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Labor 3
Eisiger Nachtwind trieb Emmet Tränen in die Augen. Hastig schritt er auf die gläserne Fassade des Forschungsinstitutes zu und konnte schon aus der Ferne den Wachmann in der hell erleuchteten Empfangshalle erkennen. Ungeduldig presste Emmet seinen Daumen auf den Abdruck-Scanner der Eingangstür und ging in die Empfangshalle. Der Uniformierte hinter dem Tisch mit den Monitoren blickte von seiner Zeitung auf.
„Guten Abend, Doktor Langdon“, leierte er gelangweilt.
„Guten Abend, Yuri.“ Emmet verharrte für einen Augenblick. „Sind noch andere anwesend?“
Yuri beugte sich vor und tippte auf das Bedienfeld eines Monitors. „Zwei weitere Personen sind noch im Gebäude. Doktor Walsh und Mister Byron.“
„Danke, Yuri.“ Emmet nickte in Gedanken versunken und ging weiter zum Labor im Untergeschoss. Als Ingenieur konnte Byron sich überall im Gebäude aufhalten. Samatha dagegen würde ein Problem werden.
Er hatte gehofft, dass ihm mehr Zeit bliebe. Die Maschine war alles andere als ausgereift und die bescheidenen Erfolge bei den Zeitexperimenten gaben ihm nur eine zweifelhafte Hoffnung, dass sein Vorhaben gelingen könnte. Zum Glück hatte er noch rechtzeitig erfahren, dass das Projekt vom Militär übernommen wurde. Sie würden, vielleicht schon in den Morgenstunden, sämtliche Geräte abbauen, einpacken und in eine geheime Anlage in irgendeiner Wüste verfrachten. Diese unerwartete Wendung hätte das Ende seiner Träume zur Folge. Die vielen Jahre, die er mit verbissener Arbeit verbracht hatte, der vollkommene Verzicht auf ein auch nur ansatzweise erfülltes Privatleben, das sollte nun alles vergebens sein? Er war entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen und die zunehmende Erregung presste ihm den Schweiss aus den Poren.
Zutritt nur für autorisiertes Personal stand in roten Lettern auf der Metalltür, darüber: Labor 3. Emmet tippte den Zugangscode in die Tastatur neben der Tür, die geräuschlos zur Seite glitt. Wie in Trance blickte er auf den Ort, der die letzten zehn Jahre seines Lebens bestimmt hatte. Der bis an die Hallendecke reichende Großrechner, die verstreuten Arbeitsplätze der Wissenschaftler und an den Wänden übergroße Kreidetafeln, überzogen mit Zeichnungen und mathematischen Formeln. Schneeweiße Trennvorhänge zogen sich durch die Mitte der Halle. Dahinter verbarg sich der Grund seines nächtlichen Erscheinens, die Maschinen und das Kernstück der Anlage, der Ringtransporter.
Er sah Samantha, die mit dem Rücken zu ihm klackernd auf eine dieser Tafeln kritzelte. Sie überarbeitete eine Gleichung, welche das Verhalten von Quantenobjekten unter extremer Gravitation berechnete.
„Macht das noch Sinn?“ fragte Emmet und trat näher an sie heran.
Samantha blickte sich mit erhobenem Arm um und schaute ihn erstaunt an.
„Für uns hat sich das Projekt erledigt, Sam. Oder haben sie dir ein Übernahmeangebot gemacht?“
Samantha verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich hätte es ohne zu Zögern angenommen.“ Sie senkte den Arm und schaute erneut auf die Tafel. „Es interessiert mich einfach, wo diese verdammte Kiste geblieben ist. Was hat bewirkt, dass sie beim dritten Mal nicht zurückgekommen ist? “
Grübelnd schob Emmet die Zungenspitze unter die Oberlippe. Alles deutete zunächst tatsächlich darauf hin, dass es nur eine Zeitlinie gab und die Natur Eingriffe in die Zeit nicht erlaubte. Auch Teleportation hatte er in Erwägung gezogen, als der rote Metallkasten wieder an seinem ursprünglichen Platz erschienen war. Aber Teleportation durch ein rotierendes schwarzes Loch?
