Lieber Samuel...
Lieber Samuel...Alt
Lieber Samuel,
Ich weiß, dass man mich in der Nachbarschaft als Schrulle bezeichnet. Es macht mir nichts aus. Ihre Unwissenheit über denjenigen, der mich zu meiner Verbitterung gebracht hat, ist ihr Glück. Wenn sie nur wüssten. Sie würden mir die Schuld daran geben, was aus dir geworden ist. Die Schuldigen sind immer die Mütter. Was hat dich zu dem gemacht, was du bist? Was hat dich dazu getrieben all diese Frauen zu töten?
Mit dem schmalen Rücken mir zugewandt kauerst du auf dem Boden. Dein ganzer Körper bebt. Ich kann es nicht tun, nicht wenn du so verletzlich bist. Nicht, wenn ich in dir den kleinen Jungen sehe, der du immer für mich gewesen bist. Zaghaft gehe ich auf dich zu und berühre dich an der Schulter. Dein Zittern hört nicht auf und ich schlinge meinen Arm fest um dich. Auch ich weine und durch den Tränenschleier ist es schwierig dein Gesicht zu erkennen. Ein kleiner, sehr schwacher Teil von mir wollte dich rütteln, dich anschreien, dir Schmerzen bereiten, doch so stark werde ich nicht sein. Meine Hand, mit der ich immer noch die Spritze umklammert hielt, zitterte.
Das ist der Moment, in dem ich bemerke, dass alles zu spät ist. Ich hätte niemals zögern dürfen, ich hätte mich keinen einzigen Augenblick lang meiner Liebe zu dir hingeben dürfen. Ich bin schwach und naiv und das ist der Grund, warum all das geschehen war. Deine hellgrauen Augen huschen wie die eines Luchses von meiner zitternden Hand zu meinem Gesicht. Blitzschnell hört dein Schluchzen auf und du wirst zum Jäger, die Zähne gebleckt. Du packst meine Hand, die Spritze fällt mit einem leisen klirren zu Boden und zerbricht. Die durchsichtige Flüssigkeit glitzert auf dem schwarzen Marmor. Deine langen dünnen Finger, die meinen so ähnlich sind, schließen sich augenblicklich um meinen Hals. In meinen Ohren rauscht und pocht es, meine Fingernägel kratzen vergeblich über deine Hände. Heiße Tränen brennen auf meinen Wangen. Ich habe versagt. Versagt als deine Mutter und versagt als die Frau, die all die Mädchen, die du vergewaltigt und ermordet hast, rächen sollte. Ich werde dein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Dafür wirst du sorgen.
Plötzlich lässt du mich los und ich hole röchelnd Luft. Es ist wie das Gefühl, das erste Mal zu atmen. Mein Kopf schmerzt und pocht und ich will einfach nur noch davon laufen und mich verstecken, doch stattdessen sehen wir uns einfach nur an. Ausdrucksvolle Blicke, die sich gegenseitig in den Bann ziehen. Dann sehe ich dein Grinsen und realisiere, dass nun alles zu spät ist. Ich wollte flehen, ich wollte dich zu Besinnung bringen, doch dann spürte ich ihn, den Schmerz der mich alles andere vergessen lässt. Du warst so schnell, dass ich das Messer erst bemerkte, als es schon in meiner Brust steckte. Das einzige, woran ich denken kann, ist, dass du es mir zu Weihnachten geschenkt hattest. Der Blutfleck breitete sich rasch aus.
Ich atme ein, atme aus und all das Schreckliche, was du gesagt und getan hattest, verschwindet aus meinem Kopf. Ich will nicht mehr denken. Leere, Bodenlose Leere. Ich ertrinke darin. Dann war alles schwarz.
****
Während ich sterbe, schwebe ich. Eine anmutige Bewegung. Mit jedem Windhauch, der mein Gesicht streichelt, komme ich einem unbekannten Ziel näher. Farben umgeben mich. Ein Meer aus hellen warmen Tönen. Sie jagen um die Wette, rennen davon, zucken, züngeln, lodern. Feuer.
