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La Fenouillade - Land der Steine und des wilden Fenchels
Ich verstehe nichts, überall Gemurmel. Eine Stimme neben mir bedrängt mich. Ich möchte meiner Wege gehen, doch die Hand auf meinem Arm will das nicht zulassen. Warum schauen mich die Leute so deprimiert an?
Einige greifen nach meinen Händen, die sie wohl drücken möchten. Ich glaube nicht, dass sie mir schaden wollen, nur weiß ich nicht, was sie hier tun – schwarz gekleidet, einige Damen mit Gesichtsschleier, alte Männer halten ihren Hut in der Hand.
Mir ist schwindlig. Mit bloßen Füßen möchte ich auf der Erde stehen, breitbeinig und fest. Kühl wird sie sein, wie die Grube vor mir. Ganz unten noch kühler, beinahe kalt. Aber wenn man immer tiefer gräbt, fast tausend Meter, dann wird sie überraschend warm. Da gibt es heiße Seen, Lava zischt hinein. Es blitzt in einem fort, tausend kleine Blitze. Einige gefährlich nah, fast vor meinem Gesicht. Das ist widerlich, wie eine Befragung, eine intime Inspektion.
Ich wünsche mir Regen. Die Tropfen würden über mir auf den Ästen landen und über die dicken, dann über die dünneren Zweige langsam zu mir herunterrinnen und kühlend über mein Gesicht laufen. Niemand sähe, dass ich weine.
Schneien wäre noch schöner – auf all das, auf diese traurigen Menschen. Weiße Kleider würden sie tragen statt der schwarzen. Schnee im Sommer – ein Scherz wie ein Messer in der Brust. Sie verkaufen ihn an jeder Ecke.
Hier kann ich nicht bleiben.
Wie auf einem Bildschirm rollt die Straße vor mir ab. Gedankenlos schalte ich das Radio an. Es bricht los, viel zu laut, wie eine Explosion; fast verreiße ich das Steuer. Aus! Ich fahre in eine Parkbucht.
Diese Landschaft sagt mir nichts. Eintönig und trist. Ich fahre ewig weiter. Die gestrichelte Mittellinie erinnert mich an Ruths Anfänge mit dem weißen Zeug: Kleiner weißer Strich – bisschen Spaß – stopp. Kleiner weißer Strich – bisschen Spaß – stopp.
Die Straße wird schmaler und unübersichtlicher, die Linie jetzt blendend weiß, fast kristallen. Ohne Unterbrechung befiehlt sie, ihr zu folgen; die Kurven werden gefährlicher.
Ich fahre sehr schnell. Der Wagen vibriert, die Reifen schlittern. Will ich mich auch umbringen?
Ödland tut sich auf. Ich verringere die Geschwindigkeit. Ende der langen weißen Linie, der sie folgen musste, trotz ihrer Intelligenz, ihres Charmes, der ihr eigenen Heiterkeit, die durch hysterisches Auflachen immer rissiger wurde. Wie Asphalt, der in Schotter übergeht. Dann immer kleiner und feiner wird und endlich als Staub verweht.
Die Luft ist lau. Ich nehme eine Decke aus dem Wagen und lege mich vor eines der verlassenen Steinhäuser.
Völlige Stille - so ungewohnt, dass sie fast brutal auf mich wirkt. Hier bin nur ich mit meinen Gedanken. Und mit den Sternen, die sind doppelt so groß wie zu Hause. Ruth ist dabei.
Meine Augen umreißen die Konturen des halben Mondes, als ob ich ihn aus dieser besternten Tapete herausschneiden wolle.
Das tut mir gut, dieses Konzentrieren. Die wirren Knäuel in meinem Kopf bewegen sich weniger aufgeregt. Diffuses nimmt langsam Gestalt an. Zentimeterweise wird mir meine Tragödie bewusst. Ich beginne, die Sterne auszuschneiden und die Monde zu zählen. Was ist denn wahr, was scheint nur so?
Gegen Morgen wird es unerwartet kalt. Ich gehe ins Haus und lege mich wieder hin. Ich werde nicht mehr aufstehen. Wozu weiterleben? Trotzdem wird es hell und dunkel. Zehn Tage und zehn Nächte?
Das Dach ist in der Mitte eingestürzt, ein Dach, wie ich es noch nie gesehen habe. Kunstfertig gelegt aus dünnen Steinplatten, der Himmel schaut herein. Vormittag, Nachmittag? Ich dämmere weiter. Als die Helligkeit nachlässt, erhebe ich mich. Ich trete vor die Türöffnung. Steinland. Unwirtlich, ein Ort der Verbannung.
Taub gehe ich auf gepflasterten Wegen, unsicher wie auf grobem Kies. Die schrillen Geigen geben keine Ruhe, doch sie quälen mich nicht mehr – ich weiß jetzt, es sind die Grillen. Nur meine Gedanken lassen sich nicht ordnen.
Wir waren gierig. Die gewohnten Reize genügten nicht mehr.
Ruth war an allem interessiert. Eine einmalige Frau. Sie hat auch mir zugehört. Hat mir Zeit gelassen, meine linkischen Versuche origineller zu gestalten, in ihrer Nähe zu sein – das hat sie sicher sehr amüsiert. Aber sie hat mich ernst genommen.
Wer hätte ich sein müssen, um sie zu beeindrucken? Ich war nichts.
Als ich ihr diesen selbstgebrannten Handschmeichler überreichte, war sie fast gerührt. ‚Viel schöner als etwas vom Juwelier’ sagte sie und ich war König. Ein andermal meinte sie, mir stünde die Töpferschürze hundertmal besser als ein Chefarztkittel.
