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Lernprozesse
Lernprozesse
Der Chef schließt die Tür zum Flur, macht zwei tänzelnde Schritte und steht plötzlich rechts neben Gesa. Obwohl sie sich vorgenommen hat, diesen erwarteten Schwenk zu ignorieren und hartnäckig nach vorne zu sprechen, dreht sie sich doch mit. Immerhin ist er der Schulleiter und sie bloß eine junge Kollegin. Sie ärgert sich und wartet auf die Eröffnung des Gesprächs.
„Es geht nicht anders, liebe Frau Dobermann, es müssen nun mal alle Klassen versorgt werden. Leider ist Kollege Männlin gesundheitlich angeschlagen und wird so bald nicht zurückkommen. Ich weiß ja, dass alle am liebsten im Zweiten Bildungsweg unterrichten wollen. Aber auch Metzger brauchen Allgemeinbildung. Haben Sie das nicht erst neulich selbst gesagt, als Kürzungen bei Deutsch und Gemeinschaftskunde im Raum standen?“
Gesa erinnert sich nur zu gut. Auf dieser Konferenz ist es hoch hergegangen. Als neu gewählte Sprecherin des Personalrats hat sie leidenschaftlich für eine gerechte Verteilung der Deputate gekämpft und dafür, dass jeder auch mal die schwierigen Berufsschulklassen kennenlernen soll. Es gibt unter den Allgemeinbildnern Erbhöfe, die zäh verteidigt werden.
„Ja aber, … muss es gerade eine Frau sein? Sie wissen doch, dass die Burschen ziemlich robust sein können, allein schon von der Lautstärke her.“
Der Chef tänzelt wieder und steht nun an ihrer linken Seite. Gesa fixiert die mannshohe Zittergraspflanze in der Ecke. Die hat ihm das Kollegium zum fünfundfünzigsten verehrt. Für so ein Dienstgespräch könnte er ihr wenigstens einen Stuhl anbieten.
„Nun ja, Sie als Frau können doch gewiss besänftigend auf die wilden Kerle einwirken. 'Das ewig Weibliche zieht uns hinan', wie schon Schiller sagte.“
Der Chef macht eine Pause. Wahrscheinlich wartet er darauf, dass Gesa ihn korrigieren werde, aber diesen Gefallen tut sie ihm nicht. Auch ein Diplomphysiker hat schon mal was von Schiller und Goethe gehört. Nein, in diese Falle tappt sie nicht.
Gesa macht eine winzige Drehung nach links. Sie drückt die Schultern nach hinten. Dadurch gewinnt sie ein paar Zentimeter an Größe.
„Finden Sie es glücklich, wenn ausgerechnet eine erklärte Vegetarierin in der Fleischabteilung unterrichten soll? Da ist doch ihre Autorität von vorneherein in Frage gestellt.“
„Aber Sie sollen ja nicht Fachkunde unterrichten, nur Allgemeinbildung. Nein, nein, Frau Dobermann, wir lassen es jetzt mal so laufen. Und das mit der Autorität ... Wenn es gar nicht geht, finden Sie immer ein offenes Ohr bei mir. Schicken Sie die Bösewichte auf die Direktion. Ich lese ihnen dann die Leviten. Aber gut, wenn Sie mir einen netten Kollegen als Ersatz präsentieren können … Danke für Ihr Verständnis.“
Er öffnet die Tür und verscheucht damit die Kollegen der Aufsicht, die hastig ihren Kaffee austrinken.
So weit kommt's noch, denkt Gesa, und verschwindet Richtung Pausenhof, um sich mit einer Zigarette zu beruhigen.
Die „schrecklichen Vier“, wie der Personalrat spöttisch genannt wird, treffen sich mindestens einmal pro Woche. Gesa findet es prima, dass sie paritätisch besetzt sind: Zwei Männer und zwei Frauen, alle mit Uni-Abschluss und ähnlicher Biografie, Grundschule, Gymnasium, Uni, Schule. Ihr Durchschnittsalter ist gerade mal zweiunddreißig. Erstaunlich jung für ein Kollegium, in dem viele ältere Lehrkräfte den berufskundlichen Unterricht bestreiten. Es haben sich nur wenige an der Wahl beteiligt. Wahrscheinlich sind denen die Verbindungen zu Handwerkskammern und Innungen wichtiger als das bisschen Mitbestimmung in der Schule.
