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Leo

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19.06.2002
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Leo

Der Deich war hoch. So hoch, dass er uns beschützte, uns eine unbeschwerte Kindheit bot. Damals. Dort, hinter dem Deich.
Wir waren eine muntere Schar, blond, schlaksig, die durch das kleine Dorf tollte, das sich mit seinen reetgedeckten Häusern hinter den Deich duckte. Nur Leo war anders. Kleiner, mit dunklem Kraushaar, etwas rundlich, dazu den Ansatz einer Hakennase.
Trotzdem gehörte er zu uns. Irgendwie.
Wer in unserem Dorf nicht Hansen hieß, hörte wenigstens auf Christensen, Sörensen oder Jensen. Nur Leo nicht. Er trug den Zunamen Goldstein. Auch war sein Vater kein Landwirt, Schmied, Lehrer oder Pastor wie unsere Väter, sondern Maler. Bunte Farbkleckse, die sich zu keiner sinnvollen für uns erkennbaren Komposition vereinigten, waren auf seinen Bildern zu sehen.
Unsere Welt war begrenzt durch den Horizont, der irgendwo in der Ferne die unendliche Weite der grünen Landschaft mit dem Himmel zusammenfließen ließ, und durch den Deich.
Was uns auch immer an sensationellen Nachrichten aus unserer kleinen Welt erreichte, die Kinderschar war stets als erstes am Ort des Geschehens. Nur Leo war immer der Letzte, der eintraf. Er war immer zu spät.
Wenn wir Jungen auf der Krone des Deiches unsere Kräfte im Wettlauf maßen, gehörte Leo stets zu den Verlierern. Er hatte keine Kondition.
Mit dem Hereinbrechen der ersten Herbststürme versammelte sich die Kinderschar in jeder freien Minute am Siel, das der Entwässerung des Kooges diente, um fasziniert den donnernd anrollenden Wellen zuzuschauen, die sich dort an den Buhnen brachen. Die schäumende Gischt stürzte in einer geschlossener Wasserwand über den schmalen Steg herein, der den Deichdurchlaß krönte. Kurz bevor die Front unseren Standort erreichte, sprangen wir mit dem kindlichen Glücksgefühl zur Seite, dem über uns hereinbrechenden Nass entkommen zu sein und nur den Hauch Feuchtigkeit zu spüren, der bei diesen Spielen unvermeidlich ist.
Nur Leo stand oft am falschen Platz. Regelmäßig stürzte der Wellenberg über ihn herein, so dass er wie ein begossener Pudel heimwärts zog.
Das war Leo, der Verlierer. Ohne Kondition, immer zu spät, stets am falschen Platz.
Selbst unser Lehrer hat einmal in einer schwachen Stunde verkündet, dass aus Leo nie etwas wird.
Auch seine Familie war einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen...
Wie gerne hätten wir jenen wundervollen Zustand bewahrt, dort hinter dem Deich, die unbeschwerte Zeit der Kindheit konserviert. Wir hätten viel dafür gegeben, wenn wir den Uhrzeiger am Turm unserer kleinen Backsteinkirche hätten anhalten können.
Jedes Jahr wurden wir ein wenig größer. Es drohte der Zeitpunkt zu kommen, an dem wir über den Deich blicken konnten.
Auch Leo wuchs, nur immer etwas langsamer als wir anderen.
Es war eine kräftige Sturmbö, unverhofft und unerwartet, die mitten in die einst fröhliche Kinderschar hineinfuhr und die einzelnen von uns wie wehrlos dem Wind ausgesetzte Blätter über das Land verteilte. Jeder verlor sich an einem anderen fremden Ort, folgte der Spur des eigenen Lebens.
Und mit der ersten Brille kam im Laufe der Jahre auch eine andere Sicht der Dinge. Man sah herab auf die eigenen Kinder, sah diese groß werden, einen irgendwann selbst überragen und verfolgte mit nie endendwollender elterlicher Sorge deren Lebensweg.
Und diesen Lebensweg des motorradbegeisterten Sohnes kreuzte unverhofft eine Ölspur. Es ist kritisch hatte die Stimme aus dem Krankenhaus gesagt.
Seit mehreren Stunden bemühten sich die Ärzte hinter der unscheinbaren Tür. Kein Laut drang heraus, niemand betrat oder verließ jene verschlossene Welt, die noch eine andere Pforte hatte. Jene, von der ich mir nicht vorstellen möchte, dass mein Sohn sie betrat.
Bei meiner Wanderung über den kalt gefließten Flur begegnete ich immer wieder der Wanduhr. Sie starrte mich an. Fast höhnisch. Sie hatte nichts gemein mit ihrer Schwester auf dem Kirchturm, die fast fröhlich mit ihrem dünnen Schlag den Fortschritt der Menschheit verkündete.
Ich hatte aufgehört, die Runden zu zählen, die der große Zeiger in der Zwischenzeit zurückgelegt hatte, die Stunden zu erfassen, die durch seine Bewegung zur Geschichte geworden waren, als sich die Tür am Ende des Flures öffnete.
Mit müden Schritten kam der leitende Chirurg auf mich zu, gezeichnet von den Strapazen seines mehrstündigen Kampfes. Er lächelte mir ermutigend zu, berührte wortlos meinen Arm.
Ich sah auf den kleinen, rundlichen Mann herab, auf sein schwarzes Kraushaar.
Leo, Du warst zur rechten Zeit der richtige Mann am richtigen Ort.