Ich sitze in unserem Wohnzimmer auf dem Kaminvorleger und bürste den Kater. Früher, als dein Vater noch lebte habe ich dort jeden Abend gesessen, während er seinen Tee trank und ab und an mit der Zeitung raschelte. Das knisternde Feuer im Kamin gibt mir das Gefühl von Wärme und Behaglichkeit.
Ich höre die Treppe knarren und drehe den Kopf. Am Treppenabsatz sehe ich dich stehen. Du trägst einen alten grauen Pulli und Jeans mit Flicken.
Ich sah sie vor mir, deine blutverschmierten Klamotten, die ich wie besessen mit Gallseife schrubbte. Ich hörte mein leises, fast stummes Wimmern und spürte, wie meine Haut an den Fingerknöcheln durch das ätzende Mittel und dem schrubben riss. Das Wasser im Waschbecken war rot.
„Wohin gehst du?“, höre ich mich tonlos fragen. Meine Hände streichen fortwährend, wie mechanisch mit der Bürste durch das weiche Fell.
„Aus“, deine kurze und knappe Antwort. Deine Stimme kommt mir unvertraut vor, weil du so selten sprichst. Meistens schweigst du tagelang.
Ich höre deine schweren Schritte, dann einen sanften Luftzug, der durch die geöffnete Haustür fegt und einen leichten Schlag, mit dem die Tür wieder ins Schloss fällt.
Stille
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, alles fühlt sich so unecht an. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich diesen Abend zum zweiten Mal revue erlebe.
Dein Vater geht schlafen. Mit einem kurzen Gute-Nacht-Kuss verabschiedet er sich. Ich warte noch darauf, dass du zurück kommst. Ich erinnere mich daran, wie beunruhigt und aufgewühlt ich an diesem Abend war, als du erst so spät nach Hause kamst. Vielleicht konnte man sagen, ich hatte eine Art Vorahnung, doch hinterher behaupten das sowieso alle. Da ich tot bin fühle ich nichts.
Um 12 Uhr höre ich die Schreie. Es ist ein junges Mädchen. In der Zeitung las ich später, dass du sie wohl aus einer Disco entführt hattest.
Ich will, dass ich taub werde, ich will es nicht noch einmal ertragen. Bitte mach, dass sie aufhört zu weinen.
Der Kater ist eingeschlafen. Schlaff liegt er vor mir auf dem Vorleger. Hatte ich ihn wirklich den ganzen Abend über gebürstet?
Die Schreie verstummen. Jemand geht ums Haus herum und öffnet einen Kofferraum. Etwas schweres wird eingeladen. Meine Hände sind feucht und zittern. Mir ist schlecht.
Du kommst durch die Hintertür. Deinen schlurfenden leisen Schritten entnehme ich, dass du die Stiefel draußen ausgezogen hattest.
„Wo warst du?“
„Aus“. Deine Stimme klingt erregt, fast freudig.
„Was ist passiert?“, mein Blick huscht über deine Klamotten. Du zögerst sehr lange.
„Ich hab ein Reh überfahren und es von der Straße gezerrt.“ Deine Augen huschen umher und du zappelst, als wärst du hyperaktiv. Ohne dich vor mir zu genieren ziehst du dich bis auf die Unterhose aus.
„Kannst du sie bitte waschen? Es soll hinterher kein Blut von dem Tier mehr daran sein.“. Es ist eher ein Befehl als eine Frage. Ohne eine Antwort abzuwarten gehst du nach oben.
Ich habe nichts gesagt, ich habe so getan, als wären deine Lügen Tatsachen. Mir wird klar, dass ich jahrelang die Wahrheit verleugnet habe. Du bist ein Monster und jetzt ist es zu spät, dich jemals aufzuhalten.
Plötzlich kehrten mein Bewusstsein und all meine Gefühle, wie ein Stromschlag in meinen Körper zurück. Ich wollte schreien, wollte dich schlagen, mit all meiner Kraft auf dich losstürmen und dir so viele Schmerzen zu bereiten, wie ich nur konnte. Ich wollte dich töten. Ich hätte alles verhindern können, was du seit diesem Abend getan hast. Schwach und dumm, wie ich damals war, habe ich dich, einen Verrückten, beschützt. ICH war für all deine Taten verantwortlich.
