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Lepra
Wenn man in Berlin irgendwohin geht, wo man niemanden kennt, läuft man gegen eine Mauer aus Gleichgültigkeit.
Als definitives Eingeständnis, ein Outcast zu sein, gilt ja, alleine in einem Club oder bei einem Konzert zu stehen. Alle meiden einen wie eine Leprakranke
- zum Glück haben meine Ärmel Überlänge, so dass sie meine Hände bedecken, und niemand kann sehen, dass ich an jeder Hand nur drei Finger habe. Na ja, der Ehrlichkeit halber, an der Rechten sind es bloß zweieinhalb -
und geben einem zu verstehen, dass sie nichts mit einem zu tun haben wollen, und man gefälligst dahin gehen soll, wo man hergekommen ist.
Wir sind ja hier unter uns, deshalb brauche ich mich nicht zu genieren und kann eingestehen, was ich bisher immer sorgsam zu verbergen trachtete, nämlich, dass ich ein Typ bin, der überall mitgemischt hat, aber immer fand, dass er eigentlich nirgendwo so richtig hinpasste und hoffte, dass das nicht auffiel. Mein Versuche, die Farben der Umgebung anzunehmen, waren meist von wenig Erfolg gekrönt. Damit hatte ich mich schon abgefunden.
So war ich weder Fisch noch Fleisch. Die normalen Bürger mochten mich nicht, und zu der alternativen Szene gehörte ich auch nicht wirklich mit dazu, so sehr ich mich auch bemühte.
Anschluss zu finden, funktioniert eigentlich nur über die Mann-Frau-Schiene.
Wenn jemand bei meinem Anblick denkt: „Mann, mir ist heute gerade so“, könnte es etwas werden mit der Anschlussfindung. Frauen bracht man gar nicht anzureden, wenn man das selbe Geschlecht hat. Die sehen in einem nur die Konkurrenz. Es sei denn, sie sind Lesben.
Das fällt zwar weg, wenn man das Gespräch mit Männern sucht, dafür kann es passieren, dass sie sich blöd angemacht fühlen. So nach dem Motto: „Was will die von mir?“. Vielleicht hat er Angst, dass ich mich heißhungring auf ihn stürze. Heiß ist mir zwar, aber nicht wegen den Hormonen, sondern wegen der Demse hier.
Ich brauchte erst ein Weile, um zu kapieren, dass einer Frau alle Kontaktversuche in öffentlichen Räumen, die dem Vergnügen und der Unterhaltung dienen, wie Konzerthallen, Kneipen, Clubs, als Anbahnungsversuche, als sexuelle Avancen ausgelegt werden. Ich wundere mich, dass viele die Wirkung von sich auf Andere so überschätzen, sich gleich angemacht fühlen und nicht auf die Idee kommen, dass hier jemand einfach nur Anschluss sucht.
Wahrscheinlich ist es so, dass solche Lokalitäten in erster Linie dazu dienen, um Geschlechtspartner zu finden. Da machen auch Hausbesetzer keine Ausnahme.
Auch in ihren Kneipen, wo es mich hinzog, weil ich dachte, dass dort die Leute im Zwischenmenschlichen andere Wege gehen wollen, und ich eigentlich mit Diskussionen über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan rechnete, oder der Aufforderung auf die nächste Demo mitzukommen, funktionierte Anschlussfindung nur über die Mann-Frau-Schiene.
Immer, wenn ich versuchte dort mit jemandem ins Gespräch zu kommen, meist vergeblich, sah ich anstelle des rastalockigen Autonomen einen kleinen Jungen sitzen, dem seine Eltern gesagt hatten: „Mit der Nachbarstochter spielst du nicht. Ihr Vater ist nur Hausmeister.“ Das hatte er verinnerlicht.
Als ich einmal aus der Köpi, einer Besetzerkneipe, raus auf die Straße trat, redete mich ein Busfahrer an, der dort ein kurze Pause machte. „Ich bin schon seit vierzehn Stunden auf dem Bock“, erzählte er mir. Wie froh war ich, endlich mal wieder mit jemandem zu reden, denn ich war schon richtig menschlich ausgehungert. Er war der Erste an diesem Abend, mit dem ich ein Wort gewechselt hatte. Viele der Besetzerkneipen wirkten auf mich wie begehbare Kühlschränke.
So stand es in der zitty eines Tages: „Sie sind bekannt dafür, dass sie bisher noch jeden Saal leergespielt gekriegt haben“. Mein Interesse war geweckt. Ein Elektronikevent wurde angekündigt. Neben dem Großen, dem weltberühmten Technoschuppen, steht sein kleiner Bruder, ein einfacher Flachbau. In den „Großen“, um den sie immer so ein Gewese machen, hätten sie mich sowieso nicht reingelassen, da ich dafür nicht cool genug rüberkomme. Deshalb wollte ich wenigstens mal in den „Kleinen“.
Unwegsames Gelände am Ostbahnhof.
Ich finde mich nicht zurecht, aber zwei freundliche Transen, die dort den Einlass machten - im Berghain selbst war wohl an dem Tag ein Konzert in der Panoramabar - verwiesen mich nach links, wo sich ziemlich versteckt die Kantine befand.