 

Hallo Hannes,

Ich finde diese Geschichte gut geschrieben, ich konnte mir gut vorstellen eins der Kinder zu sein, hatte ein wenig Nordseeluft in der Nase und Leo tat mir ein bisschen leid. Auch die Beschreibungen des (leidlichen) Erwachsenwerdens fand ich gut.
Nur das Ende hat mich ein wenig enttäuscht. Ich weiß zwar nicht so recht was ich eigentlich erwartet habe aber auf jeden Fall etwas raffinierteres. Aus dieser Geschichte lässt sich meiner Meinung nach noch mehr herausholen.

Liebe Grüße drea

 

Hallo drea,

vielen Dank für Deine Stellungnahme.

Dass Du "ein wenig Nordseeluft" verspürt hast, freut mich natürlich besonders.

Mich würde noch einmal interessieren, warum Dich das Ende enttäuscht hat, insbesondere natürlich, was Du intuitiv erwartet hättest. Es gibt ja immer unterschiedliche Sichtweisen und deshalb finde ich Deine Anmerkung, "man hätte mehr herausholen können" sehr interessant. Ich würde mich jedenfalls über eine weitere Idee dazu freuen.

Ich habe mir für diese Geschichte eine "Architektur" zurecht gelegt und versucht, in einen Text wie in einem Kaleidoskop mehrere Storys übereinander zu legen.

Da ist zum einen die Erinnerung an die Jugend und das (Fürchten vor.. ??) dem Erwachsenwerden.

Zum zweiten wollte ich die Unterschiede zwischen eben jener kindlichen Freiheit und der (bildlichen) sorgenvollen Erwachsenwelt skizzieren, die Sicht (und Sorge) der Eltern auf die Kindern.

Die dritte Ebene ist eine Hommage an die kleine Gruppe von Mitbürgern, die sich durch unterscheidende Merkmale auszeichnen und gelegentlich als "anders" stigmatisiert werden, aber immer - gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil - einen wesentlich größeren Anteil an der kulturellen und wissenschaftlichen Elite unseres Landes hatten, natürlich auch mit dem kleinen Seitenblick darauf, dass auch die vermeindlichen "Versager" zu Großem fähig sind.

Ganz persönlich habe ich etwas "Seele" in Erinnerung an die See versteckt, aber nicht erwartet, dass dieses "entdeckt wird". Darüber habe ich mich besonders gefreut.

Dank und liebe Grüße
Hannes

 

Hallo Hannes,

irgendwie paßt diese Geschichte grad heute besonders gut zu diesem stürmischen regnerischen Herbsttag.
Die Vorstellung wie die kleine Gruppe Jungen sich den Nordseewind ins Gesicht pusten läßt, kam deshalb besonders plastisch herüber.
Ich fühlte mich mittendrin in dieser Atmosphäre und nicht nur, weil ich ein Kind der See bin, wenn auch in Hamburg geboren, sondern grad deshalb, weil du sehr behutsam zeichnest. Nicht überzeichnet hast, an keiner Stelle wird es kitschig, obwohl dein Protagonist in Erinnerungen schwelgt, nein, eher verweilt.
Diese feinfühlige Stimmung kommt gut an.

Auch die Darstellung der Andersartigkeit des Leo ist dir gelungen. Meine Bewunderung! Kein erhobener Zeigefinger, keine Belehrungen, keine plakative Schwarz-Weiß-Malerei. Sehr sanft führt deine Geschichte in den Schluß, den man fast schon ahnt. Ich jedenfalls hab Leo erwartet, auch wenn ich gestehe, ganz gespannt bis zum Ende gelesen zu haben.
Ich finde, dies hier ist deine beste Geschichte, die ich hier zu lesen bekomme.
Deswegen, weil die Stimmungen, die du erzeugst sehr autenthisch wirken.
Gut gemacht. Mir fehlt an dieser Geschichte nichts.

Lieben Gruß
Elvira


P.S. ;) Aha also daher das Platt. Laß mich raten! Harlingersiel? Greetsiel?

 

Hallo Elvira,

erst einmal ein artiges Danke für Deine lobende Erwähnung; natürlich möchte ich die Freude darüber nicht gänzlich verhehlen; obwohl man erst beim Lesen Deiner behutsamen Formulierungen versteht, wie man ein richtiges I-Tüpfelchen (be)schreiben kann.