Im Dachgeschoss des Gebäudes, Baujahr 1906, haben sie sich ein gemütliches Revoluzzerzimmer eingerichtet, die Wände dekoriert mit Plakaten zum Frauenwahlrecht, ganz aktuell zum Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl, sowie das berühmte Bild von Einstein, auf dem er die Zunge herausstreckt. Schließlich gibt es noch ein Poster mit den Vieren vor dem Schulportal. Sie halten gemeinsam ein Spruchband hoch:
Gerechtigkeit und Mitsprache bei der Deputatsverteilung! Unverzüglich und unbeschränkt!
Das Spruchband hatte Marion gestiftet. Sie ist eine begabte Spruchbandmalerin und bei jeder Demo in der Stadt zu finden.
Der Schulleiter hat noch nie einen Fuß in ihre Kemenate gesetzt. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass es sie gibt.
„Er hat es wieder getan und ich blöde Kuh hab es mir wieder gefallen lassen“, sagt Gesa, wirft einen Ordner mit Unterrichtsmaterialien auf das durchgesessene Sofa und legt eine Tüte mit Brezeln auf den Tisch.
„Was denn? Wer denn?“
„Unser aller Chef, der Tanzlehrer. Eins, zwei Cha Cha Cha ...“
Marion lacht.
„Lieber ein Hobbytänzer als ein Hobbyjäger wie sein Vorgänger. Komm, trink erst mal ein Glas Wasser. Sprudel ist aus. Jens und Axel kommen auch gleich. Ich bin gespannt, was du ausgehandelt hast.“
Sie setzt die Kaffeemaschine in Gang. Aus dem altertümlichen Kühlschrank, den sie dem Hausmeister abgeluchst haben, holt sie Dosenmilch und ein Stück Butter. Die Vorräte an Getränken müssen unbedingt aufgefüllt werden. Zum Glück gibt es im Dachgeschoss eine eigene, nur Lehrern zugängliche Toilette und ein Ausgussbecken mit Wasserhahn. Ihre Treffen dauern nie kürzer als zwei Stunden.
„Nicht das, was wir besprochen haben. Ganz im Gegenteil. Ganze fünf Minuten hat er mir gegeben. Aber lass uns auf die beiden warten. Ich habe keine Lust, alles zweimal zu erzählen.“
„Na gut, dann trinken wir erst Kaffee. Sind die Brezeln von heute? Ich hab übrigens schon ein paar Ideen für den Lehrerausflug.“
Nach zwei Stunden haben sie noch immer keine Lösung. Jens findet Gesas Argumente im Prinzip richtig, kann sich aber nicht aufraffen, einen Kollegen vorzuschlagen, schon gar nicht sich selbst. Er sei unabkömmlich bei den Optikern. Das habe ihm der Fachgruppenleiter versprochen. Axel deutet auf das Plakat mit dem Frauenwahlrecht und sagt: „Gleiche Rechte, gleiche Pflichten.“ Daran knüpft sich eine lebhafte, auf allerhöchstem Niveau geführte Debatte über die Begriffe Gleichheit und Gerechtigkeit.
Marion, als Kunstlehrerin im Zweiten Bildungsweg ohnehin nicht tangiert, schlägt vor, einen der beiden neuen Kollegen zu überreden. „Jeder hier muss mal klein anfangen. Wenn nicht, Gesa, dann musst eben du in den sauren Apfel beißen. Du gehst dann einfach mit gutem Beispiel voran. Das ist großartig fürs Ansehen des Personalrats. Und du schaffst das, ich weiß es. Wir alle wissen es.“
Marion beherrscht die Kunst der Manipulation aus dem Effeff. Zum Trost und weil es schon nach fünf Uhr nachmittags ist, trinken sie noch einige Runden Calvados. Nach zwei Gläsern gibt Gesa klein bei.
Gesa steht vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und prüft ihr Erscheinungsbild. Kollege Becherer, der mit ihr zusammen die Theoriefächer im zweiten Lehrjahr Metzger unterrichten wird, hat ihr ein paar gute Ratschläge gegeben und dabei anzüglich gegrinst.