Kurz bevor ich zusammenbreche, fliege ich davon.
****
Ich spüre einen sanften Luftzug und höre in der Ferne die Glocken läuten. Um mich herum stehen vereinzelt ein paar schwarz gekleidete Personen. Es ist die Beerdigung deines Vaters.
„…wird er in Ewigkeit ruhen.“, schließt der Pfarrer.
In Ewigkeit. In Ewigkeit. Es kommt mir so bekannt vor.
Durch das Schlüsselloch beobachte ich, wie ihr euch im Treppenhaus streitet. Er hat ein Telefon in der Hand. „… die Polizei rufen. Sollst du doch bis in alle Ewigkeit im Knast sitzen“.
Wie immer, wenn er wütend ist, kommen kleine Spucketröpfchen aus seinem Mund. Sein hochrotes Gesicht bildet einen eigenartigen Kontrast zu deinem blassen. Du lehnst lässig an der Wand. Etwas an deiner ruhigen Art alarmiert mich instinktiv. Er wendet sich von dir ab, als könnte er dich nicht länger ertragen. Am obersten Treppenrand drückt er auf den grünen Hörer.
Wie ein Löwe, der sich an seine Beute heranpirscht, schlägst du zu. Mit aller Kraft stemmst du deinen schmächtigen Körper gegen den breiten Rücken deines Vaters.
Wie Donnerschläge poltert er die einundzwanzig Stufen herunter und bleibt reglos liegen.
In deinem schwarzen Anzug kommst du auf mich zu. „Wieso musste er so früh sterben, Mama? Das hat er nicht verdient“, deine Stimme klingt weinerlich und zerbrechlich. Ein dicker Klos in meinem Hals hindert mich am Atmen. Ich hasse dich!
****
Dunkelheit umgibt mich, wie ein schwerer Mantel. Ich wollte, dass sie in mich hereinkriecht und mich auflöst. Ich wollte nicht mehr all diese Momente erleben.
Irgendwo tickt eine Uhr. Durch meine halbgeöffneten Augen erkenne ich die verschwommenen Konturen eines Gesichtes, die mit jedem Blinzeln klarer werden. Schwere Augenlieder, fahle, eingefallene Wangen und schlaffe, herunterhängende Mundwinkel. Im grünlichen Licht des Schwesternzimmers blicke ich in mein Spiegelbild. Meine kühlen Finger knöpfen den letzten Knopf meiner Krankenschwesterrobe zu.
Es ist heute, der Tag, an dem alles passiert.
Ich gehe hinaus auf den Flur, meine Schicht sollte gerade beginnen, doch ich gehe weiter, durch eine Doppeltür, den Gang entlang und dann rechts. Die weißen Wände schmerzen in meinen Augen. Hinter einer verschlossenen Tür befindet sich der Giftraum. Meine Finger zittern, als ich den Schlüssel im Schloss drehe.
Ich laufe langsam durch die Regalreihen und überfliege die Anschriften. Betäubungsmittel. Ich bleibe stehen. Ich drehe mich um und realisiere, dass ich alleine bin. In einem Körbchen liegen eine Handvoll Spritzen mit einer klaren Flüssigkeit. Sie sind alle mit LSD beschriftet. Ich nehme eine davon.
Heute mache ich seit 40 Jahren das erste mal blau.
An den Heimweg kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Wahrscheinlich nehme ich die vertraute Umgebung deshalb jetzt nur sehr verschwommen und undeutlich war.
Zu Hause backe ich dir einen Kuchen. Du wirst erst gegen Nachmittag wieder kommen. In der Tasche meiner Schürze steckt die Spritze und ich habe das Gefühl, als würde von ihr ein leichtes Kribbeln in meinen Körper übergehen.
Der Kuchen ist im Backofen. Während ich warte, kommt der alte Kater herein gehumpelt. Ich setze mich auf den Boden und locke ihn zu mir. Als ich ihm in die bernsteinfarbenen Augen sehe, spüre ich, dass er mein Verbündeter ist. „Ab heute sind wir frei.“, flüstere ich ihm zu.
