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Löwenzahn
Das Mädchen stöhnte. Ganz als sei der Regen, der ihr plötzlich über das Gesicht lief, das allerletzte was es momentan gebrauchen könnte. Die langen braunen Haare fielen in sein schmales Gesicht und ließen es ungeheuer verletzlich wirken, was noch durch seine zierliche, gar schmale Gestalt verstärkt wurde.
Sie erweckte in ihm das Bedürfnis sie zu beschützen, beschützen vor allem Schlechtem auf der Welt. Das Bedürfnis ihr Gesicht vorsichtig in beiden Händen zu halten und ihr zuzuflüstern, dass sie keine Angst zu haben müsse. Es war beinahe schmerzhaft. Trotzdem riss er sich zusammen. Wie würde es auch aussehen, würde er mitten in der Stadt beginnen eine Fremde zu liebkosen? Sah überhaupt irgend eine andere Person, wie bekümmert dieses Mädchen war?
Er begann sich umzusehen. Menschen hasteten an der Bushaltestelle, an der sie standen, vorbei. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen. Eile und Hektik wohin er nur sah.
Ein kleines Mädchen zerrte an der Hand seiner Mutter -es wollte einen einsam auf der Wiese blühenden Löwenzahn pflücken- doch diese schien kaum etwas zu bemerken und zog das Kind nur weiter hinter sich her, auf einen ohnehin schon überfüllten Hauseingang zu.
Sich vor dem Regen schützen, das erschien ihm der einzige Antrieb der Menschen um ihn herum. Er beobachtete das Kind noch ein wenig, es begann seine Mutter am Saum ihrer Weste zu zupfen und auf den Löwenzahn zu zeigen. Die Mutter schüttelte den Kopf.
Das Kind fing an zu hüpfen und zu betteln, man könnte meinen es ginge um einiges mehr, als einen einzigen Löwenzahn. Wieder schüttelte die Mutter den Kopf. Da begann das Kind zu schluchzen, herzzerreißend, wie nur Kinder die in ihrem Willen eingeschränkt sind es tun. Andere Leute im Hauseingang blickten auf, man sah ihnen an, wie wenig sie das Weinen des kleinen Mädchen berührte. Sie schienen beinahe froh über die Ablenkung und beobachteten die Szene neugierig.
Ein alter Mann fragte das Mädchen etwas, worauf es trotzig den Kopf schüttelte und wieder nach dem Löwenzahn deutete. Was immer er gefragt hatte, die Mutter schien peinlich berührt und gab dem Mädchen einen kleinen Schubs. Dieses stieß einen Jubelschrei aus, rannte auf den Löwenzahn zu und hockte sich vor ihm hin. Ein breites Grinsen war nun auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie über die Blüte des Löwenzahns strich.
Er seufzte auf und wünschte sich, Glück wäre für jeden so schnell zu finden.
Erschrocken blickte er auf. Das Mädchen, stand sie noch neben ihm? Ja. Wie hatte er sie vergessen können? Sein eben in die Höhe geschnellter Puls beruhigte sich wieder und er fragte sich, warum er sie so unglaublich faszinierend fand. Er betrachtete ihr Gesicht genauer. Ja, es war schmal. Doch inzwischen konnte er keine Spur mehr der zuvor noch deutlich erkennbaren Verletzlichkeit entdecken. Sie wirkte entschlossen und diese Entschlossenheit ließ sie auf eine Art und Weise strahlen, die er bisher bei keinem Menschen gesehen hatte.
Sollte er sie ansprechen? Nachdenklich betrachtete er einen vom Asphalt umschlossenen Kiesel, der vom davonrinnenden Regenwasser umspült wurde. Sicher war er sich nicht. Selbstverständlich nicht, woher sollte er wissen wie sie darauf reagieren würde?
Angestrengt grübelte er weiter nach, es wäre dumm sie nicht anzusprechen, eindeutig. Er wusste nicht wieso, aber er war sich sicher, dass dieses Mädchen etwas Besonderes war. Allein wie sie ihre Gefühle verbarg! Einzigartig, da gab es keinerlei Zweifel. Wieder blickte er hinaus auf die Straße, die Regentropfen waren größer geworden,
inzwischen ähnelten sie übergroßen Tränen, vergossen um längst vergessener Dinge willen.