„Zieh bloß keinen Minirock an. Das ist total riskant, wenn du was an die Tafel schreibst. Und Bücken ist auch nicht günstig. Die Burschen lassen gerne mal was runterfallen und hoffen auf deine Reflexe.“
„Hast du nicht was Substanzielleres anzubieten?“
Der Kollege wird ernst.
„Doch. Lass dich auf keinen Fall provozieren. Es sind nicht alle Rabauken oder Dummdödel. Da sind ein paar ehrgeizige Burschen darunter, die können dir ganz schön knifflige Fragen stellen. Meistens sind das Söhne von Innungsmitgliedern.“
„Kann es da Ärger geben, Jugendarbeitschutz, Gewerkschaften und so …?"
„Halt dich an die Lehrpläne. Nur die Note in Wirtschaftskunde zählt bei der Kammerprüfung mit. Da sind sie in der Regel ganz gut bei der Sache.“
„Aha. Und der Rest ist für die Tonne? Schöne Aussichten.“
Becherer wird noch ernster, fast streng.
„Nein, Gesa, es kommt darauf an, was du daraus machst. Und vielleicht solltest du dir mal einen Handwerksbetrieb von innen ansehen … Ich vermittle dir gerne einen Besuch, wär auch nicht schlecht für die anderen drei im Personalrat.“
Allgemeinunterricht findet in der Regel nach der einstündigen Mittagspause statt. Drei Fächer in neunzig Minuten. Die Schüler haben dann schon fünf Schulstunden hinter sich und sind gerade im berüchtigten Mittags-Tief.
Die Luft im Klassenzimmer ist zum Schneiden und riecht ein wenig nach Kneipe. Gesa geht zur Tafel vor, durch die zwei Tischreihen, die mehr oder weniger akkurat nach vorne ausgerichtet sind. Die Schüler dösen oder spielen Karten. Nicht alle nehmen Notiz von ihr. Sie wischt einen Teil des Tafelanschriebs vom Vormittag weg und schreibt:
Guten Tag! Ich bin Frau Dobermann und unterrichte bei Ihnen Deutsch, Gk und WK.
„Wau! Wau!“, tönt es aus den hinteren Bänken, einige lachen. Und sofort fällt ein Chor ein: „Wuff! Wuff!“
Gesa lacht mit. Sie kennt das schon. Immerhin sind jetzt alle wach. Sie hat einen Fragebogen vorbereitet, auf dem die Schüler aufschreiben sollen, was sie von diesen drei Fächern für ihren Beruf erwarten, und dann noch, was sie von ihr als Lehrerin erwarten. Sie teilt das Arbeitsblatt selbst aus. Da kann sie die Burschen aus der Nähe betrachten. Sogar im Sitzen sind die meisten größer als sie, stämmige Kerle, mit behaarten Unterarmen und Schnittnarben an den Händen, die zupacken können.
Für heute will sie sich nicht an die strenge Einteilung der Fächer halten. Vielmehr möchte sie noch eine Kennenlernrunde anschließen, eventuell die Sitzordnung verändern.
Zunächst wird es still im Raum. Einige schreiben eifrig. Einer hebt die Hand. Es ist ein schmächtiger Junge mit abstehenden Ohren, sicher einer der Jüngsten in der Klasse. Sie hat ihn zuerst gar nicht wahrgenommen.
„Ja, was gibt's?“
„Kann ich heute früher gehen, meine Oma wird morgen krank.“
Sofort schauen alle auf. Der Knabe ist wahrscheinlich der Klassenclown.
„Tatsächlich?“, sagt Gesa, „Das tut mir aber leid für Ihre Oma. Morgen können Sie früher gehen. Bestimmt gibt Ihnen Ihr Chef frei.“
Zack! Abgebügelt. Gleich mal die Keule geschwungen. Hat sie sich jetzt doch provozieren lassen? Gesa ist nicht ganz zufrieden mit ihrer verbalen Reaktion. Ironie und Sarkasmus sind keine guten pädagogischen Konzepte, hat sie gelernt. Fast bekommt sie ein schlechtes Gewissen.