„Wir hatten die Rotation erhöht. Sie ist vielleicht weiter in der Zeit zurückgereist, als wir annehmen. Damit wäre sie unter Umständen nicht mehr an diesem Ort vorhanden.“
„Weiter als die sechs Monate, in der die Kiste hier bereits stand?“ Samantha verzog die Lippen. "Die mitgeschickten Instrumente bestätigten uns dreißig und zweiundsechzig Minuten, warum jetzt so erheblich mehr." Sie starrte auf die Gleichung an der Tafel.
„Unser Verständnis der Raumzeitkrümmung aufgrund der Erfahrungsdaten lässt nur eine sehr vage Interpretation zu. Wir wissen nicht genau, wie weit sie gereist ist.“
Nachdenklich nickte Samantha mit dem Kopf.
„Nehmen wir an, sie ist vor zwölf Monaten in irgendeinem Lager neben sich selbst materialisiert ...“, spekulierte sie.
„Dann haben wir unsere ursprüngliche Kiste gekauft und die ist nun weg. Die andere existiert aber noch irgendwo. Wir hätten die gesprungene Kiste aber gar nicht erwerben können, denn in unserem Zeitablauf existierte sie noch nicht.“
„Das ist verrückt.“
„Ich weiß. Hast du eine bessere Erklärung?“
Samantha stülpte die Unterlippe vor.
„Was machst du überhaupt hier? Deinen Schreibtisch leerräumen um ein Uhr Nachts?“ fragte sie.
Emmet zuckte mit den Schultern.
„Ich konnte nicht schlafen. Warum nicht.“ Er wendete sich ab und ging zu seinem Arbeitsplatz, der abgeschieden hinter dem Großrechner lag. Emmet setzte sich und nahm das Bild von Katherine und Julia in die Hand. Seine Kollegen betrachteten ihn als verhärmten und einsamen Mann, der sich nicht von der Vergangenheit lösen konnte, an dem das Leben vorbeizog wie ein Schatten an einer Wand, das wusste er. Auch, dass sie ihm seine Erschöpfung ansehen konnten. Die tiefen Falten entlang seiner Nase, die Schatten unter seinen Augen, es blieb ihm nicht verborgen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er zuletzt mit wirklicher Freude gelacht hatte. Aber was würde geschehen, wenn er den Unfall verhindern könnte? Langsam glitt Emmet mit den Fingern über das Glas, unter dem ihn die geliebten Menschen lachend anblickten. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wischte die Tränen aus seinen Augen. Was würde geschehen? In diese Gedanken konnte er keine endgültige Klarheit bringen.
Wenn er den Auffahrunfall verhinderte und die Zeitlinie veränderte, dann würde der jüngere Emmet Langdon mit seiner Familie weiterleben, als hätte es die letzten zehn Jahre nicht gegeben. Das erschien plausibel. Er selbst würde dann niemals existieren. Wenn er aber nicht existierte, wie könnte er den Unfall jemals verhindern. Ein Paradoxon, auf das er keine Antwort wusste.
Oder würde er gar in der anderen Zeit weiterexistieren und sein anderes Ich und seine Familie nur betrachten können? Was würde es ihm bringen, wenn es zwei Emmet Langdons geben würde, die dann scheinbar auch zwei unterschiedliche Personen sind?
Und was, wenn er es nicht vermochte, den Unfall zu verhindern? Dann konnte er bestenfalls mit dem anderen Emmet Langdon zusammenarbeiten, um noch einen Sprung in die Vergangenheit auszuführen, sonst würde er in einer Zeitschleife festsitzen.