Er gäbe einiges nur um ihren Namen zu erfahren. 'Breaking my back just to know your name', eine Zeile aus dem wohl bekanntesten Lied von the killers, war das nächste was ihm in den Kopf schoss. Ein heiseres Lachen kam über seine Lippen und das Mädchen sah auf. Sah ihn direkt an, aus dunklen, grünen Augen. Obwohl kein Sonnenlicht sie traf, fiel ihm auf, dass ihre Augen in gewisser Weise an moosbewachsene, zerklüftete Klippen erinnerten: weich mit einem gewissen Grad an Härte. Ihm war als sähe sie direkt in ihn hinein. Fieberhaft dachte er nach, wenn nicht jetzt, wann sonst sollte er sie ansprechen? Er setze an etwas zu sagen, leckte sich über die Lippen - aber sie kam ihm zuvor.
'Wer bist du?', fragte sie.
Er musste wohl reichlich verdutzt ausgesehen haben, denn ein Ausdruck, der der Belustigung nahekam huschte über ihr Gesicht.
'Ich.. ähm, mein Name ist Benjamin.', antwortete er schließlich.
Nachdenklich sah sie ihn an.
'Und du bist..?', setze er nach.
Sie zögerte, sah zur Seite, blickte wieder auf und sagte dann: 'Elise.'
Elise. Er fand, dass dieser Name zu ihr passte. Wieder musste er lachen, abermals über sich. Wahrscheinlich hätte in seinen Augen kaum ein Name nicht zu ihr, dem Mädchen -nein, Elise, gepasst.
Fragend sah sie ihn an. 'Was?'
'Nichts, ich dachte nur..-' Er verstummte, wieder dieser Blick. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sein Bus an der Haltestelle hielt, aber er konnte nicht gehen, nicht jetzt da sie miteinander sprachen. Obwohl, sprachen. Sie hatten bisher kaum fünf Worte gewechselt.
Der Wind schlug um, jetzt traf ihn der Regen von der anderen Seite, ein Regentropfen rann hinter sein Ohr. -Sag was, sag was, sag was!- Irgendwie musstedas Gespräch doch in Gang bekommen, irgendwie!
Elise blickte ihn noch immeran, einen Moment lang war er regelrecht desorientiert, so intensiv traf ihn ihr Blick.
'Wo fährst du hin?' fragte er sie, da ihm nichts besseres einfallen wollte.
Sie drehte sich um, sah den Rückleuchten des im Regen verschwindenden Busses hinterher und antwortete: 'Eigentlich hätte ich wohl diesen Bus nehmen müssen.'
'Ich auch!', gab er zurück, darum bemüht nicht schon wieder zu Lachen. Meine Güte, was war denn los mit ihm, sonst kicherte er doch auch nicht über alles und jeden.
Verschmitzt grinsend packte sie ihn bei der Hand und sprang auf. Verdutzt blickte er auf, was hatte sie vor?
'Los, komm!', rief sie und rannte los, 'Die nächste Haltestelle ist gleich um die Ecke!'
Einen Moment lang war er versucht ihre Hand abzustreifen, er rannte doch keinem Bus hinterher, der in spätestens einer Viertelstunde wieder auftauchte!
Aber dann besann er sich eines besseren, er würde seine neue Bekanntschaft keinesfalls derart schnell wieder aufgeben.
Elise hatte Recht, in der nächsten Seitenstraße war tatsächlich eine weitere Haltestelle, allerdings hatte der Bus bereits angehalten und Menschen stiegen hastig ein und aus. Immernoch Hand in Hand rannten sie noch etwas schneller und schafften es natürlich nicht rechtzeitig. Sie waren kaum noch zehn Meter vom Bus entfernt, als dieser davonfuhr, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte. Am liebsten hätte er dem Busfahrer hinterhergeflucht, aber ihm war klar, dass dieser sie aufgrund des inzwischen strömenden Regens wohl kaum bemerkt hatte und hätte.
Keuchend blieben sie stehen, er war inzwischen bis auf die Haut durchnässt, und auch Elise schien es nicht anders zu gehen. An ihren Wimpern hingen feine Wassertröpfchen und ihr Haar sah vielmehr schwarz als dunkelbraun aus.