Die Aktion Arbeitsblatt zieht sich hin. Gesa möchte den nächsten Punkt, die Vorstellungsrunde, noch unterbringen. Das Tische- und Stühlerücken braucht Zeit. Auch wenn Gesa erklärt hat, dass sie den Ball auch gegenseitig zuwerfen sollen, landet er doch immer wieder bei ihr. Nicht alle Fragen will oder kann sie ehrlich beantworten, zum Beispiel die, ob sie lieber weißes oder rotes Fleisch äße. Eine Viertelstunde vor dem Gong bricht sie ab, sammelt die Fragebogen ein und lässt aufräumen, Stühle hochstellen und die Tafel wischen. Ausgerechnet Erwin, der Klassenclown, bietet sich an und geht als letzter, bevor sie abschließt. Sie kann noch nicht einschätzen, ob der erste Tag ein Erfolg war.
Am folgenden Mittwoch betritt sie beklommen das Klassenzimmer. Sie hat die Ergebnisse des Fragebogens im Kopf. Danach müsste sie eigentlich zuhause bleiben. Deutsch können sie genug, Gemeinschaftskunde ist langweilig und unverständlich. Wirtschaftskunde brauchen sie halt für die Gesellenprüfung, eine Vier reicht zum Bestehen.
Und sie wollen nicht mit 'Sie' angesprochen werden. Im Handwerk duzen sich alle. Zum Chef sagen sie, he Chef, erklärst du mir mal, wie ...
Die dreiteilige Tafel ist zugeklappt, scheint frisch geputzt. Diesmal drehen sich die Köpfe zu ihr um, Erwartung blitzt aus ihren Augen.
Sie öffnet das pädagogische Tryptichon. Eine eindrucksvolle Kreidezeichnung, fünfzig Zentimeter hoch und anatomisch perfekt, springt sie an. Liebevoll hat der Künstler gekräuseltes Haar um die Peniswurzel gemalt. Darunter steht: für Frau Dobermännchen.
Gesas erster Impuls lässt sie nach dem Schwamm greifen. Dann zögert sie ungefähr achteinhalb Sekunden, wischt schließlich nur den Text weg und zeichnet statt dessen eine riesige Comic-Sprechblase neben das Werk.
„Dann wollen wir doch mal sehen, welche Wörter ihr für dieses Ding habt. Ich nenne es meistens Glied oder Penis.“ Sie notiert die beiden Begriffe in die Sprechblase. „Wer einen Begriff weiß, kann ihn hier dazuschreiben.“
Das Brainstorming ist zuerst nur ein leises Säuseln, dann aber schieben sich die Leitwölfe der Klasse nach vorne. Sie haben eine erstaunliche Vielfalt in ihrem Repertoire, Gesa muss manchmal nachfragen, weil sich die Orthographie nach dem Mündlichen richtet. Es wird viel gelacht. Ohne Aufforderung schreiben die jungen Männer alles mit, so dass es ganz leicht ist, zur Gruppenarbeit überzugehen. Sie sollen untereinander diskutieren, warum es so viele Ausdrücke gibt und ob man sie überall und jederzeit verwenden darf.
Diese neunzig Minuten gehen im Flug vorbei, Gesa setzt sich immer wieder mal an einen Vierertisch und hört zu. Mehr ist nicht nötig und sie erfährt interessante Details aus dem Seelenleben der Azubis. Heute übernimmt sie das Tafelputzen selber. Einige verabschieden sich sogar persönlich von ihr, mit aufgerecktem Daumen. Jetzt hat sie wohl einen Fuß in der Tür.
Einige Wochen dauert es, dann kann Gesa für sich verbuchen, dass der Unterricht halbwegs nach ihren Vorstellungen läuft. Natürlich gibt es zähe Phasen, in denen die Schüler Null-Bock auf Formbriefe-Schreiben oder Institutionenkunde haben. Gesa sucht sich dazu in Zeitungen und Zeitschriften Materialien zusammen, die irgendwie einen Bezug zur Lebenswelt von Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen haben. Ihre Produktion an Arbeitsblättern steigt sprunghaft an. Vor Unterrichtsbeginn hat sie einen Stammplatz am Kopierer, wo sie lebhaft für ihre Idee wirbt, sich gemeinsam auf den Unterricht vorzubereiten.
