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Lapplands Sonne
Als Erik Södersen sein Haus gestrichen hatte, strotzte dieses Rot wie er selbst in jenen Jahren vor Kraft und Optimismus. Nicht grell wie Rebellion oder Revolte, sondern warm und stark – eine Farbe des Vertrauens und der Zuversicht. Drei sorgfältig aufgetragene Farbschichten sollten das Holz gegen die raue Witterung schützen.
Einst leuchtend rot wie Ebereschensaft, hat die Farbe nun ihren Glanz verloren; ermüdet und verbraucht wirkt sie und blättert ab. Besonders schlimm an der Wetterseite.
Dort lugt aus der Zeit seiner Kindheit wieder bürgerlich vornehmes Taubenblau hervor, die Lieblingsfarbe seiner Eltern – und an vielen Stellen auch das graue Weiß seiner ihm unbekannten Großeltern, die dieses schöne Haus vor rund hundert Jahren erbauen ließen.
Der alte Erik mag diesen bedauerlichen Zustand nicht beachten, er will da nicht hinschauen.
Nur widerwillig musste er sich an den langsamen Niedergang gewöhnen – als letzter Bewohner des einst schmucken Weilers.
Eine Dachrinne hat den Halt verloren, Teile der hölzernen Terrasse müssten ausgetauscht werden und die Bohlentreppe hat zwei arg morsche Stufen, die ihn dazu zwingen, über sie hinwegzusteigen. Das kostet Kraft, mehr als es scheint, denn zu seiner eigenen Gebrechlichkeit kommt noch diejenige des eichenen Geländers, auf das er sich nun gar nicht mehr verlassen kann.
Der kurze Sommer ist schon dahingegangen, fast spröde und unpersönlich in den letzten Jahren.
Früher, mit den Kindern, als seine Frau noch lebte, da haben sie ihn gefeiert, haben ihn hochleben lassen, hätten liebend gern die hellen Nächte durchgetanzt statt zu schlafen. Doch seit er allein ist, scheint ihm, dass sich Sommer und Sonne viel lieber im Süden aufhalten und hier oben eher unwillig einer auferlegten Pflicht Genüge tun.
Der Kamin ist so alt wie das Haus, war immer ein zuverlässiger Freund, leider ein sehr gefräßiger. Jetzt braucht er wieder eine ordentliche Füllung, auch die Asche muss ausgeräumt werden. Früher ging es Erik leicht von der Hand, aber in den letzten Jahren fällt es ihm schwer, alles so zu richten, wie es sein muss: Um die dicken Blöcke herum, die oft noch einen feuchten Kern haben, schichtet er trockene Knüppel. Darunter und zu beiden Seiten muss dürres, aufgesammeltes Holz die erste Hitze geben. Das ist lebensnotwendig, doch diese Anstrengung ist fast zu viel für ihn. Ihn überkommt eine sonderbare Stimmung, ein ungewohntes Gefühl von Angst und Schwäche.
Er sollte sich ein wenig auf die altgediente Couch legen.
Zwischen Morgen und Abend entstehen dort oft die einzigen zufriedenen Momente. Beim wohligen Augenblick des Entspannens entfährt ihm ein kräftiger Seufzer der Behaglichkeit. Und gleich darauf ein zweiter, wenn er dann wirklich liegt, die Beine gern etwas höher auf der Filzrolle, und sich dabei die Anspannungen wie durch Zauberei auflösen, von einem Moment zum anderen wie mit der Opiumpfeife weggeblasen. Dieses genießerische Schnaufen wird umgehend beantwortet von der Couch, die bis ins hohe Alter ihre prinzessinnenhaften Allüren beibehalten hat und sich stets jede Annäherung, geschweige denn tatsächliche Beanspruchung verbittet mit dem schrillen Quietschen ihrer rostigen Stahlfedern und dem Knarzen des alten Holzes.
Doch diesmal erliegt er nicht der Versuchung, seinen müden Körper auszustrecken und vielleicht ein bisschen einzuschlummern.
Nein, heute nicht! Er kann es sich nicht erklären, doch wie zum Trotz will er noch einmal hinaus in die wunderbar wärmende Nachmittagssonne dieses Septembertages, nur für eine Viertelstunde; gegen alle Vernunft, vielleicht gesteuert von düsteren oder auch wohlmeinenden Mächten, oder gar befohlen von einem sich alles unterordnenden Gesetz.
Eine Viertelstunde in der Herbstsonne? Seine schmalen Lippen formen ein wehmütiges Lächeln. Was bin ich doch für ein wunderlicher Kauz, denkt er und überlegt, wann er zuletzt von einer viertel, halben oder ganzen Stunde gesprochen hat.
Denn hier in der Heimat der Schneekristalle spielt Zeit keine Rolle. Zwar gibt es die Uhr am Türmchen der Holzkirche in Sottalla, die verschnörkelte Schreibtischuhr im damaligen Büro des Notars, und seine, immerzu von Generation zu Generation weitergereichte Taschenuhr mit Goldauflage. Doch machen Uhren keinen Sinn in einer Welt, die Lichtjahre entfernt ist von der Hast des Südens.
Und er, Erik Södersen, rechnet heute tatsächlich in Minuten und Viertelstunden? Das ist unbegreiflich, denn mehr Zeit hatte er nie.
Herbsttage im Alter haben Melancholie, herb wie wilde Beeren, oft untermalt von Traurigkeit, weil ein funktionierendes Hirn jedes Detail registriert. Erik kennt Tage in allen Schattierungen, der heutige scheint ein besonderer zu sein. Mit einem flatternden, diffusen Gefühl, doch wach mit allen Sinnen, meistert er die gefährliche Treppe. Dann lässt er sich in seinen Lehnsessel, nein, nicht wie gewöhnlich nieder – heute nimmt er Platz. Wie ein Opernbesucher der Scala sitzt er aufrecht und ist voller Erwartung. Allerdings registriert er mit leichter Beunruhigung, dass die untreue Sonne während seiner kurzen Abwesenheit ein deutliches Stück gesunken ist.
