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- 04.03.2018
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L’heure verte
Martine zog zweimal an der Leine und ließ los, sobald sich die Fracht ruckartig in Bewegung setzte. Begleitet von Luftblasen aus der Atemmaske trat der Netzbeutel mit seiner Fracht die Reise zur Oberfläche an. Flirrende Sonnenstrahlen blitzten durch die grünen Flaschen, bevor sie im Schatten des Bootes verschwanden.
Zwei der fünf Flaschen waren noch verkorkt und mit Wachs versiegelt. Martine fragte sich, ob der Inhalt die Jahre unter Wasser unbeschadet überstanden hatte. Die Etiketten waren schon lange verschwunden und das Glas hatte weder einen Stempel, noch eine charakteristische Form, die auf den Inhalt schließen ließ. Dennoch hatte Martine eine Idee.
Nach einem Blick auf ihren Tauchcomputer stieg sie langsam in fünfzehn Meter Tiefe auf und hielt sich am Seil fest. Sie war knapp vor Reserve, doch es würde ausreichen.
Von hier oben war das schmale Wrack auf dem Meeresboden noch schemenhaft zu erkennen. Die Überreste einiger Querspanten ragten aus dem grauen Schlick und deuteten vage die Kontur des klassischen Seglers an. Wie ein eingedrückter Brustkorb, dachte Martine. Dort im Innern, wo sie gebuddelt hatte, türmte sich noch der Schlamm zu kleinen Haufen. Wenige Gezeiten später würde alles wieder glatt sein.
Was steckte hinter dem Kentern des Boots? Die Gewässer um Chatvert waren nicht sonderlich rau oder gefährlich. In den Seekarten war kein Riff verzeichnet. Zudem hatte sich dieser Bootstyp bewährt und wurde in abgeänderter Form auch heute noch gebaut. Der Untergang würde wohl ein Rätsel bleiben.
Routiniert flipperte sie am Seil hoch, hielt in fünf Metern Tiefe erneut und nahm die Zeit. Drei Minuten, bevor sie endgültig auftauchen durfte. Durch einen kurzen Ruck an der Leine signalisierte sie John, dass unten bei ihr alles in Ordnung war.
Dennoch beschlich Martine eine leichte Unruhe. Was war das? Vorfreude oder gar Euphorie? Nein, die war Minuten nach ihrem Fund schon verflogen. Vielmehr spürte sie erneut Verunsicherung, dieses merkwürdige Bauchgefühl, das sie beim Freilegen der Flaschen im Schlick überkommen hatte. Als habe sie außer Schlamm noch etwas aufgewühlt. Etwas, das unter Schlick besser aufgehoben war als im Sonnenlicht.
Erleichtert stieß sie durch die Oberfläche. Sie hatte es eilig, aus dem Wasser zu kommen. John reichte ihr die Hand und zog sie an Deck. Als sie saß, half er ihr, die Scuba-Flasche abzulegen. Wie üblich ragte der Rest einer Kippe aus seinem wuchernden Bart und auch wenn sie es nicht zeigen würde, sie freute sich jedes Mal, ihn zu sehen.
Die vollen Lippen, die abstehenden Ohren und seine braunen Glubschaugen waren - einzeln betrachtet - beinahe abstoßend und gaben ihm etwas von einem Fisch, doch sobald er anfing, zu reden und sein Gesicht in Bewegung geriet, änderte sich das. Dann lag seine Seele auf der Zunge und er brauchte nur wenige Worte, um den Kern der Dinge zu erfassen. Das imponierte Martine.
Nicht zuletzt fühlte sie sich von ihm gesehen, auf eine stille, selbstgenügsame Art.
Doch in den letzten Tagen war da noch mehr. Sie meinte, ein stilles Begehren in seinem Blick auszumachen. Und auch, wenn sie es zu ignorieren versuchte, fühlte sie sich mehr und mehr zu ihm hingezogen, zu seinem klugen Blick im gegerbten, unförmigen Gesicht. Der Halunke durfte es nur nicht wissen!
»Was haben wir?«, fragte Martine.
»Och, einen Haufen ganz toller Sachen: extraordinäres Altglas, ein paar kaputte Teller und dazu noch einen zerfressenen Löffel.« John schwenkte ihn wie einen Degen und imitierte Fechtbewegungen in ihre Richtung. Martine brauchte nur eine Sekunde, bevor sie parierte.
