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Lady von Shalott
Die Sonne kam den Horizont heraufgeschlichen und tauchte den Frühnebel in ein strahlend goldenes Licht. Einsam stand die Lady von Shalott an ihrem Fenster und schaute dem Boot voller Sehnsucht hinterher. Wie gerne würde sie mitfahren! Wie gerne würde sie einen Blick auf Camelot werfen! Sie setzte sich wieder an ihren Webstuhl und wob an ihrem Tuch weiter. In Gedanken schwebte sie...
„So webe, webe, webe, mein Kind! Lebe und webe sorgenlos! Unterbrich deine Arbeit nicht! Webe! So webe doch. Schau nicht aus dem Fenster, schau nicht hinaus!“
... in die Vergangenheit. Hatte sie hier in diesen Gemäuern das Licht der Welt erblickt? Wer waren ihre Ahnen? Sie konnte sich nicht an diese erinnern, egal, wie sehr sie es versuchte, obwohl es in der ersten Zeit ihres Lebens jemanden gegeben haben mochte, der sie umsorgte. Und hatte sie jemals diese Insel, geschweige denn die Burg mit ihrem Burghof, verlassen? Nein, niemals.
Die Stimmen, welche schon seit Anbeginn ihres Lebens in ihrem Inneren zu hören waren, waren es gewesen, die ihr das Weben und das Singen beigebracht und Orte gezeigt hatten, an denen sie hier auf der Insel Nahrung finden konnte.
Seit sie die Welt kannte, war sie es gewohnt, Lebensmittel und Wolle zum Weben im Burghof auf einem Tisch vorzufinden. Sie wusste nicht, wie diese Sachen dahinkamen, selbst die Stimmen erteilten ihr keine Antwort darauf.
Warum lebte sie hier auf Shalott? Wie lange führte sie schon ein solch tristes Leben? Es musste schon eine lange Zeit gewesen sein, denn ihr Körper hatte sich in der Zwischenzeit enorm verändert. Die Stimmen ließen verlauten, dass sie zur Frau herangereift sei.
Die Lady wob und sang Tag und Nacht, denn dies war alles, was sie zu tun vermochte...
„Webe, so webe doch. In der Ferne lauert Camelot, lauert das Böse, lauert der Tod. Werfe deinen Blick nicht dorthin, bleibe hier, und webe. Webe, so webe!“
...in die Gegenwart. Wenn sie sich dem Weben widmete, schweifte ihr Blick gerne in Richtung des Flusses oder auf die Straße, die parallel dazu verlief. Ihre Augen folgten den Händlern und Reichen, die zur Stadt von König Arthus reisten. Doch keiner dieser Menschen würdigte sie auch nur eines Blickes, es waren die Bauern, das einfache Volk, welche die Lady, mitsamt ihres Gesangs, der von den Insel zu ihnen herüberwehte und ihnen ihre Arbeitszeit versüßte, verehrte...
„Webe, so webe immerfort. Höre nicht auf, denk an den Fluch. Webe, Mädchen, webe und höre nie auf!“
...in die Zukunft. Würde sie ihr Leben auf ewig in dieser Burg fristen? Tief im Inneren war ihr klar, dass sie dies nicht wollte, sie wollte nicht den Rest ihres Lebens hier verbringen. Verlassen, eingesperrt und ungeliebt... nur drei einfache Worte, doch mehr als ausreichend, ihr farbloses Leben zu beschreiben. Sie sah sich selbst als alte verrückte Frau, die halb erblindet immerfort wob und wob und wob...
Die Lady versuchte, sich vollends auf ihre Arbeit zu konzentrieren, doch es ging nicht immer so gut, wie sie es sich wünschte. Denn immer wieder blickte sie in den staubigen, vor ihr hängenden Spiegel, welcher ihr die Schatten der Welt zeigte. Durch ihn konnte sie die Straße, nach Camelot führend, sehen, auf der sich viele Leute zur Stadt begaben. Darunter waren nicht nur Marktmädchen mit roten Mänteln zu finden, sondern auch Schäfer, die ihre Herden von den Ställen zu Weiden oder zu Märkten führten, sowie langhärige Pagen, die, rot gekleidet, Aufgaben für ihre hohen Herren erledigten.
Doch dies war nicht alles, was sie sah. Denn auch die Ritter der Tafelrunde kamen ihr zu Angesicht, als sie in Reih und Glied zu Kämpfen aufbrachen, um die Sachsen von den Küsten Britanniens zu vertreiben, oder wie sie von ihren erfolgreichen Schlachten wiederkehrten. Sie dachte daran, dass sie keinen Ritter hatte, der ihr bis zum Tode treu ergeben war. Niemanden, der zu ihr hielt, niemanden, der sie auf ihrem schwierigen Weg begleitete.