Es sei doch blöd, wenn jeder allein vor sich hinwurschtle. Sie erhält viel rhetorische Zustimmung, praktisch aber bleibt sie Einzelkämpferin. Einem Ochsen ins Horn „pfetzen“, erzeuge mehr Wirkung, mault sie bei einem ihrer Personalratstreffen. Jens schlägt ihr zwischen die Schulterblätter, dass sie in die Knie geht.
„Kopf hoch, Genossin“, sagt er von oben herab, „wer wird denn hier schon aufgeben? Der Schulterschluss zwischen Vollakademikern und Praktikern ist eine Dezenniumsaufgabe. Diesen Prozess haben wir erst begonnen.“
Klugscheißer, denkt Gesa, arrogantes Arschloch, war der schon immer so? Und merkt, dass sie dabei ist, die Fronten zu wechseln.
Und dann sind da noch Klassenarbeiten zu schreiben, es gibt eine vorgeschriebene Mindestanzahl für jedes Fach. Korrigieren und Benoten sind für Gesa die unangenehmsten Pflichten. Sie hasst den Kampf um die Zehntel, den sie auch aus ihren Klassen im Zweiten Bildungsweg kennt.
Der Blick auf die Themen in der Abschlussprüfung in den letzten Jahren gibt ihr wenigstens einen Anhaltspunkt, was verlangt wird. Das leuchtet wahrscheinlich auch den Azubis ein. Und so gräbt Gesa für Deutsch Themen aus, die dem Stoff aus den beiden ersten Lehrjahren entsprechen.
Draußen ist es schwül, trotzdem hat Gesa das Klassenzimmer noch einmal durchlüften lassen.
Sie schreibt die Aufsatzthemen an die Tafel. Eines ist nach freier Wahl zu bearbeiten, ganz wie im Prüfungsernstfall.
Erstellen Sie einen Bericht über einen Verkehrsunfall aus der Sicht eines Beteiligten. Der Bericht ist für die Unfallversicherung.
Sie müssen aus familiären Gründen Ihren Ausbildungsplatz aufgeben. Schreiben Sie an den Lehrlingswart Ihrer Innung und erläutern Sie ihm Ihre Gründe.
„Ich hab mir solche Mühe gegeben, und trotzdem ist es mir nicht gelungen.“
Schreiben Sie dazu eine erlebte oder erfundene Geschichte.
Zeitvorgabe: 90 Minuten. Numerieren Sie die Seiten und geben Sie die Entwürfe mit ab.
Gesa ist gespannt, ob einer sich an das dritte Thema wagt. Es ist ja nicht einfach zuzugeben, wenn man gescheitert ist. Sie wundert sich, dass dieses Thema überhaupt Eingang in die Prüfungsaufgaben gefunden hat. Ist doch verdammt pessimistisch und eher kontraproduktiv zum sonst geförderten Optimismus im Unterricht.
Der Erste steht nach knapp dreißig Minuten am Pult und wedelt mit zwei Blättern.
„Was? Du kannst doch unmöglich fertig sein. Zeig mal her. Ziemlich unleserlich. Ist das die Reinschrift?“
„Nee, der Entwurf, ich wollte bloß, dass Sie mal einen Blick drauf werfen.“
„Aber du weißt doch, dass wir heute unter Prüfungsbedingungen arbeiten. Und Hilfestellung darf die Aufsichtsperson nicht geben. Sie kann dir höchstens erlauben, aufs Klo zu gehen. Also zisch ab, schreib das Ganze ins Reine, und das meine ich wörtlich.“
„In echt?“
„In echt. Du hast noch reichlich Zeit.“
Nach weiteren dreißig Minuten gibt es bereits eine Schlange von denen, die ihre Arbeit für beendet halten. Sie haben es eilig, denn Gesa hat versprochen, wer fertig ist, darf gehen, eine gute Gelegenheit für manche, einen Zug früher zu erwischen.
Gesa selbst hat auch nichts dagegen, wenn sie früher nach Hause kommt. Da wartet noch ein Berg mit anderen Korrekturen auf sie.
Zwei einsame Schreiber wollen anscheinend die volle Zeit ausnützen. Gesa will zwar nicht drängeln, mahnt aber doch, zum Schluss zu kommen.