'Was war das denn jetzt?' fragte er Elise, nachdem er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.
Grinsend gab sie zurück, dass er bei diesem Wetter ja wohl nicht vorhabe, noch ewig hier draußen rumzustehen. Nicht völlig zufrieden blickte er zu Boden und bemerkte, dass er noch immer ihre Hand hielt. Hastig ließ er los.
Da etwas mehr Wasser inzwischen wirklich keinen Unterschied mehr machte, schlenderten sie die letzen paar Meter zur -diesmal sogar überdachten- Bushaltestelle. Noch immer leicht außer Atem ließ er sich auf einen, mit lieblosen Edding-Kritzeleien übersäten Plastiksitz sinken. Elise saß direkt neben ihm, hatte die Beine angezogen und hielt den Kopf schräg auf ihre Knie gelegt. Ihre dunklen Haare waren strähnig vom Regen. Beinahe hätte er die Hand gehoben, um zu sich eine Strähne davon um den Finger zu wickeln. Um sich davon abzulenken, ließ er seinen Blick von ihren Haaren auf ihr Gesicht schweifen und grinste, als er sah, dass sie angestrengt nach einem Regentropfen schielte, der an ihre Nasenspitze hing.
Ja, nein, ja, nein, ja.. okay, dachte er sich, tu es einfach!
'Elise?' fragte er. Ein fragendes "mhhm" war die Antwort.
'Hättest du, ich meine HAST du Lust auf einen Kaffee?' -Ouch, Ben, überleg dir doch mal vorher was du sagst, anstatt rumzudrucksen wie der letzte Idiot! Jetzt denkt sie sicher du -
'Klar!' , 'Wirklich?' er konnte kaum glauben, dass sie zugesagt hatte.
'Nein, eigentlich nicht.' gab sie zurück. Er starrte sie entgeistert an.
'War doch nur Spaß, lass uns gehen, wir finden bestimmt irgendwas!' Wieder griff sie seine Hand.
Gott, dieses Mädchen war unglaublich. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte sie ihn reingelegt! So etwas kennt man ja. Der Witzelnde grinst immer, oder macht sonst irgendetwas wodurch sofort klar wird, dass er scherzt. Aber sie sah völlig ernst aus! Zu sagen, er hätte einen Schreck bekommen, wäre maßlos untertrieben.
Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, und das Gespräch dabei -endlich!- etwas ins Rollen kam, geraten war, blieb sie stehen und deutete auf ein kleines Café, das leider völlig überfüllt war.
Kein Wunder, so wie es regnete. Allerdings hatten wir Glück und bekamen einen Tisch am Fenster, zwei alte Damen beschlossen zu gehen als sie die Beiden sahen.
Nachdem sie bestellt hatten, stand Elise auf um zur Toilette zu gehen. Er hoffte sie würde sich nicht schminken, und war sehr erleichtert als sie ohne ihre Tasche ging.
Während sie weg war, sah er aus dem Fenster. Es war ein wenig beschlagen und der Regen malte von außen ein sonderbares Linienmuster an die Scheibe.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass Elise deswegen aufgesprungen und losgerannt sein könnte, weil sie wissen wollte ob er überhaupt so viel Interesse an ihr habe, um mitzulaufen. Irgendwie gefiel ihm das.
Elise kam zurück und ihm fiel auf, dass auch ihre Bestellung inzwischen gekommen war.
'Sag mal Ben,', begann sie, 'was hattest du heute eigentlich vor?'
'Nichts,' gab er zurück, 'ich war auf dem Weg nach Hause.'
'Von der Arbeit?'
'Genau.'
'Und, was machst du?'
'Naja, ich bin Schüler im dritten Jahr, das heißt ich mache gerade die Ausbildung zum Krankenpfleger.'
Erstaunen, das war es, was er meinte in ihrem Blick zu lesen. 'Ehrlich? Ich kenne kaum einen Mann, der im sozialen Bereich arbeitet!'
'Stimmt. Ich bin auch der einzige auf der kompletten Station.'
'Nein, ehrlich! Das ist klasse, hast du viel zu tun?'
