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Leo
Der Deich war hoch. So hoch, dass er uns beschützte, uns eine unbeschwerte Kindheit bot. Damals. Dort, hinter dem Deich.
Wir waren eine muntere Schar, blond, schlaksig, die durch das kleine Dorf tollte, das sich mit seinen reetgedeckten Häusern hinter den Deich duckte. Nur Leo war anders. Kleiner, mit dunklem Kraushaar, etwas rundlich, dazu den Ansatz einer Hakennase.
Trotzdem gehörte er zu uns. Irgendwie.
Wer in unserem Dorf nicht Hansen hieß, hörte wenigstens auf Christensen, Sörensen oder Jensen. Nur Leo nicht. Er trug den Zunamen Goldstein. Auch war sein Vater kein Landwirt, Schmied, Lehrer oder Pastor wie unsere Väter, sondern Maler. Bunte Farbkleckse, die sich zu keiner sinnvollen für uns erkennbaren Komposition vereinigten, waren auf seinen Bildern zu sehen.
Unsere Welt war begrenzt durch den Horizont, der irgendwo in der Ferne die unendliche Weite der grünen Landschaft mit dem Himmel zusammenfließen ließ, und durch den Deich.
Was uns auch immer an sensationellen Nachrichten aus unserer kleinen Welt erreichte, die Kinderschar war stets als erstes am Ort des Geschehens. Nur Leo war immer der Letzte, der eintraf. Er war immer zu spät.
Wenn wir Jungen auf der Krone des Deiches unsere Kräfte im Wettlauf maßen, gehörte Leo stets zu den Verlierern. Er hatte keine Kondition.
Mit dem Hereinbrechen der ersten Herbststürme versammelte sich die Kinderschar in jeder freien Minute am Siel, das der Entwässerung des Kooges diente, um fasziniert den donnernd anrollenden Wellen zuzuschauen, die sich dort an den Buhnen brachen. Die schäumende Gischt stürzte in einer geschlossener Wasserwand über den schmalen Steg herein, der den Deichdurchlaß krönte. Kurz bevor die Front unseren Standort erreichte, sprangen wir mit dem kindlichen Glücksgefühl zur Seite, dem über uns hereinbrechenden Nass entkommen zu sein und nur den Hauch Feuchtigkeit zu spüren, der bei diesen Spielen unvermeidlich ist.
Nur Leo stand oft am falschen Platz. Regelmäßig stürzte der Wellenberg über ihn herein, so dass er wie ein begossener Pudel heimwärts zog.
Das war Leo, der Verlierer. Ohne Kondition, immer zu spät, stets am falschen Platz.
Selbst unser Lehrer hat einmal in einer schwachen Stunde verkündet, dass aus Leo nie etwas wird.
Auch seine Familie war einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen...
Wie gerne hätten wir jenen wundervollen Zustand bewahrt, dort hinter dem Deich, die unbeschwerte Zeit der Kindheit konserviert. Wir hätten viel dafür gegeben, wenn wir den Uhrzeiger am Turm unserer kleinen Backsteinkirche hätten anhalten können.
Jedes Jahr wurden wir ein wenig größer. Es drohte der Zeitpunkt zu kommen, an dem wir über den Deich blicken konnten.
Auch Leo wuchs, nur immer etwas langsamer als wir anderen.
Es war eine kräftige Sturmbö, unverhofft und unerwartet, die mitten in die einst fröhliche Kinderschar hineinfuhr und die einzelnen von uns wie wehrlos dem Wind ausgesetzte Blätter über das Land verteilte. Jeder verlor sich an einem anderen fremden Ort, folgte der Spur des eigenen Lebens.
Und mit der ersten Brille kam im Laufe der Jahre auch eine andere Sicht der Dinge. Man sah herab auf die eigenen Kinder, sah diese groß werden, einen irgendwann selbst überragen und verfolgte mit nie endendwollender elterlicher Sorge deren Lebensweg.
Und diesen Lebensweg des motorradbegeisterten Sohnes kreuzte unverhofft eine Ölspur. Es ist kritisch hatte die Stimme aus dem Krankenhaus gesagt.
Seit mehreren Stunden bemühten sich die Ärzte hinter der unscheinbaren Tür. Kein Laut drang heraus, niemand betrat oder verließ jene verschlossene Welt, die noch eine andere Pforte hatte. Jene, von der ich mir nicht vorstellen möchte, dass mein Sohn sie betrat.
Bei meiner Wanderung über den kalt gefließten Flur begegnete ich immer wieder der Wanduhr. Sie starrte mich an. Fast höhnisch. Sie hatte nichts gemein mit ihrer Schwester auf dem Kirchturm, die fast fröhlich mit ihrem dünnen Schlag den Fortschritt der Menschheit verkündete.
Ich hatte aufgehört, die Runden zu zählen, die der große Zeiger in der Zwischenzeit zurückgelegt hatte, die Stunden zu erfassen, die durch seine Bewegung zur Geschichte geworden waren, als sich die Tür am Ende des Flures öffnete.
Mit müden Schritten kam der leitende Chirurg auf mich zu, gezeichnet von den Strapazen seines mehrstündigen Kampfes. Er lächelte mir ermutigend zu, berührte wortlos meinen Arm.
Ich sah auf den kleinen, rundlichen Mann herab, auf sein schwarzes Kraushaar.
Leo, Du warst zur rechten Zeit der richtige Mann am richtigen Ort.