Schließlich bleibt nur noch einer übrig, Erwin, der Bauernbub von der Prechtalalm.
„Die Zeit ist um, Erwin, du musst abgeben.“
„Ja, gleich, nur noch ein Satz. Bitte!“
Gesa wartet, aber Erwin kaut nur auf seinem Kuli herum.
„Erwin, ich muss dir die Arbeit jetzt wegnehmen“, sagt Gesa und zupft an dem Blatt, auf das der Junge seine rechte Faust presst. Das Papier bekommt einen kleinen Riss. Mit der linken Hand kritzelt er ein paar Worte, dann legt er alles zusammen und streckt ihr den Stoß wortlos entgegen. Es sind mindestens fünf Blätter. So viele hat sonst keiner abgegeben. Erwin packt seine Sachen, schaut grußlos an Gesa vorbei und schlägt die Tür hinter sich zu.
Gesa hat sich Erwins Arbeit bis zuletzt aufgehoben. Schon am Vormittag hat er sie auf dem Pausenhof abgepasst.
„Meine Geschichte, haben Sie die schon gelesen?“
Er schaut sie erwartungsvoll an, kann es kaum aushalten, wie ein Kleinkind.
„Aber Erwin, so schnell bin ich nicht, gestern Abend hatte ich auch noch was anderes zu tun. Warum hast du's denn so eilig?“
„Nur so, ich wollt halt bloß wissen … Ich hab doch den letzten Satz nicht richtig aufschreiben können.“
„Nächste Woche kriegt ihr die Arbeit zurück. Also der letzte Satz. Ich werde ja sehen, wie wichtig er ist. Mach dir mal keinen Kopf.“
Erwin zieht ab zu seinen Klassenkameraden, die ihn bestimmt ausfragen, was sie gesagt hat. Vielleicht haben sie ihn vorgeschickt. Sie sieht, wie er den Kopf schüttelt.
Gesa hat sich einen starken Schwarztee aufgegossen. Der Rücken tut ihr weh nach dem langen Sitzen am Schreibtisch. Sie muss sich erst einmal dehnen und strecken. Nun also noch Erwins Geschichte. Die beginnt langatmig mit einer Beschreibung von Erwins Elternhaus, der Wohnung und dem Stall unter dem tiefgezogenen Dach. Komm zur Sache, denkt Gesa, für heute reicht's mir.
Erwins Lieblingskuh soll also ein Kälbchen bekommen und deshalb wollte er rechtzeitig zuhause sein. Leider hat ihn Frau Dobermann nicht früher gehen lassen. Das mit der Oma war natürlich ein blöder Spruch. Soso, aber wieso hat er nicht offen gesagt, was los ist? Na klar, es war ja auch der erste Unterricht bei mir.
Erwin beschreibt, wie sich die Geburt in die Länge zieht, wie er sich im Stall für die Nacht einrichtet, um helfen zu können, falls der Vater das Kalb mit Stricken herausziehen muss.
Schließlich liegt das Neugeborene im Stroh. Es ist ganz schwach und bewegt sich kaum. Erwin wischt es ab, wärmt es, tut alles, um es am Leben zu erhalten. Gegen Morgen ist das Kälbchen tot.
Und zuletzt schreibt er: Ich hab mir solche Mühe gegeben und dann ist es doch gestorben. Ich war so traurig, dass …
Hier bricht der Text ab. Gesa ist beeindruckt und irgendwie beschämt. Der Junge hat eine gute Geschichte geschrieben, zwar viele Fehler, aber doch einfühlsam und nicht ohne Spannung. Hat sie nicht insgeheim geglaubt, Metzger seien rohe, unsensible Kerle, denen das Töten und Schlachten von Tieren nichts ausmacht?
Vielleicht mag Erwin seine Geschichte vorlesen. Oder er erlaubt, dass Gesa sie vorträgt.
Und dann wird sie das Thema Vorurteile im Unterricht aufgreifen müssen. Sie weiß jetzt schon, dass sie da keinen leichten Stand haben wird. Aber anders, als sie am Anfang geglaubt hat. Womöglich muss sie doch bekennen, dass sie Vegetarierin ist. Das wird ein heißes Eisen.