In diesem Stil ging es noch eine Weile weiter, der erste Kaffee war ungeheuer schnell getrunken, allgemein schien die Zeit vorbei zu fliegen. Doch irgendwann sah Elise erschrocken auf die Uhr, er sah ihr an, dass etwas sie beunruhigte.
'Elise, stimmt etwas nicht?'
'Nein, alles in Ordnung, ich muss nur - ich muss jetzt gehen. Nach Hause!' Sie schien es wirklich eilig zu haben, sie kramte in ihrer Tasche, wohl auf der Suche nach ihrem Portemonnaie. Als sie es fand riss sie eilig fünf Euro heraus und warf sie auf dem Tisch. Bevor er auch nur einwerfen konnte, dass er zahlen würde, hatte sie sich umgedreht und war hinausgestürmt. Verblüfft blickte er ihr nach. Dann sprang er auf, lief zur Tür und rief: 'Elise!' Sie drehte sich nicht um. 'Elise, Elise!' Nur ein kurzer Blick zurück, das Tempo behielt sie bei. 'Elise, sehen wir uns wieder?!' 'Bestimmt!', war das einzige, was sie ihm zurief.
Bestimmt, was für eine Antwort! Entmutigt drehte er sich um und ging zurück zu ihrem Tisch. Er konnte ihr nicht hinterherrennen, es war noch nicht bezahlt, und die fünf Euro die bereits auf dem Tisch lagen reichten wohl nichteinmal für einen Bruchteil dessen, was sie den Nachmittag über getrunken hatten.
Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken, und starrte auf den ihm gegenüber. Ein hässlicher Stuhl, alt, aus abgenutztem Holz. Mit irgendeinem verschlissenen Kordbezug auf der Sitzfläche. Trotzdem, er hätte ihn am liebsten mitgenommen.
Er saß auch nachdem er gezahlt hatte, noch eine ganze Weile so da und überlegte, was Elise zu einem solch überstürzten Aufbruch hätte bringen können. Nichts wollte ihm einfallen. Ihm fiel auf, dass sie den gannzen Nachmittag beinahe nur über ihn geredet hatten. So faszinierend er sie fand, er hatte bis auf ihren Namen und ihr Alter -19- nichts von ihr erfahren. Frustriert seufzte er auf. Vielleicht machte sie soetwas öfter? Nicht, dass sie so auf ihn gewirkt hätte, aber.. nein. Das glaubte er nicht, sie schien aufrichtig interessiert gewesen zu sein.
Er ließ seinen Blick über die restlichen Gäste des Cafés schweifen. Es war nicht mehr annähernd so voll, wie zu der Zeit, zu der sie gekommen waren.
Wohl auch deshalb, weil der Regen merklich nachgelassen hatte. Lediglich drei Tische waren, abgesehen von seinem, noch besetzt.
Oh verdammt. Gerade fiel ihm auf, dass er weder ihre Handynummer, noch ihre Adresse kannte. Wie um Himmels Willen sollte er sie also erreichen? Sollte das alles gewesen sein? Entsetzt blickte er auf den Tisch, fasste in seine Jackenaschen, nichts. Kein Zettel, nichts. Nein. Das konnte doch nicht wahr sein. Wäre er ihr doch bloß nachgerannt, zum Teufel mit der Rechung!
Einge ganze Weile rasten seine Gedanken. Zuerst hatte er überlegt, jetzt noch loszurennen um sie zu finden, aber natürlich wusste er, dass das irrsinnig wäre. Stattdessen blieb er sitzen und sah noch einmal aus dem Fenster. Was ihm bisher nicht aufgefallen war, ein Blumenkasten stand dort draußen auf der Fensterbank. Er war nicht bepflanzt, schwarze Blumenerde, satt vom Regen glänzte im Kübel und lediglich eine einzige Pflanze wuchs darin.
Als er sie anblickte, wusste er genau, dass er Elise wiedersehen würde. Lächelnd nahm er seine Jacke und ging.
Kaum hatte er das Café verlassen, riss die Wolkendecke auf und dicke Strahlen Sonnenlichts trafen den einsam im Blumenkübel wachsenden Löwenzahn.