»Noch nie gesehen, he? Das ist ein Absinthlöffel, du Oberschlaumeier. Aber davon habt ihr Inselaffen natürlich keine Ahnung!«
Sie erntete ein gutmütiges Lachen. John ergab sich mit erhobenen Händen und legte den Löffel zurück. Mit gespielter Empörung wandte sich Martine ab und schälte sich aus dem Neoprenanzug. John schaute ihr dabei zu. Sie spürte seine Blicke im Rücken. Auch wenn sie es nicht zeigen würde, sie mochte die Art, wie er sie ansah. Mit provozierender Langsamkeit zögerte sie die Prozedur hinaus. Zwischendurch zischte sie ein »Erbsenfresser« in seine Richtung, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen.
Martine hatte die Nase voll von gutaussehenden Skippern, ihren aufgepumpten Muskeln und ihrem angestrengten Geschwätz in Strandbars. John war anders, so wohltuend anders. Deshalb hatte sie ihn zu Beginn des Sommers gebucht. Und deshalb wohnte sie in einem Zimmer bei ihm im alten Leuchtturm.
Sie hatte schon auf der ganzen Welt getaucht, doch hier war es speziell. Irgendetwas zog sie an diesen Fleck und ließ sie nicht mehr gehen. Und das war nicht nur ihre Liebe zum Wasser oder die Nähe von John. Es war das zwingende Bedürfnis, auf dem Meeresboden zu suchen, gepaart mit einer eigentümlichen Vorahnung, dort etwas zu finden.
Martine verschwand zum Umziehen unter Deck. Sie hörte, wie John sich am Anker zu schaffen machte und das Großsegel setzte. Ächzend krängte das Boot und drehte in den Wind.
Als sie die Stufenleiter wieder hochstieg, trug sie ein geknotetes rotes Top und eine passende Bikini-Hose. Ganz ungeniert schaute John auf ihre braungebrannten Beine, bevor der Blick höher wanderte. Er stieß einen bewundernden Pfiff aus, der Martine bei jedem anderen Mann gestört hätte. Sie wusste, er schätzte, was er sah, und sie genoss das Gefühl, begehrt zu werden. Dennoch schnitt sie eine Grimasse und blaffte ihn an. »Glotz woanders hin, Bajazzo!«
Doch John lachte nur unbeeindruckt. Wie so oft hatte er sie durchschaut.
Es versprach, ein schöner Abend zu werden. Sie würden essen, danach lange auf der Terrasse vor dem Leuchtturm sitzen und zusehen, wie das Meer die Sommersonne verschluckte. Und danach – Ende offen, dachte Martine mit einem Lächeln und genoss das Kribbeln in ihrem Bauch.
Nach dem Einlaufen in die Marina von La Saline vertäute John das Boot am Anleger. Martine deponierte den Anzug unter Deck und nahm die Wechselflasche mit zum Auto. Neben ihr klemmte John den Wäschekorb mit den geborgenen Schätzen vor seinen Bauch und jonglierte mit seiner Zunge die Kippe in den anderen Mundwinkel, wo ihm der Rauch nicht so sehr in die Nase stieg. Martine lachte laut, sie konnte nicht anders, der Anblick war zu komisch. Doch John war niemand, der ein Lachen übelnahm. Vielmehr quittierte er es mit einem Zwinkern, hob seine buschigen Augenbrauen und kaute weiter auf der Zigarette.
Zurück im Leuchtturm am Ende der Klippen deckte Martine klappernd den Tisch und legte das Sommeliermesser bereit. Für später. Vielleicht. John zauberte in der Küche einen seiner Sommersalate. Er war ein wahrer Künstler im Umgang mit Olivenöl, Balsamico, frischen Kräutern und dem, was auf der Insel an Grünzeug verfügbar war.
Martine setzte sich in den Deckchair und zog mit der Ferse den Korb mit den Fundstücken herüber. Auf den Tellern lag immer noch der Löffel. Ein angelaufenes, verklumptes Stück Messing mit elegantem Griff. Als sie ihn vorsichtig zwischen den Fingern rieb, lösten sich die Krusten.