Doch sah sie auch Unglück sowie Glück anderer Leute. Sie wurde Zeugin von Beerdigungen. Sie sah die Trauergemeinde, die den Toten auf seinem letzten Weg begleitete und weinte. Sie wurde Zeugin von Liebe. Sie sah ein frisch vermähltes Pärchen, das auf den Weiden tanzte und sich unter dem Vollmond küsste.
Die Lady nahm einen tiefen Atemzug, legte die Arbeit nieder, kniff die Augen zu und bedeckte ihre Ohren mit den Händen. „Ich mag diese Bilder nicht mehr sehen“, schrie sie verzweifelt. „Sie machen mich krank... oh... und wie sie mich krank machen! Eines Tages werden sie meinen Tod bedeuten... sie... sie werden mich... umbringen...!“
Es war ihr nicht möglich, sich den Visionen zu entziehen – sie tauchten unkontrollierbar auf und raubten ihr des Nachts den Schlaf, ließen sie verzweifeln. Sie konnte zwar mit den unregelmäßig erscheinenden Stimmen umgehen, denn sie waren ihr Helfer in der Not, Ratgeber in allen Lebenslagen sowie Unterhalter in der Einsamkeit. Doch gegen diese Visionen konnten selbst ihre beinahe heiligen Stimmen nichts unternehmen.
„Lass dich nicht durch die Visionen beirren! Sie wollen dir nur schaden! Konzentriere dich auf das Weben! So webe, oh webe, webe, höre nicht auf damit!“
Auf Geheiß der Stimmen arbiete die Lady weiter an ihrem Tuch, welches sie immerfort wob, wenn sie nicht schlief. Egal, ob die Sonnenscheibe oder das Mondlicht den Himmel zierte, denn sie wusste nichts anderes, was sie hätte tun können. Gequält von der Einsamkeit erhob sie sich von ihrem Webstuhl und stellte sich wie so oft an das Fenster. Wie jedes Mal vorher musste sie auch diesmal gegen die Versuchung ankämpfen nach Camelot zu sehen.
„Sieh nicht dorthin! Dort lauert das Böse! Das unendlich Böse erwartet dich dort! Vergesse Camelot... vergesse es... webe! So webe doch weiter!“
Schwerfällig schluckte die Lady, denn ein Gefühl in ihrem Inneren sagte ihr, sie solle ihren Blick zur Stadt wenden. Doch zögerte sie einen Moment, schloss kurz ihre Augen, wandte ihr Gesicht schließlich in Richtung Camelot und dann entdeckte sie ihn – den strahlenden Ritter.
Ganz nah ritt er an den am Ufer stehenden Bäumen, die zu einem großen Teil schon ihre Blätter verloren hatten, vorbei. Es war strahlend blauer Himmel und das Licht der Sonne reflektierte sich auf seiner Rüstung.
Es war strahlend blauer Himmel und das Licht der Sonne, welches durch die gelben Herbstblätter schien, reflektierte sich auf seiner leuchtenden Rüstung. Sein Kopf wurde von einem gefiederten Helm geziert, der in der Sonne glänzte und unter dem das glänzende schwarz-gelockte Haar hervorlugte. Das rote Kreuz, das in ganz Britannien bekannte Wappen Arthus', schimmerte auf seinem edlen Wappenrock.
Stolz saß der Reiter auf seinem nicht minder prächtigen Hengst und ritt den Weg zu seinem Heim entlang. Der goldfarben scheinende Sattel war mit Juwelen bestickt, die heller als die Sterne des Nachts schienen.
Das Herz der Lady fing laut zu pochen an, als der Reiter summend an der Insel vorbeiritt. Als er vorrüber war, schaute sie ihm von Sehnsucht erfüllt hinterher.
„Vergiss ihn...dies ist Lancelot, ein Herzensbrecher aus Camelot... er hat bereits das Herz der Lady gebrochen... nimm dich in Acht... oh, weh... oh, webe weiter... webe...“
Die Stimmen erneut in ihrem Kopf hörend ging Lancelot ihr nicht mehr aus dem Sinn. Kaum, dass sie wieder an ihrem Webstuhl Platz nahm, leuchtete sein Antlitz in dem Spiegel. Oh, wie stolz er daherritt! Oh, welch Ausstrahlung er besaß! Nicht wissend wie ihr geschah, stand sie wieder auf und durchschritt den Raum. Ein tiefer Atemzug, dann öffnete sie ein Fenster, um sich dort hinauszulehnen und die frische Luft von draußen zu atmen. Die weißen Lilien, draußen an der Burg stehend, blühten in ihrer vollen Pracht. Als die Lady wieder vom Fenster forttrat, blähte ein kräftiger Windstoß ihr Tuch hinfort. Ihm hinterherschauend konnte sie in der Ferne noch den Helm von Lancelot ausmachen. Sie seuftze, denn wie gerne würde sie ihm folgen! Wie gerne würde sie jetzt vor den Toren Camelots stehen!
