hier in diesem expliziten Fall für dich funktioniert hat.

beklemmend phu
Wow yeah!

wird fortgesetzt!


Gruss, Jimmy

 

Ein sehr guter Text, der mich an eine Frau in meinem Bekanntenkreis erinnert. Die hat eine sehr eigenwillige, ihre Tochter durch alles Mögliche unter Druck setzende Art. So auch bei einem unschönen gegenseitigen Vergleich zwischen ihr und dem Nachwuchs.

Hallo @Dohlenmann,

ja, es gibt so Eltern. Es gibt ja nichts, was es nicht gibt. Ich glaube, was richtig und falsch ist, das kann man heute immer weniger sagen; für scheinbar jedes Verhalten finden sich Apologeten, oder?

Insofern kann man den Text "düster" lesen, aber er ist damit nur eine Zuspitzung zu einem Verhalten, das auch in weniger krassen Form schlimm genug sein kann.
Ja, die Übergriffigkeiten lauern überall. Ich finde es schwierig, das zu bewerten, weil jeder natürlich eine eigene subjektive Vorstellung von Moral hat, aber wenn ich manchmal beobachte, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, da geht mir das Messer in der Hose auf. Hat auch mit eigenen Erfahrungen zu tun, ich stamme aus einer dsyfunktionalen Familie, oder was man so dazu sagt, deswegen bin ich da wahrscheinlich sensibilisiert. Ich glaube auch, das vieles hinter verschlossenen Türen passiert, dass also die bürgerliche Fassade keine Erfindung, sondern bittere Realität ist.

War der Text auch eine Übung des Möglichst-Kurz-Fassens?
Ja, ich versuche, in dieser Reihe Texte zu schreiben, die möglichst komprimiert sind, der Inhalt bzw die Lesart dabei aber offen genug. Schön, wenn es für dich funktioniert hat.

Danke für deine Zeit und deinen Kommentar!

Gruss, Jimmy

 

Lieber Jimmy (@jimmysalaryman)

Ich lese diesen Text seit der Veröffentlichung immer wieder mal. Und jedesmal stellt sich dieses beklemmende Gefühl ein. Für mich ganz klar ein Fall von toxischer Mutterliebe, Projektion der verlorenen Jugend und zuletzt der sprachlos machende Missbrauch.

Hier, sagte meine Mutter. Sieh dich an! Lippen so rot.
Der Rest wird im Präsens erzählt, weshalb hier Vergangenheit?
Oder ist zwischen dem Schminken und dem Öffnen der Augen ein Zeit(en)sprung?

So süß, sagt sie, sagt meine Mutter. Zucker.
Ab da wird es mir bereits anders, grummelt es in der Magengegend. Sie, deine Mutter? Zucker, geht's noch? Das ist doch nicht normal – so mein Empfinden, wäre ich ihre BFF in der grossen Pause.

Meine Mutter malt ein Herz in die Mitte.
Und noch einen oben drauf, hab dich lieb, so lieb.

Tu es für mich. Nur einmal. Du bist so schön, so wunderschön.
Ich drehe mich und tanze, ich tanze, weil ich weiß, dass sie es mag.
Und hier die wohl noch unschuldigste Szene, Projektion der schwindenden Schönheit auf die Tochter und deren emotionale Abhängigkeit.

Ein dünner Mann mit rosa Wangen, ich glaube, es ist der Nachbar, unsere Blicke treffen sich im großen Spiegel. Er lächelt, als meine Mutter sagt: Sie ist so wunderschön!
Au wei, hier lese ich das Ende komplett anders als @Peeperkorn. Für mich wird klar, dass die Mama ihre ihr hörige Tochter aus niederträchtigen Beweggründen dem Nachbarn zuführt. Dabei bleibt offen, ob die Tochter das dann wirklich zulässt, "weil es Mama gefällt".

Ich spüre noch die kalte Luft, die vom Flur ins Schlafzimmer zieht, dann fällt die Tür ins Schloss.
Hier steht für mich der Nachbar im Zimmer, die Falle schnappt zu.
Scheisse, warum kann ich es nicht so abgeschwächt sehen wie bei Peters Gedankengang, wo der Nachbar draussen bleibt. Obwohl – Missbrauch bleibt Missbrauch, egal, mit welchem Schweregrad.

Uff, ein aufwühlender Text. Bleibt mir nur noch das Kompliment zum Stil und die Reduktion auf das Wesentliche. Absolut treffende Satz- und Wortwahl! Sehr eindrücklich gemacht, Jimmy.

Liebe Grüsse, dot

 

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