Das Blatt wies symmetrische Ausstanzungen und Schlitze auf. Woher sie wusste, wofür sie da waren – sie hatte keine Ahnung. Gedankenverloren legte sie den Löffel auf den Tisch und stellte eine der verkorkten Flaschen daneben.
Johns Sandalen schlurften über den steinernen Küchenboden. Ab und an klapperte er mit dem Salatbesteck. Dabei pfiff er frei improvisierend ein altes Gitarrensolo von Santana mit, das gerade im Inselradio lief. Es konnte noch eine Weile dauern. John hatte wie immer Zeit.
Martine ließ den Blick durch die Bucht gleiten hinüber zur Marina. Das unruhige Wasser war gespickt mit verblichenen Bojen und bunt gefleckten Segeln. Dazwischen hüpften weiße Wellenkämme um die Wette. Am wolkenlosen Himmel rangen Horden von Möwen zappelnd um den besten Wind. Ihr entferntes Gekreische klang für sie wie Musik.
Martine hielt die grüne Flasche vor die Sonne. Wieder machte sich dieses merkwürdige Gefühl in ihrem Bauch breit. Sie nahm das Sommeliermesser und kratzte das Wachssiegel auf. Entgegen ihrer Erwartung bot der Korken wenig Widerstand. Sie ließ ihn auf der Metallspirale stecken und roch vorsichtig daran. Ein stechender Duft nach Anis und Kräutern zog ihr in die Nase. Absinth, wie sie erwartet hatte.
Mit ruhiger Hand schenkte sie einen Schluck in das Wasserglas. Martine schwenkte die tiefgrüne Flüssigkeit vor ihren Augen, schnupperte daran und schloss die Augen. Der Geruch war betörend. Für einen Moment übernahm er das Kommando. Ihre Hand führte das Glas an die Lippen, die es dankbar aufnahmen. Als das grüne Feuer ihren Hals hinabrann, erhob sich über dem Möwengeschrei ätherisches Feengelächter.
Jemand klopfte ihr mit der flachen Hand auf die Wange. Nicht besonders schmerzhaft, nur gerade so fest, dass sie davon wach wurde. »John, lass das.«
Als sie die Augen öffnete, verflog ihr Ärger blitzartig. Sie sah in das Gesicht einer unbekannten Frau mit Hochsteck-Frisur und übertrieben geschminkten Lippen. Die Frau ergriff mit einem schwarzen Samthandschuh ihr Kinn und redete lebhaft auf sie ein.
Martine hörte nicht zu. Sie konnte nicht, denn sie hatte das Gefühl, zu ersticken, weil der Sauerstoff nicht reichte. Nicht für sie. Sie schlug die Hand weg und schnappte nach Luft. Zwang sich, ruhig zu atmen. Ein. Aus. Wie beim Tauchen. Ein. Aus.
Was geht hier vor? Was hat der Skipper vom Leuchtturm mit mir gemacht?, dachte Martine, als der Kopf wieder funktionierte. Ruckartig setzte sie sich auf und schaute an sich herab. Ihre Hände raschelten über ein Seidenkleid. In einem tiefen opalgrün. Größer konnte der Kontrast nicht sein zu dem weinroten Sofa, auf dem sie lag. Unten war das Kleid gerafft und mit einem aufgeplusterten, weißen Unterrock ausstaffiert. Gerade noch ragten die Spitzen ihrer blanken, schwarzen Lederstiefeletten hervor. Durch die Lücke zwischen ihnen sah sie einen klein gewachsenen, schlecht rasierten Mann mit vollen Lippen, der sie über seine Brille hinweg musterte. Mit runden, warmen Augen unter dichten Brauen.
Er trug ein weißes Hemd und darüber eine zugeknöpfte Weste. Die Melone auf seinem Kopf tanzte, wenn er sich bewegte, fiel jedoch nicht herunter. Das verhinderten die abstehenden Ohren.
Noch auffälliger als seine gedrungene Hässlichkeit waren Kohlestift und Block, die er in den Händen hielt.
»Madame Loreen, bitte wieder hinlegen und schön den Kopf auf den Arm ...«
Martine ignorierte ihn und ließ den Blick schweifen. Dicke schwülstige Vorhänge, florale Wandmalerei, goldene Säulen an jeder Ecke, die Männer mit Frack und Hut, die Frauen leicht bekleidet. Sie war in einem Salon des Fin de Siècle. Welch ein schöner Traum.