Liebe Grüße
Hannes

 

Mensch Hannes, du schreibst gut. Das fand ich besser als das, was ich bisher las. Das Ende war auch gut. Ja verdammt noch mal die ganze Gescchichte war klasse.
Da ich aus Bremerhaven komme, (so vielleicht auch) hatte ich tolle Bilder im Kopf. Wahrscheinlich hat mir die Geschichte auch deswegen gefallen. Okay, es ist auch n bekanntes Stickmuster im Sinne von "Schwächling wird Held" Aber diese blöde Kurzformel vergessen wir mal eben. Der Schreibstil ist besser als Durchschnitt.
"Die schäumende Gischt stürmte in einer geschlossenen Wasserwand...," ja das hat mir beim Lesen sehr gut gefallen.

Danke fürs lesen dürfen

liebe grüsse stefan

 

Lieber Hannes,

Deine Geschichte hat einige Mängel.
In erster Linie ist mir als stilistischer Fehler folgendes aufgefallen:
Die sehr häufige Verwendung des Hilfsverbs "war" oder "waren".

Auch war sein Vater kein Landwirt, Schmied, Lehrer oder Pastor wie unsere Väter, sondern Maler. Bunte Farbkleckse, die sich zu keiner sinnvollen für uns erkennbaren Komposition vereinigten, waren auf seinen Bildern zu sehen.
Unsere Welt war begrenzt durch den Horizont....
Vorschlag:
Im Gegensatz zu unseren Vätern mit ordentlichen Berufen, übte sein Vater die Tätigkeit eines Malers aus. Bunte Farbkleckse, die sich zu keiner sinnvollen für uns erkennbaren Komposition vereinigten, sahen wir auf seinen Bildern.

Was uns auch immer an sensationellen Nachrichten aus unserer kleinen Welt erreichte, die Kinderschar war stets als erstes am Ort des Geschehens. Nur Leo war immer der Letzte, der eintraf. Er war immer zu spät.

Vorschlag:
Was uns auch immer an sensationellen Nachrichten aus unserer kleinen Welt erreichte, die Kinderschar war stets als erstes am Ort des Geschehens. Nur Leo traf immer als Letzter ein und kam oft zu spät.

Des weiteren finde ich die Charakterisierung eines Juden so klischeehaft, das sie mir sauer aufstößt.

Leo war anders. Kleiner, mit dunklem Kraushaar, etwas rundlich, dazu den Ansatz einer Hakennase...

Ich sah auf den kleinen, rundlichen Mann herab, auf sein schwarzes Kraushaar.

Ich denke Deine Geschichte bedarf noch gründlicher Überarbeitung.

Freundlicher Gruß
Klaus Helfrich

 

Hallo Klaus,

vielen Dank für Deine Mühe und Deine Anmerkungen zu meiner Geschichte.

Grundsätzlich stimme ich Dir zu, dass es eine stilistische Unebenheit ist, dieselben Verben in direkter Folge zu verwenden. Wenn Du aber einmal den Text mit den von Dir vorgeschlagenen Änderungen laut liest, wirst Du – eigentümerlicherweise – feststellen, dass sich dadurch der Rhythmus ändert. Der erste Abschnitt lebt vom Stakkato der kurzen Sätze (da steckt etwas Kurzatmigkeit der Kinder im Text). Ich will nicht ausschließen, dass es noch andere Möglichkeiten gibt. In jedem Fall lohnt es, darüber einmal nachzudenken.

Inhaltlich ergeben sich allerdings durch Deine Änderungen Sinnverschiebungen, wenn wir „den eigenen Vätern ORDENTLICHE Berufe“ zuordnen. Auch erkenne ich marginale Unterschiede zwischen den Ausprägungen „...waren auf seinen Bildern zu sehen“ (das haben ALLE erkannt...) und „..sahen wir auf seinen Bildern“ (das haben die KINDER erkannt).

Ähnlich verhält es sich mit dem „Zuspätkommen“. Leo war nicht nur „OFT zu spät“, sondern er war „IMMER zu spät“.

Zur zitierten klischeehaften Darstellung des „Juden“ sei anzumerken, dass man sich in der schriftlichen Darstellung eines Bildes bedienen muss. Es war ja meine Intention von „Juden“ zu schreiben, ohne sie zu erwähnen. Dieses sollte vom Leser „entdeckt“ werden. Wie hättest Du bei einer anderen Personenbeschreibung so sicher darauf kommen können, dass es sich eben um diese Volksgruppe handelt?

Stelle Dir einmal folgende – NICHT klischeehafte - Passage bei Karl May vor:

Der Postkutsche entstieg ein großer blonder Hüne mit einem breitrandigen Lederhut. Seine derbe Kleidung hatte er an der Ostküste erworben. Zwei Colts baumelten an seinen Hüften. Jeder bemerkte es sofort: Häuptling Großer Büffel war eingetroffen!“

Mit einem freundlichen Gruß ins schöne Kiel
Hannes

 

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