Emmet seufzte und legte das Bild beiseite. Er machte sich auf den Weg zum Ringtransporter. Samantha stand immer noch vor der Tafel und schien ihn nicht zu bemerken, als er durch die Trennvorhänge schlüpfte. Er fuhr die Maschine hoch, steckte seinen Stick mit den Berechnungen in den Computer und startete die Sequenz. Der drei Meter hohe, wulstige Ring glänzte wie polierter Chrom. Hinter ihm befand sich eine größere, bläulich metallisch schimmernde Kugel, die das Gravitationsfeld erzeugte. Boden und Luft begannen zu vibrieren.
„Was machst du da?“ Samantha hatte den Vorhang beiseite geschlagen und blickte ihn empört an.
„Ich will etwas überprüfen.“ Was hätte er sonst sagen können?
„Du bist wohl irre.“ Sie bewegte sich auf die Bedienkonsole zu und langte nach der Notabschaltung.
Emmet sprang erschreckt auf sie zu und schlug mit der Faust in ihr Gesicht. Sie sackte auf die Knie und stützte sich auf ihre Arme. Mit geöffnetem Mund schaute sie benommen zu Boden. Verstört trat Emmet einen Schritt zurück. Das hatte er nicht gewollt. Er mochte Sam, aber der Impuls hatte ihn überrollt. Nun war es jedoch geschehen und er bedauerte es, aber es gab für ihn kein Zurück mehr.
In dem Ring knisterten Funken und ein tiefes Brummen erfüllte den Raum. In wenigen Sekunden ist dies vielleicht niemals geschehen, beruhigte er sich. Wie gebannt starrte Emmet auf die Mitte des Ringes, hinter dem sich ein schwarzes Loch bildete, das sich bis zur Kugel ausdehnte. Von einem Moment auf den anderen herrschte vollkommene Stille. Das Gravitationsfeld hatte sich etabliert. Emmet schluckte und biss die Zähne zusammen. Was, wenn er die Daten über die Zeitkrümmung vollends falsch interpretiert hatte? Er verdrängte die Gedanken und sprang durch den Ring.
Ein entsetzlicher Schmerz traf ihn mit unerwarteter Wucht. Als würden seine Fasern zerreißen, seine Zellen zerplatzen und ihm Milliarden Moleküle aus dem Leib herausgerissen werden. Er sah nichts, hörte nichts, wand sich in einer Qual, die alles Existierende zu sein schien. Plötzlich stand er gekrümmt vor einer Tür. Emmet wankte rückwärts und stieß an die Flurwand. Etwas schien an seinen Gliedern zu zerren, um sie ihm auszureißen. Vor seinen Augen tanzten züngelnde Entladungen. Er hob den Blick und schaute verdutzt auf die Beschriftung der Tür.
Zutritt nur für autorisiertes Personal stand in roten Lettern auf der Metalltür, darüber: Labor 3.
Hier hatte er schon unzählige Male gestanden, es besagte zunächst nichts. Er hätte zwanzig Minuten überbrückt haben können oder auch zehn Jahre. Emmet schaute den Flur entlang. Er sah aus wie immer, Kunstharzboden, nackte Wände, Kaltlicht. Mürrisch verzog Emmet den Mund. Was hatte er erwartet? Mit zitternden Fingern tippte er den Zugangscode in die Tastatur neben der Tür, die lautlos zur Seite glitt. Er sah Samantha, die mit dem Rücken zu ihm klackernd auf eine der Kreidetafeln kritzelte. Emmet streckte den Kopf vor und fixierte die Zeichen der Gleichung. Es war die selbe, an der Samantha vor zwanzig Minuten gearbeitet hatte. Mit schnellen Schritten lief er zu seinem Arbeitsplatz, aktivierte das Display und klickte auf die Datumsanzeige.