»Loreen, Lulu, mon amour, du schaust dich ja um, als wärst du zum ersten Mal hier.« Der Maler hielt die Hände jetzt vorwurfsvoll ausgebreitet und hob die Schultern. Dazu ein heiseres Auflachen, das ihr bekannt vorkam.
Martine kam nicht dazu, zu antworten, denn ein Garçon schritt in die Mitte des Raumes und nahm mit seinen weißen Handschuhen eine bestielte Glocke von einem ovalen Silbertablett. Dreimal ließ er sie schellen und näselte manieriert: »L'heure verte au Chat vert est arrivée.«
Jubel brandete auf, Hüte flogen durch die Luft und hektisch versammelten sich die Gäste an den runden Tischen. Martine wurde von dem kleinen Maler zu einem der Tische gezogen und fand sich in Gesellschaft ihrer unbekannten Freundin vom roten Sofa wieder. Sie hatte das Reden eingestellt und linste sie mit einem säuerlichen Lächeln von der Seite her an.
Eine Karawane von Bediensteten brachte Wasserspender, Gläsertabletts, Zuckertöpfe und grün befüllte Flaschen, die Martine sehr bekannt vorkamen. Von der Decke herab schwebten rote Hängelampen mit goldfarbenen, verdrillten Fransen. Die gläsernen Wasserspender, in denen dicke Eisbrocken schwammen, wurden direkt darunter platziert. Mit dem Rest wurden akribisch die Plätze eingedeckt.
Der Maler stellte ein Glas in Tulpenform unter einen der Hahnauslässe und seine knubbelige Hand balancierte einen spatelförmigen, geschlitzten Löffel quer auf den Rand. Ein Stück Zucker landete auf dem Metall und die Samthand ihrer Stuhlnachbarin öffnete den Hahn. Tropfen für Tropfen rann das Eiswasser über den Zucker in den grünen Bodensatz und zog Schlieren in einem milchigen Türkis durch das Gemisch. "Louche", murmelte jemand hinter ihr.
Reihum taten es ihr die anderen Gäste gleich, öffneten die Hahnauslässe und der frische, wermutbittere Duft vertrieb die Rauchschwaden aus ihren Nasen.
Der Maler, der von allen nur Henri genannt wurde, hatte sich zum Nachbartisch umgedreht. Dort war er in ein angeregtes Gespräch mit einem hohlwangigen Typ vertieft, von dessen linkem Ohr ein Stück fehlte. Als sie dessen irren Blick spürte, schaute sie schnell zur anderen Seite.
Ihre Freundin, deren Namen sie nicht kannte, amüsierte sich mit einem bärtigen Kapitän. Fetzen eines Gesprächs über Segelschiffe und karge Inseln vor der französischen Atlantikküste flogen zu ihr herüber.
Martine tippte dem Maler auf den Arm, bis er sich mit ruckelnder Melone umwandte. "Oui?"
»Kann ich das Bild mal sehen?«, fragte sie in den allgemeinen Lärm hinein. Dunkle runde Augen nahmen sie fragend in den Fokus. »Loreen, chérie, du weißt doch, das ist nur die Vorskizze.«
Sollte ihr das etwas sagen?
»Kannst du es mir trotzdem zeigen, s´il te plaît? Bitte, Henri, mir zuliebe ...« Sie fabulierte ins Blaue, aber es wirkte. Wortlos zog der Maler seinen Block hervor und schlug das Deckblatt nach hinten. Er zögerte einen Moment, dann hielt er ihr die Zeichnung hin.
Martine sah zwei Frauen auf dem Sofa liegen. Die Pose war lässig bis nonchalant. Martine erschrak, als sie sich erkannte. Der Maler hatte ihr Gesicht sehr gut getroffen und hatte etwas eingefangen, was genau so flüchtig war wie der Absinthdunst, in dem sie saßen. Sie schaute in einen Spiegel ihrer Seele.
