Lena lebt wie sie lebt
Es ist 7 Uhr. Sie geht wie jeden morgen aus dem Haus, als der frisch eingezogene Nachbar ihr einen "guten Morgen" wünscht. Lena jedoch zeigt nicht den Ansatz einer Regung und geht zielstrebig Richtung Haustür. Der Nachbar ist verwundert, denkt sich: "vielleicht ist sie in Eile".
Doch sie geht seelenruhig die Straße entlang, möchte sich noch einen Apfel und eine Flasche Wasser kaufen.
An der Kasse im Supermarkt bittet sie ein älterer Herr mit Rollator darum ihm den Vortritt zu lassen, da er unbedingt den Bus kriegen müsse, welcher in wenigen Minuten abfährt. Doch Lena bleibt einfach stehen. Die Verkäuferin denkt sich: „was eine unverschämte Göre – noch nicht mal bereit einen Herrn mit Gehbehinderung an der Kasse vorzulassen“.
Lena hingegen ist entspannt und spaziert langsam durch die Fußgängerzone. 2 Männer, welche anscheinend etwas verkaufen wollen, lässt sie links stehen. Ihr Ziel ist der Bahnhof. Sie hat nämlich eine Vorlesung im Rahmen ihres Pädagogik Studiums.
Am Bahnhof angekommen sieht sie einen jungen Mann mit Reisekoffer, dem es offensichtlich schwerfällt, seinen vollgefüllten Koffer die lange Treppe hochzutragen. Lena ergreift die Initiative, fasst den Koffer am unteren Ende an und beide tragen ihn gemeinsam nach oben. Der Mann bedankt sich und schaut dabei in Lena´s Gesicht, welches zu lächeln beginnt.
Sie fährt mit dem Zug zur Uni. Durch eine Zugverspätung kommt sie zu spät und erwischt im Hörsaal einen Platz in den hinteren Reihen, wo sie aufgrund ihrer geringen Körpergröße nur schwer etwas sieht. Aber sie macht das beste raus und hat ja KommilitonInnen welche ihr zur Not -Dank sozialer Netzwerke- Notizen zukommen lassen können.
Nach der Uni geht sie in eine Boutique. Sie braucht dringend eine neue Regenjacke. Eine Verkäuferin möchte Lena beraten, doch sie geht unbeirrt durch den Laden und schaut sich ein Kleidungsstück nach dem anderen an, bis sie in der Kabine verschwindet. Der Ladendetektiv ist bereits auf sie aufmerksam geworden, da sie auf keinerlei Kommunikation mit dem Verkaufspersonal eingeht. Entgegen der Erwartung des Detektives geht Lena zur Kasse und bezahlt ihre ausgewählte Regenjacke.
Wieder in der Fußgängerzone spaziert sie zum Bahnhof, um sich auf den Rückweg zu machen. Doch nachdem sie 2 von 3 Stationen gefahren ist, bleibt der Zug plötzlich stehen. Es gebe Oberleitungsstörungen und nach 10 Minuten warten wird entschieden, den Zug auf die Anfangsstation zurückzusetzen. Es wird angesagt, dass man entweder jetzt aussteigen oder zurückfahren kann. Doch die Information ist mal wieder nur akustisch wahrnehmbar. Der Zug fährt mit Lena zur Anfangsstation zurück. Sie ist genervt und muss die Strecke nun mit dem Bus fahren, was ein erheblicher Umweg ist.
Doch am späten Nachmittag kommt sie in ihrem Heimatort an. Sie bringt ihre Sachen nachhause und geht in den Wald. Der Wald bietet ihr ein Ventil um vom Alltag Abstand zu nehmen und zur Ruhe zu kommen. Sie liebt es die Farbenpracht der Natur zu genießen. Zu sehen wie die Pflanzen im Frühjahr erblühen und den intensiven Waldgeruch zu riechen.
Auf dem Heimweg geht sie einen Feldweg entlang. Nachdem ein Auto sie überholt hat, sieht sie auf der anderen Seite des Feldes zwei Menschen, welche in jener Sprache kommunizieren, in welcher sie am liebsten kommuniziert. Sie gibt eine Grußgebärde zurück, welche eine der beiden Personen erwidert. „Als ob jemand so weit schreien könnte“ denkt sich Lena.
Zuhause angekommen, lässt sie den Tag Revue passieren. Sie ist sich durchaus darüber bewusst, dass sie manchmal missverstanden wird. Aber hinten hat nun mal auch sie keine Augen. Doch sie ist glücklich mit sich, weil sie sich so akzeptiert wie sie ist. Sie kennt ihre Stärken, welche sie in die Gemeinschaft einbringt und gibt ihr bestes ihre Lebensziele zu verwirklichen. Lena kann alles, außer hören!