Fünfundzwanzig Minuten, dachte er. Nicht mehr als verdammte fünfundzwanzig Minuten. Er hatte sich bei den Berechnungen vollkommmen verspekuliert. Er hatte die unterschiedliche Masse zwischen sich und der Kiste nicht bedacht. Und auch die Rotation hatte er unterschätzt. Aber er wusste nun, dass es möglich war. Seine Lippen formten ein kurzes Lächeln, das sogleich von Ernüchterung eingeholt wurde. Er war in der Zeit zurückgereist und noch am Leben. Das gab ihm Zuversicht.
Der Gedanke an sein jüngeres Ich in der Zeitlinie schreckte ihn auf. Hätte er nicht längst erscheinen müssen? Emmet sprang auf und hastete hinter dem Großrechner hervor. Seine jüngere Version war nicht zu entdecken und Samantha kratze immer noch auf der Tafel.
War er zwanzig Minuten in der Zeitlinie zurück und in seinen eigenen, jüngeren Körper gesprungen? Ließ die Zeit keine Doppellungen zu? Könnte er vielleicht in den Körper des zehn Jahre jüngeren Emmet springen, ohne sein Wissen über die Zukunft zu verlieren? Der Gedanke versetzte ihn in Erregung. Ein Umstand, der ihm sehr zusagen würde. Aber sein nächster Sprung war kaum mehr kalkulierbar. Er würde die Rotation des schwarzen Loches fast nach dem Gefühl erhöhen müssen, um die Krümmung der Zeit an einen weiter zurückliegenden Punkt zu führen. Emmet ging auf die weißen Vorhänge zu. Samantha blickte sich zu ihm um.
„Lass mich in Ruhe“, blaffte er.
Er schritt durch einen Spalt zwischen zwei Trennvorhängen, fuhr die Maschine hoch und setzte sich an das Computerterminal, um die Einstellungen neu zu konfigurieren. Dann startete er die Sequenz.
„Was machst du da?“ Samantha hatte den Vorhang beiseite geschlagen und blickte ihn empört an.
„Ich will etwas überprüfen.“ Fast hätte er gelacht. Er fühlte sich euphorisch, aber doch unsicher.
„Du bist wohl irre.“ Sie bewegte sich auf die Bedienkonsole mit der Notabschaltung zu.
Emmet sprang ihr entgegen und schlug mit der Faust in ihr Gesicht. Sie sackte auf die Knie und stützte sich auf ihre Arme. Mit geöffnetem Mund schaute sie benommen zu Boden. Emmet trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Er hoffte, diese Unannehmlichkeit würde nicht ein weiteres Mal passieren. Er blickte auf das etablierte schwarze Loch und atmete stöhnend aus. Egal, wo er landete, sein Leben konnte nicht schlechter werden als es bereits ist. Es war die einzige und letzte Möglichkeit, zu seiner Familie zu kommen. Wie versteinert blickte Emmet auf das schwarze Loch. Was nun folgen würde kostete ihn beträchtliche Überwindung. Er sog die Luft tief ein und drückte den Atemzug durch gespitze Lippen wieder heraus. Mit geschlossenen Augen sprang er durch den glänzenden Ring.
Emmet tauchte in einen glühenden Wirbel aus purer Qual. Sein Körper schien in Atome zu zerspringen, die sich spalteten und explodierten. Allein unsägliche Tortur existierte wie eine nicht enden wollende Entladung von Schmerz. Dann stand er krampfend auf einer freien Fläche. Emmet rang nach Atem und schmeckte einen bitteren Gestank auf der Zunge. Er blickte mit tränengefüllten Augen auf eine staubige Steinlandschaft, an deren Horizont die Sterne funkelten. Ein stechendes Brennen fraß sich durch seinen Brustkorb. Röchelnd sog er die Luft ein, die seine Lungen zu zerschneiden schien. Seine Sicht begann zu flimmern und sich nebelhaft zu trüben. Benommen fiel er die Knie und spuckte hustend Blut. Vor sich im Staub erkannte er einen roten Metallkasten.