Ihr einst kindlicher Trotz, der mit den Jahren zu der Chuzpe wuchs, die sie ihr Leben ertragen ließ, war auf Papier gebannt. Und das hatte er mit nur wenigen entlarvenden Kohlestrichen geschafft. Jeder von ihnen saß. Alles war da. Nichts hätte man weglassen dürfen und nur wenig mehr hinzufügen. Martine fühlte sich überwältigt, erschrocken, entblößt.
»Lulu, wie sie leibt und lebt.« In Henris Stimme schwang warme Zuwendung mit, wenn nicht mehr. Er nahm sein milchiggrünes Glas und hob es zur Decke. Mit fester Stimme rief er: »Santé, meine grüne Fee …«, und ihre Tischgenossen taten es ihm gleich. »Chin-chin, Loreen.«
Martine spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Verschämt nahm sie ihr mittlerweile halb gefülltes Glas und nahm einen tiefen Schluck. Der Lärm verebbte, machte Platz für ein ätherisches Lachen. Ein grüner Vorhang schob sich vor ihren Verstand.
Ich stehe vorne im Bug und schleudere es hinaus in den Sturm, mein ungezähmtes Lachen, schrill und scharf. Die Gewalt des Wassers ist nicht aufzuhalten von morschen Planken oder einem Kapitän, der verzweifelt am Ruder reißt. Der hilflos versucht, das Unheil abzuwenden für die Drei, die sich an Seile krallen. Ich sehe mit Genugtuung: Nasse Samthandschuhe sind dabei. Höre nicht auf, zu lachen. Meine Waffe. Je lauter ich lache, desto wilder antwortet der Ozean. Will mich mit hohen Wellen ohrfeigen. Der Sturm heult, der Ozean tobt, dass uns die Seele schlottert. Begräbt uns unter Wassermassen, bis das Boot aufgibt und sich zur Seite neigt. Ich lache weiter. Nie gebe ich auf, nie, nie, nie. Hohle Augen flehen mich an. Dahinter schüttelt der Kapitän seine Faust und schreit so laut, dass ich es durch den Sturm verstehe: »Verflucht sollst du sein, grüne Hexe.«
»Martine ..., wach auf, Martine.«
Als sie die Augen aufschlug, sah sie wieder die vollen Lippen und den warmen Blick aus braunen Bärenaugen. Die Ruhe war verflogen, Sorgenfalten furchten die Stirn vor ihr.
»Ich heiße Loreen, junger Mann.« Sie hatte geredet, ohne nachzudenken. Schwer waren ihre Lippen. Sie lag noch immer in dem Deckchair und der erste Versuch aufzustehen, scheiterte. Wie ein Mehlsack plumpste sie zurück auf das Lattengestell.
John griff nach seinem Telefon: »Ich rufe einen Arzt.«
»Warum brauchst du einen Arzt, Henri?« Martine drehte sich zur Seite und legte ihren Kopf auf den Unterarm. Nach wenigen Atemzügen war sie eingeschlafen.
John zögerte. Mit dem Telefon am Ohr trat er von einem Fuß auf den anderen. Der Inselarzt meldete sich nicht. Zu der Zeit war er meistens schon unpässlich.
Ungläubig murmelte er: »Wie kann jemand von einem winzigen Schluck Alkohol so betrunken sein?« Es war nicht vorwurfsvoll gemeint, sondern aufrichtig erstaunt.
Der Horizont schluckte das letzte Sonnenrot und langsam senkte sich abendliche Kühle herab. Vielleicht genügt ein langer Schlaf und am nächsten Morgen ist alles wieder im Lot, dachte John. Mit etwas Glück ...
John nahm die schlafende Martine auf die Arme, trug sie in ihr Zimmer und legte sie vorsichtig auf dem Bett ab. Martines Augen blieben geschlossen, ihre Atemzüge waren gleichmäßig. Nichts wies auf etwas anderes hin als einen Rausch.
Mit einem Kuss auf die heiße Stirn deckte er sie zu. In ihren Haaren roch er Rauch. Unmöglich von ihm, denn er passte immer auf, dass sie nichts abbekam. Ungläubig runzelte er die Stirn und schaute auf Martine hinab. Hier war irgendetwas im Gange, das er nicht verstand. Dieses verdammte Gift!
Er trat zum Luftholen auf die Terrasse und spuckte bittere Galle ins Gras. Dann griff er wütend die offene Flasche vom Tisch, nahm Anlauf und schleuderte sie in hohem Bogen in die Dunkelheit, wo sie auf den Klippen zerschellte.