Es ist still, feierlich still. Erik denkt an seine Frau, manchmal spricht er mit ihr.
Dann wandern seine Gedanken in den Süden, zu seinen Kindern. Er weiß, wie sie leben und dass es ihnen gut geht – dort im Land der großen Freizügigkeit, der Leichtlebigkeit, in dem der Ernst des Lebens einfach weggelächelt wird – und wo es laut ist, unerträglich laut.
Manchmal sieht er abends ein wenig fern, meist aber liest er. Er genießt dieses Innehalten, um den Text auf sich wirken zu lassen, das ruhige Voranarbeiten von Satz zu Satz, die Möglichkeit, schöne Absätze mehrmals zu lesen, ohne befürchten zu müssen, den Anschluss an die fortlaufende Geschichte zu verpassen. Manchmal erheitert ihn der Gedanke, dass der Autor dieses Buch nur für ihn geschrieben habe. Gern würde er ihm sagen, welche Gefühle und Erinnerungen seine Worte in ihm auslösen, wie sehr ihn die Worte berühren – doch das wird ein Wunsch bleiben.
Das Lesen hat ihm viel gegeben. Es hat ihm nicht nur die Augen geöffnet, sondern seinen Blick geschärft, und seinen Verstand. Fernweh kennt er nicht, allen Strapazen zum Trotze hat er sich hier immer gut gefühlt, auch wenn das Leben im Süden vielleicht einfacher gewesen wäre.
Wie auch immer – er ist weit über achtzig, er ist hier geboren, hier ist seine Welt und hier wird er sterben. So ist das nun einmal.
Die Großartigkeit der Natur ist überwältigend, heute aber auch bedrückend; Erik verspürt sein Verlorensein in dieser Einsamkeit.
Er ist etwas verunsichert, doch hat er keine Bange. Alles ist ihm vertraut, andrerseits spürt er etwas Ungewohntes. Er schließt die Augen und öffnet sie dann wieder, und es ist unmöglich zu sagen, ob auf sein Geheiß oder auf himmlisches Kommando ein großer Festakt beginnt. Die goldenen Ränge der Scala hängen wie mit feiner Patina umhüllt am blassblauen Himmel und die völlige Stille empfindet er als erhabene Musik. Erik Södersen ist der Gala-Gast.
Er sitzt im strahlenden Sonnenlicht, wenn auch die Schatten schon länger werden. Es ist, als ob die Luft leuchten würde, ein feierliches Flirren liegt auf den Hügeln mit ihrem scharf geschnittenen Kranz aus blauschwarzem Fichtenwald.
Obwohl ihm dieser Anblick ein Leben lang vertraut ist, empfindet er ihn heute als kolossale Kulisse für etwas Bedeutungsvolles.
Beinahe unmerklich lässt das Strahlen nach, das Licht wird mild und sanft. Dieses Schauspiel fasziniert ihn.
Die Herbstsonnenfee mit den Mandelaugen und Erik mit dem Platinhaar haben die gleiche Wellenlänge, sie mögen sich, sehr sogar. Zwar zieht sie sich jetzt von seinen Füßen, von seinen Beinen spürbar zurück, doch hat das nicht die geringste Bedeutung. Umso mehr wärmt sie sein Gesicht; ihre Lippen streifen seine Stirn, seine Ohren, seinen Hals. Sie scheint überall zu sein, auch in ihm.
Eine milde Glut erfüllt ihn, eine fast betäubende Zufriedenheit. Seit unvorstellbar langer Zeit hat er sich nicht mehr so gut gefühlt. Er spürt Füße und Beine nicht, doch es ist ihm gleich. Nur noch eines ist wichtig: dieses so lang vermisste Gefühl von Geborgensein und Liebe.
Erik Södersen spürt ein merkwürdiges Zucken in den Augen- und Mundwinkeln. Er weint – nicht hemmungslos, nur soviel, wie er nicht zurückhalten kann.
Die Tränen befreien ihn schnell und heftig von allem Ballast, von den immer wiederkehrenden Grübeleien und Sorgen. Sie rinnen ihm hinunter in die scharf geschnittenen Mundwinkel; ihr ungewohnter Geschmack verwundert ihn. Es sind nicht viele, doch ihre süße Salzigkeit und Wärme schaffen noch für die letzten Momente den Ausgleich zur zunehmenden Kälte.
Er verspürt ein völlig unbekanntes Lösen und Lassen, eine den ganzen Brustkorb einnehmende Dankbarkeit. Aber nein, um dankbar zu sein, hätte er nicht die Entbehrungen und Härten seines Lebens ertragen müssen. Und wem gegenüber? Der Welt? Dem lieben Gott?
Nein, es ist Versöhnlichkeit. Letztlich hat alles seine Ordnung. Die Decke in seinem Rücken wird zu Watte, alles verliert seine Schwere.
Die Sonnenkugel wird aufgespalten von den Fichtenspitzen, in die sie hineintaucht und sich hoffentlich nicht verletzt, denn sie muss weiter wandern, um anderen Licht und Wärme zu schenken.
Die Fee hat sich zurückgezogen, das Licht verliert seine warmen Rottöne. Es wird bleich und kalt, bis es dann ganz erlischt.
Der Kamin wird noch die ganze Nacht Wärme spenden, doch wird Erik sie nicht mehr spüren.