Lebenswege
In meinem Alter läuft das Leben gemächlicher. Große Pläne und Träume, all´ das liegt weit hinter mir. Friedlich und ruhig gleitet mein Dasein nun dahin, so wie das kleine Fischerboot sacht´ auf den Wellen schaukelt. Ich beobachte es, wie es früh morgens auf das Meer hinausgleitet und einige Zeit später voll beladen wieder in den Hafen einläuft, festgetäut wird und auf den Morgen wartet.
Oft wandert mein Blick zu einem kleinen Balkon. Dahinter lebt eine Familie. Durch die Fenster kann ich erkennen, wie die Kinder spielen, bunte Bilder betrachten und wachsen. Sie wachsen schnell. Meine eigene Kindheit kam mir länger vor. Das älteste Kind – ein Mädchen – lebt seit letztem Jahr hinter einem anderen Balkon. Die Mutter hat sehr geweint, als sie fortging. Es war kalt, Schnee lag auf den Wegen, sie saß auf ihrem Balkon, dick eingewickelt und weinte. Dieses Jahr hat sie eine Pflanze, die sie täglich mit Wasser versorgt und mit der sie spricht. Ich höre nicht, was sie sagt, weil der Wind die Worte in eine andere Richtung trägt. Manchmal jedoch wünsche ich mir, auch bei mir bleibe jemand stehen und spräche mit mir. Da es aber niemandem einfällt, stehe ich weiter und beobachte.
Es ist schön, den weichen Frühlingswind zu spüren oder den, der im Herbst mit den Blättern tanzt, schön zu sehen, wie hinter dem Balkon die Lichter angehen sobald die untergehende Sonne den Horizont blutrot färbt, das Fischerboot auf den Wellen schaukelt, und ab und an ein kleiner Hund bei mir stehen bleibt. „Guter Hund“ sage ich dann. Er schnüffelt kurz und läuft weiter. Er kann mich nicht verstehen, er ist nur ein Hund.
Seltsame Menschen gehen an mir vorüber: Mädchen mit riesigen Schuhen und winzigen Röcken; junge Männer mit Ringen im Ohr oder an der Augenbraue. Es wäre wichtig, sagen sie, immer IN zu sein. Was immer das auch sein mag – in meinem Alter sind solche Dinge nicht mehr wichtig. Auch die Frau auf dem Balkon verändert sich. Mal trägt sie ihre Haare lang, mal kurz, in einer anderen Farbe, und von Jahr zu Jahr wird sie stämmiger – genau wie ich.
Sie hat sich einen Hund gekauft, vielleicht, weil ihre Kinder nun alle nicht mehr bei ihr sind. Meine Kinder sind in alle Himmelsrichtungen zerstreut und haben an anderen Orten Fuß gefaßt. Die Einsamkeit ist nun meine treue Begleiterin. Sie läßt mich beobachten, den Wechsel der Jahreszeiten genießen und mich auf den Tod vorbereiten. Doch das kann noch lange dauern – ich bin stark und zäh.
Täglich führt sie ihren Hund spazieren und redet mit ihm. Es macht mich traurig zu sehen, wie sie scheinbar in der Vergangenheit lebt. Sie läuft am Grasstreifen entlang und scheint nicht zu spüren, wie der sanfte Wind tröstend in ihr Haar bläst. Sie spürt nicht den stärkenden Regen, nicht die versengende Sonne.
Manchmal setzt sie sich neben mich. „Du und ich, was, Streuner?“ höre ich sie zu ihrem Hund sagen und einen Seufzer ausstoßen. Dann schaut sie auf ihren Balkon. Vielleicht hofft sie, daß die Lichter angehen, sie ihre Kinder wachsen sieht.
Jetzt, im Herbst, weilt sie nur kurz neben mir. Nur solange, bis es sie fröstelt.
„Komm, Streuner.“ Sagt sie dann, „wir gehen hinein und kuscheln uns in warme Decken.“
Auch ich werde bald meine warme Decke bekommen. Dann, wenn der erste Schnee fällt und ich alle meine Blätter abgeworfen habe.