Beißende Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die schmalen Ritzen der Holzjalousie und einer davon traf Martines Augenlid. Zugleich zog der Duft von frisch gebrühtem Café in ihre Nase. Sofort rauschten die Bilder des gestrigen Abends durch ihren Kopf. Das Wrack, der Beutel mit den grünen Flaschen, das Sommeliermesser mit dem grünlichen Korken, das rote Sofa, der Maler mit dem warmen Blick und dann das Boot und sie im Bug, wie sie dem Sturm die Stirn bot. Ihr Magen schlug einen Salto.
Was davon war wahr, was erträumt? Verdammt, sie brauchte John! Martine schwang die Füße aus dem Bett und sprang auf die Beine. Sofort drückte sie der Schwindel zurück in die Kissen. Sternchen drehten vor ihrem Blickfeld Kreise. Sie hatte einen veritablen Kater. Dieser Teil der Geschichte musste also stimmen.
»John, was ist gestern passiert?« Ihre Stimme war kratzig und rau. Kein Wunder, bei der rauchgeschwängerten Luft im Salon.
»Ich habe keine Ahnung, Martine. Das Einzige, was ich dir sagen kann, ist Folgendes: Du hast diese Flasche geöffnet, einen Schluck von dem grünen Zeug genommen und warst für zwanzig Minuten völlig weggetreten.« Die Sorgen waren in seinem Gesicht noch abzulesen. »Als du aufgewacht bist, warst du total betrunken. Frag mich nicht, wie das sein kann …«
Zwanzig Minuten? So weit so gut. Bis auf die Dauer ihrer Bewusstlosigkeit konnte sie die Scherben zusammensetzen. Doch was war mit dem Rest? War die rauschende Nacht im Salon 'Le Chat Vert' nur erträumt? Und der Untergang des Boots vor Chatvert? Eine Ausgeburt ihrer Phantasie? So oder so, John war nicht dabei gewesen. Oder vielleicht doch? Er wirkte so völlig ahnungslos.
»Bist du so weit okay? Dann würde ich kurz ins Dorf fahren und ein paar Sachen einkaufen. Für ein Frühstück reicht es nicht mehr.« Der Schlüssel vom Pickup klimperte schon in seiner Hand. Sein Blick erinnerte sie an die besorgten Augen ihrer Mutter – früher. Sie hatte es auch immer mit Essen versucht.
Martine nickte und schenkte ihm ein tapferes Lächeln. John war der Beste. Konkurrenzlos. Trotzdem konnte er ihr nicht helfen und so war sie froh, jetzt alleine zu sein. Als sie die Tür schlagen hörte, nahm sie Café und Laptop und schlich zum Deckchair auf der Terrasse. Ein frischer, salziger Wind umspielte ihre Nase. Mit einer Note Seekiefer vom nahen Hain. Bojen und Segel schaukelten um die Wette. Weiter links reflektierten grüne Scherben das Sonnenlicht.
Martine tippte 'Henri Bilder' in die Suchmaschine ein und erhielt sofort einige Treffer. Sie klickte die Seite an und eine bunte Bildergalerie öffnete sich. Vorwiegend gemalte Momentaufnahmen aus Pariser Etablissements zur Jahrhundertwende. Gespannt ließ sie die rechteckigen Kästchen immer weiter nach oben wandern. Doch dann wurde es ihr abwechselnd heiß und kalt.
Dort auf dem weinroten Sofa lagen zwei Frauen. Die im Vordergrund trug ein opalgrünes Kleid. Als Martine die Worte unter dem Bild las, wurde ihr speiübel. Dort stand in einer winzigen Infozeile: 'Laureen, die grüne Fee', Anno 1896, Ort: unbekannt.
Sie spürte, wie etwas tief aus ihrem Hals aufstieg, etwas wenig Bekanntes. Es kletterte an ihrer Zunge empor und als es an die Zähne stieß, zwang es sie auseinander und entwischte an die frische Luft. Dort entfaltete es sich zu einem glucksenden Lachen, das weit über die Bucht schallte.
Die sich auftürmenden Wellenkämme spiegelten sich in Martines grünen Augen.