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Lara
Auf der Abendtour zeigst du mir Videos. Deine Freunde zünden Dum-Bum-Feuerwerkskörper an. Es gebe südlich der Stadt einen Mann, der einen Bunker betreibe. Von ihm kaufe jeder sein Feuerwerk.
„Auf dem Sportplatz ist jetzt ein Krater“, lachst du und legst das Handy in die Seitenablage des Corsas. Du fährst zu schnell, aber kontrolliert. „Fahrt ihr alle so im ländlichen Raum?“ Du grinst. Wir erreichen das Haus der Patientin.
Manchmal riecht dein Atem nach Thunfisch. In letzter Zeit sehr viel seltener.
Vor dem Haus steht eine Schnecke aus Ton, unter der, wie abgesprochen, der Schlüssel liegt.
Von der Patientin kenne ich den Namen, die Anschrift und einen Eintrag des Hausarztes, den ich schwer lesen kann. Du weißt, wo sie lebt, wenn du ihr Haus betrittst: Ob oben oder unten, wo sie sich wäscht, ob sie sich bewegt, welche Zimmer archivieren und in welchen eine Tageszeitung weggeräumt wird. Du hast das Fährtenlesen erlernt. Ich wundere mich, wie hell du scheinst.
Die Patientin lebt in der Stube.
Ich lasse dich zwei Eimer Wasser und Flüssigseife holen, Handtücher und ein Nachthemd. Über der Lippe stellen sich Härchen auf und ab. Ihr Atem beruhigt mich.
Du stellst die Eimer an die Bettseite, schaust mich an, ich nicke. Du ziehst die Decke zurück. Die Patientin schläft nackt. Ihr Körper spannt sich, dass die Haut Mulden und schmale Falten wirft.
Deine Hände tupfen die Haut sauber, mit einem Lappen, der weiß leuchtet. Unter der Lippe klebt ein trockener, brauner Schaum und im Intimbereich winden sich die Schamhaare zu grauen Kreisen. Du sprichst kein Wort, weichst die Stellen ein, auf denen der Staub zu Krusten härtet, die sich über Jahrzehnte auf kranke Körper legen.
„Sei vorsichtig, wenn du sie wendest.“
Die Wunde am Steiß hat die Größe deiner Hand und die Tiefe deiner Faust, wenn du deine Finger drückst, passen deine Fingerknöchel auf die Fortsätze ihrer Wirbelsäule. Ein Rinnsal einer transparenten Flüssigkeit fließt aus einer Vertiefung. Du sagst nichts. Ich achte auf die Regungen deines Gesichts, aber deine Regungen spielen sich nirgendwo ab. Du bittest mich, die Patientin an Schulter und Schenkel zu halten, suchst nach einer Decke im Raum, findest sie, formst aus ihr einen Halbmond und legst ihn zu den Füßen der Patientin. Dann öffnest du das Wundreinigungstuch, desinfizierst den viel zu schmalen Wundrand, öffnest das Wundmaterial zwischen Zeige- und Mittelfinger, klebst einen sterilen Schaumstoff über den Steiß und verschließt den Körper. Uns wird warm. Den Halbmond ziehst du an das Gesäß, prüfst mit deiner flachen Hand den schmalen Spalt zwischen Steiß und Decke.
Ich lasse dich aufräumen, einpacken, die Tücher auswringen und an einer Plastikleine über der Badewanne aufhängen.
„Das war sehr gut, Lara“, sage ich zu dir, als wir das Haus verlassen und unsere Hände desinfizieren.
Deine Klassenlehrerin meint, es gäbe nur zwei Gründe, warum du eine achte, neunte, zehnte Chance verdientest: Berichte über deine praktische Arbeit und deinen Wohnort. Dein Beruf werde dort gebraucht. Ich denke an die Waldhäuser in der Umgebung, an den Himmel über der Stadt, an den Rauch, der von den Kleingärten und Hinterhöfen aufsteigt, auf denen Holz, Plaste und Kohle verbrannt werden. An Tilidin und die Wut. Dein Halbjahreszeugnis hast du zu einer Kugel geformt, sie mit Feuerzeugbenzin übergossen und in den Fluss geworfen.
Du tankst.
An den Brötchen der ARAL magst du den weißen Käse nicht, er verursache Magenkrämpfe, anders als die Donuts und Croissants. Unsere Masken hängen von den Ohren. Jemand grüßt dich aus einem Kleintransporter, aber du grüßt nicht zurück. Im überblauen Licht wirken deine Haare violett und deine Hände werfen beim Erzählen hellere Schatten. Ich folge deinen Worten oder deiner Mimik, beides scheint sich auszuschließen. Mich befremdet dein Anblick, ich sehe nicht das Vertraute der letzten zwei Monate. Du erzählst von deiner Mutter.