„Oh bleibe, bleib! Bleibe und webe immerfort! Du hast zwar gesehen, doch, nein, du darfst nicht gehen. Bleibe und webe... und du wirst leben!“
Erneut nahm die Lady einen tiefen Atemzug, fasste einen ihr Herz beschwerenden Entschluss - sie würde sich nach Camelot begeben und zwar ohne weiteres Zögern. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben dabei war, die Stimmen zu ignorieren. In ihrem Schrank fand sie ein lockeres schneeweißes Gewand, mit welchem sie sich bekleidete.
“Bleibe, Mädchen! Folge nicht dem Ruf des Bösen! Du bist doch so gut, was willst du dich deinem Verderben ausliefern? Webe immerfort, so webe...“
Als die Sonne sich mit dem Horizont vereinigte, verließ sie ihre jahrlange Heimat. Der Himmel schüttete all seine Sorgen hinaus, während der Wind in heftigen Böen seine Wut hinausblies. Doch dies alles interessierte die Lady wenig, denn sie hatte nur ein Ziel – Camelot. Am Ufer von Shalott schien sich ein kleines Boot verfangen zu haben. Bevor sie es jedoch bestieg, wandte sie ihren Blick erneut zur Stadt...
„So höre doch auf uns, deine lebenslangen Begleiter! Webe doch weiter! Webe! Bleibe hier, bleibe auf Shalott! Lebe!“
Ihr wurde bewusst, dass sie bisher nichts Richtiges in ihrem Leben erreicht hatte, während sie versuchte, die Stimmen zu ignorieren. Sie hätte sich schon viel früher ihrem Einfluss entziehen sollen. Oh, oder war es doch ein schwerer Fehler, sie jetzt verbannen zu wollen und ihre Heimat zu verlassen? Leicht zögernd haftete ihr Blick erneut an ihrem Ziel. Doch rang sie sich dazu durch, das Boot ins seichte Wasser zu schieben, sich hineinzulegen, sich treiben zu lassen. Während des gesamten langen Weges entrann ihren Stimmbändern ein trauriges Lied, welches von manchen Leuten gehört wurde.
Der Lady war unheimlich kalt, so, wie sie es nie vorher in ihrem Leben erlebt hatte, denn auf der Burg war es immer schön warm gewesen. Sie bemerkte schweren Herzens, dass sie ihre Glieder nicht mehr so deutlich spürte, wie es normalerweise der Fall war.
„Oh, vorbei, es ist vorbei, vorbei auf ewig! Vorbei des Weben! Vorbei das Leben! Verfallen ist sie Lancelot, Camelot und der Freiheit!“
Erneut versuchte sie die sie mittlerweile quälenden Stimmen zur Seite zu schieben... sie wollte nicht mehr... sie wollte nur nach Camelot – Lancelot sehen und endlich ihr Leben zu leben anfangen. Oder war es dazu gar zu spät?
Sie spürte ihren Körper immer weniger, das Blut rann zähflüssiger durch die Adern und ihr Atem ging schwerer. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie, wenn sie nicht bald Camelot erreichen würde, sich selbst im Zuge einer Beerdigung sehen würde, sofern es jemanden gab, der um sie trauern würde. Sie konnte sich kaum mehr bewegen, doch hörte sie nicht damit auf, ihr Lied zu singen, das sie mit ihrem letzten Atemzug beenden konnte.
Das Boot, die tote Lady tragend, trieb weiter in Richtung von König Arthus' Stadt. Dort angekommen, sorgte es für großes Aufsehen. Wer war das dort in der Barke und was war ihr widerfahren? Im hellerleuchteten Palast Camelots verstummten und bekreuzigten sich alle Ritter, als ein Bote dem König die Nachricht über das Geschehene überbrachte. Eine kleine Delegation, aus Rittern bestehend, begab sich zu der Stelle, wo das Boot eingetroffen war, um König Arthus einen genaueren Bericht darüber geben zu können. Es war kein geringerer als Lancelot, der die Lady aus dem Boot hob und sanft auf den Boden des nahen Marktplatzes legte, auf dem ich bereits einige Schaulustige versammelt hatten. Die Menge bestand aus den verschiedensten Menschen – Arme und Reiche, Kinder und alte Leute, Frauen und Männer.
„Oh schaut, das ist doch die Lady von Shalott, einst sah ich sie am Fenster ihrer Burg stehen“, hörte man eine Stimme aus einer etwas weiter hinten liegenden Reihe ertönen. Daraufhin gaben die meisten der Leute dort verwunderte Laute von sich, denn die Lady war eine einfache Legende der Bauern.
Einen kurzen Blick in die Richtung werfend, aus der die Stimme kam, schaute Lancelot wieder zurück auf die verstorbene Lady. Er strich ihr die rotblonden Haare aus dem Gesicht und sprach mit gesenktem Haupt: „Oh, sie hatte ein solch wunderbares Gesicht. Möge Gott dich mit all seiner Macht segnen, Lady von Shalott.“