Die Eingänge zu den tiefer liegenden Weinkellern sind eingebrochen, die Stufen schadhaft. Ich steige nicht hinab, hätte ohnehin keine Lampe. Dort mögen sie noch liegen – die Schätze in den Eichenfässern, reif und konzentriert. Ruth und die Schätze. Sie war mehr als mein Schatz, sie war mein Alles.
Mir schießen Tränen in die Augen. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den großen dunklen Augen, eng zusammenstehend, mit – nein, ich kann es nicht beschreiben, ich sehe es dicht vor mir, möchte in ihr kräftiges Haar fassen, sie wie gewohnt sanft zu mir ziehen und ihr mit meinen Lippen über Wangen und Hals streifen, ihren Geruch in mich saugen, die Welt vergessen, mich an sie pressen. Tonnen von Laub und Blüten sollen über uns abregnen und uns über tausend glückliche Jahre zu Kompost werden lassen.
Benommen stehe ich vor meinen Habseligkeiten. Um mich Weltraumstille und Trilliarden Steine – überall, auch auf meinen Schultern, in meiner Brust.
Ich habe drei Schwestern, alle wunderschön. Aber Ruth! Die ist unbegreiflich. Eine Frau von den Sternen, verrückt und nachdenklich. Spielt Cello, verdammt, hab schon wieder nasse Augen. Das kann sich niemand vorstellen, dass eine Frau und ein Cello den Sinn und die Schönheit der Welt verkörpern.
Dieses Land ist dürr und ausgemergelt, schon vor hundert Jahren seiner Kraft beraubt. Ungeschützt, aufgegeben. Wagt sich ein unbedarftes Pflänzchen doch ans Tageslicht, dann wird dieses Licht schon vor der Mittagszeit zur sengenden Sonne und frisst es auf. Nur wenige Pflanzen mit Selbstgeißlercharakter überleben die täglichen Strapazen; sie besitzen eine überirdische Leidensfähigkeit und Stärke. Sie überleben nicht nur, nein, sie treiben – wie in letzter Verzweiflung – noch nie gesehene Blüten aus, bizarr und in trunkenen Farben. Recken sie der Sonne entgegen, triumphierend, voller Stolz. Soviel Forschheit und Kampfgeist könnte ich nie aufbringen. Es sei denn, Ruth wäre in Gefahr gewesen. Ich wäre zum Tiger geworden. Nur vor den weißen Kristallen konnte ich sie nicht schützen.
Ich weiß nicht, ob ich schon verrückt bin, doch ich respektiere dieses Land. Hier kommt zur gewohnten Zeit noch eine zweite Zeit ins Spiel, die erfühlt man, wenn man durch die aufgegebenen Weinterrassen geht, wo der nackte Schiefer glänzt. Hier verwildern Rebstöcke mit knorrigem schwarzen Holz, verdreht und schorfig, schon lange nicht mehr gehegt. Die Erde ist fortgespült. Zum ausgedarrten Flussbett gehe ich hinunter. Die solide Brücke kann man erst auf den zweiten Blick wahrnehmen – der schöne Bogen versinkt zur Hälfte in damals heruntergewaschenen Steinen. Eine Steinbrücke über einem Steinfluss. Ich hätte Ruth gebeten, sich auf die Mauer zu setzen und dann ein Urlaubsfoto gemacht.
In all dem steinernen Chaos spüre ich eine große und einfache Echtheit – unter einem grenzenlos weiten Himmel, der immer wieder überrascht, denn er arbeitet wie ein sehr talentierter Bühnenbildner mit allen Wolkenvariationen und einer Riesenfarbpalette.
Ruth hatte diesen Blick für Einfaches und Schönes; meinen Handschmeichler hat sie sehr geschätzt, trug ihn immer bei sich.
Es gibt hier keinerlei Ablenkung, jedes Wort und jeder Gedanke kommen mit sechsfachem Echo zurück. Nicht wie in den Bergen, immer schwächer werdend – auch das sechste Echo ist hier so stark wie das erste, erreicht manchmal erst nach Tagen mein Ohr und somit meinen Kopf. Ich habe schon wieder so viel anderes gedacht - und dann stellt sich mit diesem letzten Echo das eben Gedachte wieder anders dar und ich werde ganz wirr durch die vielen Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten von ein und derselben Sache, fast ein wenig zornig über die immer weiter dahinschwindende Chance, einen aufgegriffenen Gedanken hier in dieser perfekten Stille zu Ende denken zu können.
Das alles kennt Ruth nicht. Sie ermüdet und wir suchen uns eine Steinplatte, von der Sonne uns zuliebe schon aufmerksamst vorgewärmt. Wir lehnen aneinander und nicken auf der Stelle ein.
Ich nehme Ruths Hand und sie lässt es zu. Ganz vorsichtig führe ich sie an meine Lippen, ich kann sie gar nicht vorsichtig genug anfassen, sie ist so zart. Und Ruth ist so schön. Fast müssen wir uns gar nicht beugen, denn an der Feldmauer aus seit Generationen aufgeschichteten Steinen wächst er uns entgegen – der wilde Fenchel. Und da unsere Zeit hier in der Fenouillade keinerlei Grenze kennt und wir sozusagen schon zeitlos und beinahe unsterblich sind – greifen wir danach und brechen einige Stängel.
Wir betrachten das strohdürre Unkraut und erkennen in dieser feinziselierten Blütenarchitektur den Kosmos im Kleinen: Um die Hauptsonne kreisen die sieben Nebensonnen mit wiederum jeweils sieben Untersonnen und das Ganze geht noch siebenmal so weiter und wenn die kleinste und mickrigste der alleruntersten Sonnenkategorie einen winzigkleinen Staubfaden verliert, der ohne die geringste Orientierung ganz nach Zufall und Wind irgendwo hingetrieben wird, meine teure Ruth, dann sind das wir – wir beide.