Die meisten Leute hielten sich vor dem Gebäude auf. Nachdem ich eingetreten war, wurde mir auch klar weshalb. Man prallte ja regelrecht gegen eine Wand aus schlechter Luft und Hitze. Also wieder nach draußen. Dort kam ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die auf ihre Freunde wartete, eine bildhübsche Brünette mit schwarzen Rastas, die mir erzählt, dass sie Judith heißt. Sie weiß, dass das Konzert erst um elf beginnt.
Sie hatte es aus erster Hand, denn ihr Kumpel sollte der Eröffnungsmusiker sein. Also musste ich noch anderthalb Stunden rumbringen. Wir setzen uns in einiger Entfernung von der Kantine auf eine Bordsteinkante.
Viele von den Besuchern waren wohl auch das erste Mal da. Sie alle liefen an mir vorbei, zielgerichtet zwischen den Müllcontainern hindurch, die Kellereinfahrt runter und rüttelten dann verzweifelt an der Kellertür. Keiner fragte mich, wo es lang geht. „Ihr müsst um das Haus herum laufen“, rufe ich den vom rechten Wege Abgewichenen, die gerade dabei waren, gegen die Kellertür zu treten, trotzdem freundlicherweise hinterher, und lenke die Schritte der Verirrten in Richtung Eingang.
Mit zwei Stunden Verspätung begann endlich das Konzert. Also wieder rein in die Demse. Der erste Musiker war der Kumpel von Judith.
Er hatte verschiedene Klangkörper aufgebaut, auf die er abwechselnd schlug. Leider etwas kurz nur, aber er freute sich, als ich ihm später sagte, dass mir sein Auftritt gefallen hatte. Wer hört sowas nicht gern? Überhaupt kommt man manchmal mit Musikern, die man am Bierstand trifft, viel leichter ins Gespräch als mit den Übrigen.
Obwohl es erst so spät angefangen hatte, waren die Umbaupausen auch nicht ohne. Ich musste immer wieder fasziniert einen Mann bzw. eine Frau anschauen.
Manchmal war ich mir völlig sicher, dass ich eine Frau vor mir habe, dann überkamen mich wieder Zweifel, weil die Person bestimmt Schuhgröße 48 hatte und fast 2 m groß war.
Derjenige - Diejenige musste schon schmunzeln, aber an erstaunte Blicke war sie er bestimmt gewöhnt.
„Bin ich hier die einzige Normale unter Verrückten, oder ist es umgekehrt?“, frage ich mich. Der Gedanke kommt mir, weil ich weit und breit die Einzige zu sein scheine, die nicht abgeneigt ist, mit den Anderen ins Gespräch zu kommen.
Unter meiner harmlosen Oberfläche, meinem glatten Allerweltsgesicht brodelt es. Hier lauert ein neugieriger Dibbuk, der raus will in die Welt und scharf darauf ist, Leute vollzuquatschen, bis ihnen die Ohren glühen.
Kein Wunder, stamme ich doch von mütterlicher Seite und auch väterlicherseits von kontaktfreudigen Leuten ab. Mein Mutter, selber eine Quaselstrippe vor dem Herrn, hat mir erzählt, dass ihr immer, wenn sie an der Tür seiner Dorfkneipe vorüberging, schon von weitem die Stimme von meinem Vater entgegenschlug, der drinnen wieder mal das große Wort führte. Schade, dass wir uns nie kennengelernt haben.
Trotz allem hat er mir seine Redseligkeit als Erbteil überliefert, die jetzt aus mir rausdrängt. Dagegen scheinen die Anderen von Leuten abzustammen, die das Schweigegelübde abgelegt haben. Meine drei Cola-Wodka verstärkten das Bedürfnis nach Kommunikation nur noch. Leider sahen alle an mir vorbei. Ich war die Königin aller Uncoolen. Das fiel mir nicht zum ersten Mal auf.
Jeder, außer mir, schien sich pudelwohl zu fühlen in dieser menschlichen Gefrierfrostatmosphäre.
Mit Alkohol geht es mir so wie Herrn Puntila aus dem gleichnamigen Theaterstück. Das hatte ich mal gesehen, als meine Lehrlingsgruppe auf ein verlängertes Wochenende nach Berlin fuhr. Wir übernachteten im Internat von einer Partnerberufsschule von einem Vorort, wo die Lehrlinge auch Berufsausbildung mit Abitur in der Landwirtschaft machten. Einer, der von hier war, hatte Karten für das Berliner Ensemble besorgt. Das Stück von unserem Vorzeigeintellektuellen*, der rund um die Uhr gepriesen wurde und auf so einem hohen Podest stand, dass sein Haupt bis in die Wolken reichte, haute mich um. Lasst euch Puntila nicht entgehen, er ist der Hammer! Hätte ich dem Meister gar nicht zugetraut. Der Kaukasische Kreidekreis und Die Gewehre der Frau Carrar hatten mich schon genug angeödet.