Ich stehe auf und nehme das Telefon aus der Station. Ich wähle die 110. So muss ich später nur noch auf „anrufen“ drücken.
In meinen schlaflosen Nächten hatte ich ihn ausgetüftelt. Den Plan, der alles wieder gut werden lassen soll. Die Spritze, du wirst bewusstlos, die Polizei kommt und nimmt dich mit. Ich werde dich nicht wieder sehen. Manchmal, zwischen den kurzen Momenten zwischen wachen und schlafen, hörte ich die fernen Sirenen, die mich befreien sollten.
Ich laufe in der Küche auf und ab. Der abgewetzte Kühlschrank, der glänzende Marmorboden, die grauen Gardinen. Alles erscheint mir auf einmal fremd.
Ich denke über mein Leben nach. Darüber, was ich alles versäumt habe. Ich war niemals in Paris, obwohl ich fleißig Postkarten von der Stadt, die ich mir wie ein Märchenland vorstellte, sammele.
Ich war niemals mit dir auf einer deiner Schulveranstaltungen. Wenn ich dir sagte, dass ich arbeiten musste, fingst du an zu weinen. Du hast nie verstanden, dass man nicht immer bekommt, was mal gerne hätte. Du hast sie dir einfach genommen.
Ich schlucke schwer. Mit einer ruckartigen Bewegung fege ich das Telefon, das ich noch vor Sekunden bereit gelegt hatte, vom Tisch. Es landet klappernd neben dem Kühlschrank.
Lieber Samuel. Ich war niemals stark genug mich dir in den Weg zu stellen. Meine Angst, vor dir, meinem eigenen Sohn, der zu solch einer Persönlichkeit herangewachsen war, überwog all mein Gewissen. Ich möchte dir sagen, dass ich dich trotz meines Hasses auf dich, der lodert und brennt, wenn ich an all die Frauen denke, über alles Liebe.
Leise zischt das Gas aus dem Herd, als ich den Hahn ein wenig aufdrehe. Gerade so weit, dass du den leicht nach rechts verstellten Hahn nicht zufällig bemerken kannst.
Dein Kuchen ist fertig. Ich hole ihn heraus und lege ihn auf einen Teller. Den Backofen lasse ich offen. Ich hoffe, dass du durch den Kuchengeruch nichts bemerkst
Der Kater ist wieder da, sanft streicht er mir um die Beine. Ich gehe zum Küchenfenster, öffne es und schicke ihn nach draußen.
„Sei frei!“, murmele ich.
Dann höre ich deine Schritte vor der Haustür. Ein letztes Mal ändert sich mein Traum.
****
Der Schmerz, die Hoffnungslosigkeit und all die schrecklichen Gefühle kehren zurück. Ich sinke auf den Küchenboden, das Messer verschiebt sich und ein erneuter schwall Blut sickert heiß in meine Bluse.
Ich sehe ihre Gesichter vor mir. Siebzehn Mädchen. Ihre Bilder kenne ich aus den Zeitungen. Warum, werde ich wohl nie erfahren. In meiner rechten Hand spüre ich einen kleinen Gegenstand
Lieber Samuel. Es gibt so viel, was ich dir noch sagen möchte. Doch stattdessen schweige ich. Ich schweige, wie auch die toten Mädchen stumm geblieben sind, als sie ihren Familien nicht mehr „lebe wohl“ sagen konnten. Ich schweige, wie auch dein Vater geschwiegen hat, und von mir ging, ohne zu sagen, wie sehr er mich liebt. Für all dies hast du gesorgt. Vor Allem schweige ich aber, weil ich es die letzten Jahre getan habe, in denen ich alles, alles hätte tun sollen, nur nicht schweigen.
Mit letzer Kraft entzünde ich das Feuerzeug. In deinen Augen sehe ich die Verblüffung, als du verstehst.
Während ich sterbe, schwebe ich. Eine anmutige Bewegung. Mit jedem Windhauch, der mein Gesicht streichelt, komme ich einem unbekannten Ziel näher. Farben umgeben mich. Ein Meer aus hellen warmen Tönen. Sie jagen um die Wette, rennen davon, zucken, züngeln, lodern. Feuer.