Landstraße
Der Mond verschwand gerade hinter einer dunklen Wolke. Niemand war mitten in der Nacht unterwegs. Nur ein einsames Auto versuchte sich seinen Weg über die abgeschiedene Landstraße zu bahnen. Die Scheinwerfer leuchteten durch den aufkommenden Nebel. Eine Kurve, dann noch eine und … Vollbremsung! Mitten auf der Straße stand eine Gestalt. Nein, sie stand nicht. Viel mehr saß, hockte sie auf dem kalten Asphalt. Ohne das schneeweiße Gewand, hätte er sie nicht rechtzeitig gesehen und wäre mit viel zu hohem Tempo direkt in sie hineingefahren.
Ungläubig stieg er aus. Was machte sie mitten in der Nacht auf einer gottverlassenen Straße? War sie verletzt? Langsam ging er auf sie zu.
„Hallo? Brauchen Sie Hilfe?“
Ein leises Schluchzen ging von ihr aus. Sie saß mitten auf der Straße und hielt ihre Knie mit den Armen umschlungen. Sanft wiegte sie sich hin und her und schien nicht einmal zu bemerken, dass sie nicht mehr allein war. Nichts hatte sie am Leib, außer diesem Gewand, dass zerrissen und fleckig an ihr herunterhing. Was war da bloß passiert?
„Hallo? Können Sie mich verstehen? Brauchen Sie einen Arzt?“
Irritiert hob sie den Kopf und starrte ihn aus ausdruckslosen Augen an. Ihre Augen waren von einem verwaschenen Blau. Getrocknete Tränen klebten an ihren Wangen. Ihr braunes langes Haar hing völlig wirr an ihr herunter. Sie bot einen zutiefst hoffnungslosen Anblick.
Obwohl sie ihn direkt ansah, nahm sie ihn nicht wahr. Es war als würde sie durch ihn hindurchblicken. Sie muss doch frieren? Er wandte sich um und holte eine Decke vom Rücksitz. Ruhig ging er wieder zu ihr. Vorsichtig hockte er sich neben sie und versuchte ihren Blick zu fangen, doch sie war völlig apathisch. Als er ihr die Decke um die Schultern legen wollte, riss er erschrocken die Augen auf. Überall war Blut! Die Flecken, die er aus der Entfernung für Schmutz gehalten hatte, entpuppten sich nun als getrocknetes Blut. Es klebte in ihrem Gesicht, an ihren Händen, die fest ihre Knie umklammerten. Sanft legte er die Decke um sie und versuchte auf sie einzureden. Als er versuchte ihr aufzuhelfen, drehte sie plötzlich den Kopf, durchbohrte ihn mit ihrem Blick, dass es ihm kalt den Rücken hinunterlief.
„Geh.“
Nur dieses eine Wort kam aus ihrem Mund. Aber sie sprach es mit solch einer Intensität aus, das es ihn regelrecht schockierte.
„Ich bring dich nur zu meinem Auto. Dann kann ich einen Arzt rufen.“
Ihre Augen hielten seinen Blick gefangen und ließen ihn nicht los. Sanft versuchte er sie zu seinem Auto zu bugsieren.
„Nein. Geh.“
„Ich kann dich doch nicht hier allein in der Kälte sitzen lassen …“
„Geh. Oder du wirst sterben.“
Ihre Stimme war kalt wie Eis. Er verstand nicht.
„Ist hier draußen eine Gefahr? Vor der du weggelaufen bist?“
Suchend blickte er sich in der tiefschwarzen Umgebung um. Konnte aber nichts erkennen.
„Zu spät.“
„Was …?“
Zu mehr war er nicht fähig. Ihr Körper wand sich Krämpfen. Sie stieß ihn von sich. Verängstigt sah er auf das vor ihm geschah und konnte es doch nicht begreifen. Ihr Körper schien sich zu verformen. Ein schmerzerfüllter Schrei entwich ihrer Kehle. Alles in ihm schrie danach fortzulaufen, doch er war wie gelähmt. Fesselnd blickte er auf das Wesen vor sich, was weder Mensch noch Tier war. Mit einem animalischer Knurren stürzte sich die Kreatur auf ihn. Das Letzte was er vernahm war das helle Mondlicht auf ihrem Fell, bevor seinem Leben ein Ende gemacht wurde.