Einmal zog sie für zehn Tage nach Usedom. In den Schränken standen die Thunfischdosen, das Toastbrot, runde Becher mit Margarine, in die deine kleinsten Brüder mit drei Fingern griffen und sie an Wände und Haut schmierten. Die Luft war zu klar, deine Angst zu verbergen. Du warst die größte Schwester. Da waren die drei Brüder, die in vier Zimmern lebten und du. Ihr ernährtet euch. Die Brüder rannten vor zwölf Uhr mittags auf die Straße. Da bemerkten dich die Nachbarn, wo denn die Frau Soundso sei, fragten sie dich. Im Urlaub. Und ihr? Allein. Sofort großes Programm. Einteilung, Schichtteilung, vier Etagen, sieben kochfähige Bewohnerinnen, Einkaufsplan, Reinigungsplan, Kontrollbesuche. Die neuen Gerichte schmeckten nach den Gerüchen der fremden Wohnungen, sie rochen nach den Blusen, T-Shirts und Jacken der Nachbarn, die jetzt Nudeln, Bolognese und Eisbergsalat in Plasteware mitbrachten und sich an eurem Essen sattsahen.
Als deine Mutter zurückkehrte, bat sie euch in die Zimmer. Du hast die Tür geschlossen, die Nachbarn schimpften, deine Mutter sagte später, ihr habt das gut gemacht und du warst stolz, wie erwachsen du geworden bist. Du wusstest, du wirst Chef.
„Tja“, sagst du und schaust durch die Scheibe auf die leeren Plätze vor den Zapfsäulen.
Wenn ich meinen Freunden von dir erzähle, hören sie nicht zu. Sie glauben mir nicht. Ich sehe das an der Drehung des Kinns, an dem plötzlichen Vor- und Wegdrehen der Wange, an das „Jaja, echt“ und dem sehr kurzen Blick in meine Augen. Die Wände im Café Carla sind mit einem großen, abstrakten Paar bemalt, das kurz vor dem Beischlaf steht, aber es könnte auch die innige Umarmung zweier Menschen nach einem Unglück sein.
„Sie wird Pflegekraft?“
Meine Freunde bestellen gerne ein zweites Bier oder einen Kaffee oder den schokoladigen Walnusskuchen, sie mögen „chok-o-lade“. Meine Freunde bedauern, dass das Carla den Fußball abbestellt habe, denn die Konferenz verfolgten sie gern. Meine Freunde sprechen über Nachtzugstrecken in Schweden oder einen Strand, auf dem die Sonne sehr stark scheine, dass ein hoher Lichtschutzfaktor die Haut vor UV-Licht schütze. Meine Freunde vergleichen Berlin mit Hamburg und meine Freunde verstehen nicht, warum manche Menschen in den Himmel schauen und sich nicht sorgen, über all die warmen, trüben Sommer der letzten und kommenden Jahre.
Am nächsten Tag erscheinst du nicht zum Dienst.
Auf deinem Platz wartet ein Plüschpinguin; die Chefin meinte, er vertrete dich sehr gut. Ich suche Unterstützung in den Gesichtern der anderen und finde sie nicht. Du hast dich im Sekretariat der Berufsschule nicht gemeldet und auch nicht bei der Klassenlehrerin.
„Die Lara, ja“, sagt der Verkäufer an der ARAL, „ist schwanger.“ Er erwartet keine Reaktion. „Von dem Typen beim Gartenbau, glaube ich.“ Er schiebt den Kassenbon durch den schmalen Schlitz der Hartplastescheibe, die seinen vor meinem Atem schützen soll.
Man wird schwanger. Man trifft sich, trinkt und wird schwanger; man erzählt sich Geschichten und wird schwanger; man läuft Runden über den Sportplatz, wo Kinder Elfmeterschießen üben und deine Freunde auf der Lehne der Mannschaftsbank sitzen, die Füße auf der Bankfläche, das Smartphone zwischen den Knien geklemmt und wird schwanger.
Ich schaue kurz nach rechts, auf die leeren, hellen Plätze vor den Zapfsäulen. Es ist ein sehr warmer Tag für den Oktober, das Pflaster trocken gewärmt. Laub liegt an der Bordsteinkante, die die Tankstelle vom Feld trennt. Das Feld reicht bis zum Wald, über dem mir die Luft seltsam unruhig vorkommt. Als brennte er ohne Feuer und Rauch.