Damals, mit siebzehn oder achtzehn hatte ich noch kaum Erfahrung mit Hochprozentigem. Aber als ich dann später einges nachholte, was ich übrigens nie bereut habe, wurde mir klar, dass eigentlich ich Herr Puntila bin. Dem Kumpel kam auch immer sein besseres Ich hoch, wenn er tief ins Glas kucke. Manche Leute macht es aggressiv, ich dagegen verschenke mein letztes Hemd, wenn ich was getrunken habe. Ich falle sozusagen in mein besseres Selbst. Meist erzählen mir dann die Leute stundenlang ihr Leben, und ich höre geduldig zu, was mich normalerweise langweilen würde. Wenn sie mir dann später nüchtern wiederbegegnen, sind sie oft enttäuscht, dass ich in Wirklichkeit ganz anders bin. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen deswegen. „Du bist die geborene Alkoholikerin“, hat meine Freundin mal zu mir gesagt.
Frage: „Was ist eigentlich mein wirkliches Ich?“ Fest steht nur, dass sich hier momentan sowohl mein wirkliches und mein unwirkliches, als auch mein imaginäres Ich `nen Ast langweilen in diesem Schuppen.
Übrigens bei der Band hat die zitty richtig gelegen. Zum Schluss, es war wohl gegen halb drei, waren nur noch eine Japanerin – überall, wo verrückte Musik läuft, trifft man Leute aus Nippon, sie scheint es dort magnetisch hinzuziehen, Blixa Bargeld ist ja auch mit einer Japanerin zusammen - ein junger Mann und ich die letzten Zuhörer, obwohl es zu Anfang gut gefüllt war.
Die, mit der ich auf der Bordsteinkante vor dem Club gesessen hatte, hatte sich auch schon verflüchtigt, wohl nachdem sie mitgeschnitten hatte, dass ich nicht gerade zum Insiderkreis gehörte. "Bestimmt will sie nichts falsch machen, und sich nur mit den Richtigen anfreunden, die ihr nützlich sein können", denke ich verständnisvoll.
Sie hatte den entschlossenen Blick, den Leute haben, die sich vorgenommen haben, alles richtig zu machen.
Man zeigte Videos, die mit einer Elektronikmugge, die ein bisschen an Einstürzende Neubauten erinnerte, unterlegt wurden. Aber mir hat es gefallen. Die „Kassette „ - ich wußte gar nicht, dass sowas noch hergestellt wird -, die ich mir am Merchandisestand kaufte, kann ich als Rausschmeißer benutzen, um unliebsame Gäste loszuwerden. „Damit hast du einen guten Griff gemacht“, sagt derjenige, der neben mir steht.
Interessiert betrachte ich mir ihn und die anderen jungen Männer näher, die um den Stand herumstehen, und alle wie Gymasiasten aussehen.
Sie scheinen begeisterte Fans von anspruchsvoller Electronikmugge zu sein und zu den Bands zu gehören. Ein sehr homogener Kreis. „Wo kommt ihr her, wo wollt ihr hin?, frage ich mich.
Sie erinnern mich an jemanden, mit dem ich zusammen Abi gemacht habe. Ich war heimlich in ihn verknallt. Ein wanderndes Musiklexikon, der alles hörte, was ihm in die Finger kam. Als unsere Klasse einen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt in Rostock machte, schlich ich heimlich hinter ihm her. Er steuerte den einzigen Plattenladen in ganz Rostock an. Durch die Scheiben konnte ich das weiße Doppelalbum erblicken, dass er kaufte. Natürlich holte ich es mir auch, als er aus dem Laden war.
Es war Czeslaw Niemen. Die verrücktesten Töne, die ich je vernommen hatte, mit denen ich absolut nichts anfangen konnte. Heute natürlich schon. Warnung. Wild Stuff, macht süchtig. Das war meine erste Erfahrung mit elektronischer Klangkunst. Später, als wir wieder im Zug saßen, und alle meine Platten bewunderten, tat ich so, als wenn ich von dem Künstler schon mal irgendwas gehört hatte, um ihm zu imponieren. Er staunte. Das hätte er mir nicht zugetraut, dass ich so bewandert war.
Epilog:
Ich kenn viele, die eigentlich nichts interessiert, was sich außerhalb ihres kleinen Zirkels abspielt. Sie gehen damit Gefahren aus dem Weg, vermeiden aber auch Reibungsflächen. Das macht ihr Leben übersichtlich, aber es trocknet es auch irgendwie aus, weil frische Zuflüsse fehlen. Meine lesbische Freundin hat einen Freundeskreis von Leuten, wo sie sich im Grunde selber noch mal hat. Da versackt man auch irgendwie drin, weil niemand einem Contra gibt. Salinger hat ja auch nichts Vernünftiges mehr fertig gekriegt, als er nur noch im Wald gesessen hat.
Ich dagegen versuche immer, mich mit Fremden anzufreunden. „Das ist ein Merkmal von Hysterikern“, las ich mal. Vielleicht ist da was Wahres dran.
Fazit: Ich komme zu dem Schluss, dass ich eine Störung haben und keine kleine. Ich weiß nicht, welchen Namen die Psychofritzen dafür haben. Antisozialphobie?
*Brecht